Das Gesicht hebt sich langsam aus dem Wasser. Die Augen blicken starr geradeaus. Mit gleichmässigen Zügen und ohne Eile steuert der Schwimmer auf den Beckenrand zu. Doch sein Blick geht weit darüber hinaus. Die Augen sind auf einen Fixpunkt weit draussen in der Landschaft gerichtet. Dort liegen seine Gedanken, während er gleichzeitig darauf achtet, wie sich seine Arme rhythmisch vorwärts bewegen. Wann immer er Zeit findet, geht Jürgen Dormann schwimmen. Das ist Entspannung und Konzentration zugleich. Reflexion auf das Hier und Jetzt und seine Aufgabe, während weit weg am Horizont die konkreten Entwürfe für die Zukunft wachsen. «Man muss sich auf das Wesentliche konzentrieren und darf gleichzeitig das Ziel nie aus den Augen lassen», sagt Dormann.

Im Herbst 2002 stand der ABB- Konzern kurz vor dem Bankrott. Wie kurz, schreibt die «Financial Times» ein Jahr später: «Dass der deutsche Company Doctor praktisch über Nacht die operative Konzernleitung bei ABB übernahm, machte erst recht deutlich, wie nahe ABB damals tatsächlich am Abgrund stand.» Das Ausmass der Probleme liess die Lage für den Konzern damals fast aussichtslos erscheinen: ABB steckte in einer desolaten Finanzlage,

litt unter einer Flut von Asbestklagen in den USA, einem rückläufigen Geschäftsgang, einer zerstörten Glaubwürdigkeit: Der Aktienkurs und das Kredit-Rating fielen in den Keller.

*Ein stiller Sanierer löst den «König der Manager» ab*

Ein Trümmerhaufen und eine Aufgabe, die innert kürzester Frist auch für den besten Manager kaum lösbar schien. Und doch, nur ein Jahr später deutet fast alles darauf hin, dass ABB es geschafft hat. Mit den Banken fand sich vorerst eine Einigung. Der Vergleich mit den Asbestklägern ist auf gutem Weg. Der Verkauf von Unternehmensteilen ist bereits über die Bühne (Structured Finances) oder weit fortgeschritten (Öl-, Gas- Petrochemie). Der Aktienkurs, vor Jahresfrist auf 1.63 Fr., hat sich inzwischen mehr als vervierfacht. «Magic Dormann». Der Mann, der sich in dreissig Jahren an die oberste Spitze des deutschen Pharmariesen Hoechst arbeitete, diesen dann in den 90er Jahren völlig auseinander nahm, um ihn 1999 mit dem französischen Gegenstück Rhône-Poulenc zu Aventis zu fusionierten, jetzt als Retter von ABB?

Nein. Jürgen Dormann ist keine One-Man-Show. Mit seinem charismatischen Vorgänger Percy Barnevik als Verwaltungsratspräsident von ABB hat er nichts gemein. Barnevik, der die schwedische Asean mit der schweizerischen Brown Boveri zusammenführte, galt lange Zeit als der Star aller Wirtschaftskapitäne. Dann fiel er in Ungnade. Der König der Manager hatte nicht nur das Mass, sondern auch das Ziel aus den Augen verloren. Der Skandal um seine Pensionsansprüche in dreistelliger Millionenhöhe zerstörte seine Reputation fast vollständig. Es folgte der Absturz von ABB. Dann kam der «stille» Sanierer der deutschen Pharmaindustrie, der beim Riesen Hoechst mit grösster Unerbittlichkeit die Analyse gemacht hatte. Tausende von Arbeitsplätzen abbaute, bevor sich Deutschlands grösster Pharma- und Chemiekonzern letztlich ganz auflöste. Bis heute fällt das Urteil über Dormann zwiespältig aus. Bei vielen ist er noch immer als «Rambo der deutschen Wirtschaft» und «Jobkiller» verschrien. Doch dieses Urteil greift zu kurz. Zweimal in seinem Leben, bei Hoechst und dann bei ABB, hat Dormann ein schweres Erbe angetreten. In beiden Fällen hat er sich in den Dienst einer Aufgabe gestellt.

Ruhig und gefasst tritt er auf. Fast leise gibt er seine Weisungen. Und doch graben sie sich sofort beim Angesprochenen ein. Präzis, analytisch, auf das Wesentliche ausgerichtet. Dormann sehe sich selbst als Schrittmacher, der einen Organismus vorantreibt, beschreibt Wolfram Eberhardt von der Konzernkommunikation seinen Chef.

*Die Kunst des Wesentlichen*

Nach der Übernahme der operativen Leitung bei ABB hat Dormann sich ohne Umschweife an die Arbeit gemacht. Dabei war es unmöglich, sich in so kurzer Zeit in die Sachthemen und technischen Details des 17-Mrd-Unternehmens überhaupt rein zu denken. Führen heisst für Dormann delegieren. «Ich bin sehr team-orientiert, und ich gebe den Leuten Vertrauensvorschuss», sagt er. Keine Heerscharen wie früher führen heute den Industriekoloss ABB. Selbst die Konzernleitung hat Dormann von elf auf fünf Leute reduziert. Neben ihm Peter Voser als Finanzchef, Gary Steel als Personalverantwortlicher sowie die Divisionsleiter Dinesh Paliwal (Automation) und Peter Smits (Energie). Sie alle steuern ihren Bereich weit gehend selbstständig, wobei die Fäden innerhalb der Organisation alle an der Schnittstelle bei Dormann zusammenlaufen.

Er selbst sieht sich als Kommunikator, der analysiert, während er Fragen stellt. Er ist ein Zauberer der Diagnose, der, um schnellst möglich zu einem Entschluss zu kommen, sich und die Dinge um ihn herum auf das absolute Minimum reduziert. Wie es in ihm drinnen ausschaut, spiegelt sich in seinem Büro: Ein Pult, Computer, Telefon und ein Besprechungstisch. Sonst nichts, keine Akten, nicht ein Fetzen Papier.

Das Aussen als Spiegelbild des Inneren: Nicht leer, aber aufgeräumt. Dormann selbst ist sogar schon so weit gegangen und hat sich selbst «als überflüssig» bezeichnet. Die operative Ausführung überlässt er dem, der die Kompetenz und die entsprechende Verantwortung trägt. Dies zeigt sich etwa deutlich daran, dass er die Führung der beiden übrig bleibenden Kernsparten zwei langjährigen ABB-Leuten überlassen hat oder in Finanzierungsfragen meist CFO Peter Voser Antworten geben lässt.

Nachdem ABB das Gröbste hinter sich hat, macht Dormann selbst weiter das, was er am bes-ten kann: Seine Gedanken eilen weit voraus wie beim Schwimmen. Irgendwo dort draussen entsteht schon heute der ABB-Konzern von morgen. Dormann ist ein Stratege durch und durch und steht auf dem Feldherrenhügel ganz oben. Ende Oktober präsentiert ABB Quartalszahlen. Ein Anlass, vielleicht ganz unspektakulär. Dessen ungeachtet wird Dormann seinem Ziel bis dahin wieder ein Stück näher gekommen sein.

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