Kliniken in der Krise: Finanzierung der Spitäler ist auf Sand gebaut

Es rumort in den Spitälern. Immer mehr der mehr als 270 Kliniken in der Schweiz laufen am Limit. Oder darüber. Das Spital Burgdorf im Kanton Bern musste dieser Tage einen 88-jährigen Herzpatienten mit Atemnot abweisen. Es war einfach kein Bett mehr frei. Die Hirslanden-Gruppe, mit 17 Kliniken in 10 Kantonen und gegen 14000 Mitarbeitenden die grösste Spitalkette der Schweiz, hat 200 von 2300 Spitalbetten geschlossen, vor allem in Bern. Und dass, wie zu Hochzeiten der Pandemie, Wahleingriffe verschoben werden müssen, ist inzwischen an der Tagesordnung. Besonders prekär ist die Situation in den Kinderkliniken, wo zurzeit besonders viele Kinder mit einer RS-Infektion eingeliefert werden. Das Virus verursacht Atembeschwerden, viele der kleinen Patienten und Patientinnen brauchen Sauerstoff; in seltenen Fällen kommt es zu Lungenentzündungen, was besonders bei Säuglingen schnell gefährlich werden kann. Schuld an der Misere ist die obligatorische Krankenversicherung. Sie arbeitet seit Jahren mit Tarifen, welche die Kosten nicht annähernd decken. Der Basis-Tarif, der dann je nach Komplexität des Eingriffs mit einem niedrigeren oder einem höheren Faktor multipliziert wird, geht seit Jahren zurück. Der Spitalverband H+ geht davon aus, dass die Leistungen in er obligatorischen Krankenversicherung im stationären Bereich zu 10 Prozent unterfinanziert sind. «Die obligatorische Krankenversicherung bestellt Leistungen, die sie nicht finanzieren kann», sagt Daniel Liedtke, CEO der Hirslanden-Gruppe. Und: In der obligatorischen Krankenversicherung arbeite in der Schweiz kein einziges Spital kostendeckend. Die Margen reichen nicht Der finanzielle Druck auf die Spitäler ist enorm. Einer PWC-Studie zufolge operierte im vergangenen Jahr jedes zweite Spital mit einer Ebitdar-Marg von 7,3 Prozent oder weniger, lag also deutlich unter den 10 Prozent, die für einen wirtschaftlich nachhaltigen Spitalbetrieb eigentlich erforderlich wären. Der Ebitdar ist das Ergebnis vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen, Amortisationen und Mietkosten und gilt als verbreitete Kennzahl im Gesundheitswesen, da viele Betriebe in ihren Liegenschaften zur Miete sind. Besonders prekär ist die Situation im ambulanten Bereich, wo die Leistungen laut dem Spitalverband H+ zu 30 Prozent unterfinanziert sind. Doch auch in der Pädiatrie sind die Verluste enorm. Die Behandlung von Kindern braucht mehr Zeit und mehr Aufwand, medizinisch und in der Pflege, als die von Erwachsenen. Doch das gibt die obligatorische Krankenversicherung nicht her. In einigen Spezialgebieten der Kinderheilkunde liegt die Unterdeckung bei 40 Prozent. Der Zusatzversicherte zahlt mit Dass die Spitäler in dieser Situation überhaupt finanziell über die Runden kommen, verdanken sie den Zusatzversicherten. Wenn etwa in der Basler Merian Iselin Klinik eine Patientin auf der allgemeinen Abteilung eine neue Hüfte eingesetzt bekommt, dann zahlt auch die Versicherung der Privatpatientin im «Premium Golden Flügel» gleich nebenan ordentlich mit. Für die Operation der allgemein versicherten Patientin kann Spitaldirektor Stephan Fricker gerade mal 16’000 Franken bei der Krankenversicherung in Rechnung stellen; ein Beitrag, der deutlich unter dem liege, was ihn die Behandlung koste. Für die privat versicherte Patientin im goldenen Flügel kann er dagegen fast 30’000 Franken berechnen, mit der halbprivat versicherten Hüft-Patientin nimmt er immerhin noch 24’000 Franken ein. In anderen Kliniken sind die Aufschläge für die Zusatzversicherten bei Hüftoperationen noch höher. «Jeder Grundversicherte, jede Grundversicherte ist ein Verlustgeschäft», sagt Spitaldirektor Stephan Fricker. Und: «Wir leben vom Zusatzversicherungsbereich. Ohne Zusatzversicherte wären wir schon lange im Minus.» In Zahlen: In der kleinen, auf orthopädische Eingriffe spezialisierten Basler Klinik stemmen die Zusatzversicherten zwei Drittel der Marge, obwohl nur ein Drittel der Behandlungen auf die privat und halbprivat Versicherten entfallen. Oder anders gesagt: Dafür, dass die Rechnung in den Schweizer Spitälern wenigstens noch halbwegs aufgeht, sorgen die privat und halbprivat versicherten Patienten und Patientinnen. Das Modell funktioniert nicht mehr Das Problem dabei: Das Spiel mit der Quersubventionierung funktioniert längst nicht mehr so gut wie auch schon. Immer weniger Patienten und Patientinnen sind privat versichert; der Pool derjenigen, die potenziell draufzahlen, wird immer kleiner. Einer Studie von McKinsey zufolge hatten 2009 noch 279’000 Versicherte eine private Spitalzusatzversicherung; zehn Jahre später waren es noch 255’000. Schuld sind die Prämien in der Grundversicherung, die Jahr für Jahr um einige Prozent steigen und deshalb zunehmend auch Mittelstandshaushalte an ihre finanziellen Grenzen bringen. Eine Zusatzversicherung liegt da meist nicht mehr drin. Dazu kommt, dass inzwischen die Finanzmarktaufsicht Finma ins Geschäftsmodell der Querfinanzierung eingegriffen hat und den Versicherern auf die Finger klopft. Vor zwei Jahren hielt sie in einer Medienmitteilung fest: Arzt- und Spitalrechnungen würden zum Teil «unbegründet hoch oder ungerechtfertigt scheinen». So habe man bei Vor-Ort-Kontrollen etwa festgestellt, dass zusatzversicherten Patienten und Patientinnen Leistungen nochmals abgerechnet würden, die in der obligatorischen Grundversicherung bereits enthalten seien. Zudem würden bei Versicherungsprodukten mit freier Arztwahl Honorare von «weiteren involvierten Ärztinnen und Ärzten» in Rechnung gestellt, ohne dass dies begründet werde, kritisierte die Finma. Und dann sei auf den Abrechnungen auch oft nicht ersichtlich, worin die zusätzlichen Hotellerie-Leistungen bestünden, die Zusatzversicherten in Rechnung gestellt würden. Viele Spitäler hätten heute auch auf der allgemeinen Abteilung nur noch Zwei-Bett-Zimmer. Trotzdem müssten die halbprivat Versicherten einen Aufpreis zahlen. Mehr Transparenz in der Zusatzversicherung Auffällig dabei: Der Schweizerische Versicherungsverband hat das Anliegen postwendend aufgenommen und schon wenig später ein ein Elf-Punkte-Programm formuliert, um die Transparenz und Nachverfolgbarkeit im Zusatzversicherungsbereich zu verbessern. Eine Nullmessung Anfang dieses Jahres ergab, dass nur 14 Prozent der Verträge zwischen Versicherern und Leistungserbringern den neu formulierten Standards entsprachen; jeder zweite Vertrag wurde gerade neu verhandelt. Bis 2024 sollen alle Verträge auf dem neuen Stand sein. Spätestens dann dürfte die Transparenz-Initiative von Finma und Versicherungsverband also dazu führen, dass gewisse Positionen bei den Zusatzversicherten nicht mehr geltend gemacht werden können, womit einige der heutigen Einnahmen von Zusatzversicherten wegfallen. Was den Druck auf die Spitäler nochmals erhöhen wird. Und schliesslich haben auch die Spitäler selbst ihren Beitrag daran, dass der finanzielle Druck steigt. Von Lausanne bis St. Gallen und von Zürich über Aarau wurden in den vergangenen Jahren Milliarden in neue Kliniken investiert. Das ist nicht nur eine finanzielle Belastung. Die Aufrüstung auf den allgemeinen Abteilungen sorgt auch dafür, dass sich noch mehr Versicherte fragen, warum sie jeden Monat Hunderte von Franken für etwas mehr Komfort zahlen, eine freie Arztwahl und das Recht, vom Chefarzt operiert zu werden. Die Tarife müssen steigen Das «Der Zusatzversicherte zahlt mit»-Modell, mit dem sich die Spitäler jahrelang finanziell über Wasser hielten, steht auf der Kippe. Zumal jetzt mit der Teuerung und den steigenden Personalkosten noch weitere Belastungen auf die Spitäler zukommen. Hirslanden-Chef Daniel Liedtke rechnet mit einer Teuerung von 5 Prozent für das nächste Jahr. Andere Kliniken gehen von ähnlichen Zahlen aus. Der Personalnotstand ist gross, Lohnforderungen können, anders als früher, nicht mehr so einfach ignoriert werden. An einer Erhöhung der Tarife in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung dürfte deshalb kein Weg vorbeiführen. Es sei denn, die Schweizer Bevölkerung ist bereit, einen noch weitergehenden Leistungsabbau in Kauf zu nehmen, mit allem, was dazu gehört: Wartelisten, überfüllten Notfallstationen und überforderten Rettungsdiensten. Doch davon ist nicht auszugehen.