Julian Teicke: Wie der Wefox-Gründer die grossen Versicherer herausfordert

Wenn Sie ins Versicherungsland Schweiz kommen: Brauchen Sie da speziellen Polizeischutz? Ne, gar nicht. Sie blasen mit dem Fintech-Startup Wefox zum Angriff auf die Versicherungsbranche und titulieren ehrwürdige Versicherungskonzerne als «Dinosaurier». Wann beissen die zurück? Die Dinosaurier sind noch nicht so richtig in Angriffsstimmung. Jedenfalls kriege ich davon nichts mit. Versicherungen sind kapitalstark, solide, aber nicht dynamisch, richtig? Versicherungen sind lethargisch. Das liegt daran, dass sie vom Markt keinen Druck haben. Für mich ist das jene Industrie, in der man in den letzten zwanzig Jahren nicht mehr arbeiten musste und trotzdem ständig gute Gehälter zahlen konnte. Weil sich das Buch von allein trägt und weil die Chefs in der Vergangenheit nicht unter Handlungsdruck standen. Und jetzt gibts die Revolution in der Branche – ausgelöst durch Wefox, eines der am schnellsten wachsenden Startups Europas? Ja, ja, es wird zwar länger dauern als in anderen Industrien – aber dafür mit noch mehr Wucht kommen. Die Revolution findet im Unsichtbaren statt. Inwiefern? Getrieben wird sie von zwei grossen Themen. Kapitalerträge haben der Branche in den letzten hundert Jahren gewaltige Summen eingetragen. Diese fielen mit dem aktuellen Tief- oder Negativzinsumfeld weg. Zweitens stellen die Versicherten fest, dass die Kundenerfahrung ihr Geld nicht wert ist. Im Alltag funktioniert alles auf Knopfdruck, aber bei den Versicherungen ist noch ganz viel Papier im Spiel. So gerieten die grossen Versicherer unter Druck.Der Seriengründer Julian Teicke (35) ist Gründer und CEO Wefox. Er ist verheiratet und hat eine Tochter. Nach seinem Ökonomiestudium in St. Gallen arbeitet Teicke beim Startup Chocri in London. Von 2009 bis 2010 war er Verkaufsmanager bei Groupon in London, gefolgt von der Gründung von Deindeal, dass er später an das Verlagshaus Ringier verkaufte. 2015 gründete Teicke Wefox und wurde auch ihr CEO. Dazu war er Founder und Partner bei Force Ventures und Co-Founder und Non-Executive Chairman bei Empaua. 2018 gründete er Kenjo und wurde Non-Executive Chairman, war Co-Founder und Non-Executive Chairman bei Doctorly und Co-Founder und Non-Executive Chairman bei Heartspace. 2019 war er Co-Founder und Non-Executive Chairman bei Lentil und ab 2021 Co-Founder und Non-Executive Chairman bei Handly. Sie müssen sich für die Zukunft neu aufstellen, die Digitalisierung vorantreiben? Sie wissen selber, dass sie nicht gut aufgestellt sind. Gleichzeitig müssen sie ihren Aktionären regelmässig eine stattliche Dividende auszahlen – und können nicht in die Zukunft investieren. Also die Dividenden streichen? Die Chefs der grossen Versicherungsgesellschaften müssten hinstehen und sagen: Liebe Investoren, wir machen es nun wie die Tech-Firmen, die mittlerweile zu den wertvollsten dieser Welt gehören, und zahlen euch keine Dividenden mehr aus. Die Antwort? Die einen würden sagen: Lieber Versicherer, wir investieren bei euch, weil wir Dividende kriegen. Und die Tech-Investoren würden sagen: Liebe Versicherer, wir investieren nicht bei euch, weil ihr es nicht schafft, euch zu transformieren und zu globalen Tech-Firmen zu werden. Somit hätten sie die schlechteste aller Welten – nämlich gar keine Investoren. Entsprechend müssen sie die Zitrone auspressen, um die Anleger bei der Stange zu halten. Die Kundschaft ist nicht sehr agil. Man schliesst eine Versicherung ab und hofft auf wenig Schadenfälle. Die Kundschaft will, was sie in anderen Bereichen hat: einfache, schnelle, kostengünstige Angebote. Das ist aber nicht das, was die Versicherer anbieten. Man hat nicht täglich mit der Versicherung zu tun, ergo ist das Kundenerlebnis nicht zentral. Die Interaktion ist seltener als mit einem Modehändler oder einem Detailhändler. Aber: Die Technologie verändert die Branche komplett. 2025 besitzt jeder Mensch 15 Geräte, die mit dem Internet verbunden sind. Daraus wird eine Menge an Daten generiert, die viel grösser ist als heute vorstellbar. Heute gibt man ein paar Datenpunkte in ein statistisches Modell ein, daraus wird unter Berücksichtigung des Risikos ein Preis ermittelt. Der alte Kunde interessiert sich nicht für die Konditionen, zahlt jeden Monat die Prämien. Und wenn es kracht … Dann bezahlt die Versicherung. Aber durch die Datenrevolution und die Verbindung zum Internet verändert sich Versicherung im Kern – und zwar vom finanziellen Schutz vor ungewissen Ereignissen, basierend auf statischen Daten, hin zu was Neuem: proaktivem Schutz vor wahrscheinlichen Ereignissen, basierend auf kontextualen Daten. Heisst konkret? Dem Kunden wird künftig gesagt, wenn er oder sie in eine riskante Situation zu geraten droht. Mit dem Ziel, dass er oder sie eine solche Situation vermeidet und gar keinen Schaden erleidet. Der Hauptgrund für Unfälle ist die Nutzung des Handys am Steuer – wir identifizieren die grossen Hebel und verändern das Verhalten der Kunden über Technologie. Durch den Einsatz von Technologie können wir anfangen, besser zu verstehen, wie Menschen ihre Autos fahren, um Risiken zu vermeiden, Verkehrsstaus zu reduzieren und sogar Städte lebenswerter zu machen. Das ist eine gewaltige Technologie-Revolution, welche die traditionellen Versicherer nur mit gewaltigen Investitionen stemmen könnten. Sie sehen sich als Risiko-Coach der Kundin? Ja, die Kundschaft kann die persönlichen Daten teilen, wir beraten sie. Auf einem Smartphone hats über 15 Sensoren, welche Geschwindigkeit, Location, Höhe und so weiter messen. Das Handy weiss nach 30 Tagen fast alles über eine Person. Diese Daten werden genutzt für zwei Dinge: Wir vergleichen im Verkehr deine Risikosituation mit jener der anderen. So sehen wir, dass du zu den riskanten Fahrern gehörst, dass du viel Sport machst, aktiv bist. Dann verbinden wir die persönlichen Daten mit Metadaten, mit Wetter, Kriminalitätsrate, Gefahrensituation auf der Strasse. Wenn es Informationen gibt, die sehr relevant wären für den Kunden, geben wir sie weiter. Dann kriegt der Kunde ständig Nachrichten: Pass auf, hier gabs gestern einen Überfall? Wir sind da zurückhaltend und wollen nicht als Oberlehrer rüberkommen. Aber es geht darum, grosse Risiken zu vermeiden. Und dann arbeiten wir mit Partnern daran, das Risiko, basierend auf diesen Erkenntnissen, weiter zu verringern. Konkret? Aufgrund einer genetischen Disposition kann man die Wahrscheinlichkeit von gewissen Krankheiten, etwa Alzheimer, abschätzen und weiss, was dagegen zu tun ist. Dies sind enorm wichtige Informationen für die Endkunden und für die Versicherer. Unter dem Strich wird das Leben eines Versicherten sicherer und für die Versicherer wirds günstiger. Und für den Versicherten letztlich auch. Und der Datenschutz bleibt auf der Strecke? Immerhin gehts hier um Gesundheitsdaten. Wir haben keinen Zugriff zu den persönlichen Daten. Diese sind lokal gespeichert auf dem Endgerät des Konsumenten. Der Versicherte ist der Souverän über die eigenen Daten. Ich hatte immer die Horrorvorstellung, dass wir überall im Körper Implantate hätten, die dann melden: Vorsicht, in der Brust bildet sich ein Herd von Krebszellen – und dann wird die Versicherung ausgesetzt. Da hat die Branche eine Verantwortung. Ergo müssen wir noch viel mehr machen, als der Regulator von uns fordert. Wefox ist angriffslustig, aber Sie sind immer noch ein Nischenplayer. Das ist so, wir sind megaklein, aber wir sind innovativ und schnell. Allianz steht bei 150 Milliarden Dollar Umsatz, wir bei 400 Millionen. Aber der Abstand wird kleiner, weil wir jedes Jahr um 100 Prozent wachsen. Unser Vorteil ist, dass wir Technologie im Kern unserer DNS haben. Sie sehen in Europa eine neue Welle von Tech-Firmen anrollen, die im Konzert der Grossen mitspielen sollen. Da denken Sie an Ihre Wefox? Ich glaube an ganz viele. Allein in Deutschland gibts aktuell ungefähr sechzig Unicorns, also junge, nichtkotierte Firmen, die über 1 Milliarde wert sind. In Frankreich, in der Schweiz oder in den Niederlanden habe ich unglaublich viel Innovationskraft gesehen. Wir haben in den letzten zwanzig Jahren die Disruption der einfacheren Geschäftsmodelle geschehen, jetzt geschieht die Disruption der komplexeren Geschäftsmodelle, bei den Versicherungen oder im B2B.Unicorn Der gebürtige Berliner Julian Teicke ist Serienfirmengründer und investiert in Startups. 2015 gründete er das Insurtech-Unternehmen Wefox, das hohe Wachstumszahlen ausweist und als das einzige europäische Unicorn im Versicherungsbereich gilt. Teicke trat kürzlich an der Noah Conference in Zürich auf. Was kann Europa besser als Tech-Firmen aus den USA oder Asien? Hier gibt es Talente, die zu sehr komplexen Themen technologische Lösungen finden. Diese Talente sind oft besser als jene in den USA oder gar in China. Aber sind nicht die nationalen Regulatoren das grosse Hindernis für europäische Tech-Konzerne? Nein, es ist ein Vorteil. Denn zur Zukunft der Innovation gehört der verantwortungsvolle Umgang mit Daten und das Berücksichtigen von Regulatorien. Gerade in Deutschland haben wir zwei Terrorregime erlebt, das hat die Kultur des sensiblen Umgangs mit Daten über Generationen geprägt. Diese Sensibilität für persönliche Daten gibts auch in der Schweiz. Sie haben in St. Gallen studiert. Wieso? Ich stand vor der Berufswahl: entweder Koch oder Business. Ich versuchte es zuerst als Koch und schrieb Jamie Oliver eine Bewerbung; doch der hat nie geantwortet. Und dann entschieden Sie sich für Second Best und zogen nach St. Gallen? Richtig. Wir waren mal ein Trüppchen von drei Leuten im Gespräch mit einem Professor. Der meinte lachend: Einer von euch wird Banker, einer Berater und einer wird nichts. Banker wurden Sie nicht, auch nicht Berater. Dafür wurde ich Unternehmer. Ich bedaure übrigens, dass das Unternehmertum damals an der Uni viel zu wenig gepusht wurde. Junge Leute sollten ermuntert werden, Risiken einzugehen, alles auf eine Karte zu setzen, halt auch mal hart zu landen – und sich nicht in die Komfortzone verabschieden. Wo haben Sie dieses Draufgängertum her? Mein Vater ist Unternehmer, da habe ich einiges mitbekommen. Nach dem Studium in St. Gallen bin ich in die Startup-Szene rein. Und wurde immer wieder ins kalte Wasser geworfen. Wegen meiner heutigen Frau ging ich mal zu einem Startup nach England. Ich begann am ersten Tag als Praktikant, am zweiten Tag kam der Chef zu mir und meinte: Du warst doch an einer guten Uni in der Schweiz, übernimm mal den Job von deinem Vorgesetzten, der ein Burnout hat und eben nach Hause gegangen ist. Am zweiten Tag hatte ich also plötzlich zwanzig Vertriebler unter mir und ein monatliches Umsatzziel von 2 Millionen Pfund. Und keiner sagte mir, was ich tun sollte. Echtes Unternehmertum halt. Ich hab den Leuten am dritten Tag diverse Anweisungen gegeben, was sie tun sollten – nochmals nachverhandeln, das Produkt neu bauen. Am vierten Tag kam der Chef in mein Büro und meinte, ich hätte da ein riesiges Chaos angerichtet. Dann zwinkerte er mir zu und meinte beim Rausgehen: Mach genau weiter so. Damals hab ich gemerkt: Wenn ich in eine viel zu grosse Schuhnummer steige, bringt mich das weiter. Es fühlt sich zwar am Anfang total unangenehm an, aber dann wachsen irgendwann die Füsse nach. Das war meine erste Erfahrung in einem Startup. Also immer eine riesige Schuhnummer? Es gibt die Komfortzone, dann gibts die totale Überforderung, die nicht gesund ist. Und dazwischen gibts eine Überforderung, an der man wächst. Die Zeitschrift «InsurTech» nennt Wefox «Europas erfolgreichste Insurtech-Firma». Was haben Sie sich für 2022 zum Ziel genommen? Das interne Ziel lautet 1 Milliarde Umsatz. Doppelt so viel wie 2021. Ich mag es, hohe Ziele zu setzen. Wenn die Leute das in der «Handelszeitung» lesen, wissen sie, wo der Hase langgeht. Der nächste Schritt ist ein Milliarden-Börsengang an der Nasdaq? Unser Ziel ist es, das Business richtig gut aufzubauen. Auf diesem Marathon haben wir einen Kilometer geschafft, nun liegen noch 41 vor uns. Heute sind wir so stark, dass wir über den Kapitalmarkt privat sehr viel Geld einsammeln können. 2021 waren es 650 Millionen Dollar, dabei hätten wir über 1 Milliarde einsammeln können. Weil die Verbindung von Technologie und Versicherung ein sehr attraktives Geschäftsfeld ist. Und der Versicherungsmarkt 5,2 Billionen gross. Also kein Börsengang? Solange wir am privaten Kapitalmarkt so viel Geld einsammeln können, wie wir brauchen, sehe ich keine Notwendigkeit. Wie lange hält das Schiesspulver? Mit dem heutigen Plan: unendlich lang. Jetzt aber steigen unsere Ambitionen. Wir sind in fünf europäischen Ländern tätig und wollen in weitere rein, zudem wollen wir unser Produktportfolio vergrössern. Bislang sind wir im Sachbereich, bald gehen wir in den Lebenbereich – und das alles auf einer einzigen technologischen Plattform. Wir haben diese Plattform auf der grünen Wiese gebaut, während die Dinosaurier über Jahrzehnte Firmen zusammenkauften und unterschiedliche Systeme haben, die zäh wie Kaugummi alles zusammenkleistern. Und wenn Mario Greco von der Zurich auf Sie zukommt und reden will? Zurich hat einen Market Cap von 60 Milliarden Franken, da wären wir etwas teuer für sie. Der US-Insurtech-Firma Limonade wird bei einem Umsatz von 120 Millionen Dollar mit 2,5 Milliarden bewertet. Wefox ist fast viermal grösser. Limonade war sogar mal mit 10 Milliarden bewertet. Wefox hat die Schweiz verlassen. Weil das Risikokapital hier fehlte? Nein. Wir haben die Firma in der Schweiz gegründet und sind 2015 nach Berlin, weil ich da aufgewachsen bin. Aber die Schweiz ist einer unserer grössten Märkte. Ich war fast zehn Jahre in der Schweiz, zuerst in St. Gallen, dann in England, dann in Zürich. Und Holding und juristischen Sitz haben wir immer noch in der Schweiz, das operative Zentrum ist in Berlin. Welche Wachstumspläne haben Sie in der Schweiz? Unsere Ambitionen sind gigantisch. In den letzten zwei Jahren sind wir umsatzmässig um 480 Prozent gewachsen. Mittlerweile haben wir 350 Leute vor Ort, in Zürich, Roggwil und andernorts. Im Vertrieb von Versicherungsprodukten sind wir übrigens Marktführer.