Krypto-Desaster: Pleite-Börse FTX war ein Selbstbedienungsladen

Der Konkurs von FTX gehört nicht nur zu den grössten Insolvenzfällen der Geschichte. Er offenbart auch ein beispielloses Führungschaos. Die Kryptobörse war ein dilettantischer Selbstbedienungsladen, wie ein Gerichtsdokument vom Donnerstag zeigt. «Noch nie in meiner beruflichen Laufbahn habe ich ein derartiges Versagen der Unternehmenskontrollen und ein derartiges Fehlen vertrauenswürdiger Finanzinformationen erlebt», sagt der neue Geschäftsführer John Ray. Seine Worte haben Gewicht: Ray beaufsichtigte die Liquidation der Enron-Gruppe. Der Fall gilt als der drittgrösste Konkurs in der Geschichte der Vereinigten Staaten und als Lehrstück über Wirtschaftskriminalität. Der texanische Energiekonzern frisierte die Bilanzen wie kein anderer vor ihm, der Finanzchef erhielt eine sechsjährige Haftstrafe. Bei FTX ist die Situation noch schlimmer. Es gab kaum interne Kontrollen, eine viel zu grosse Machtballung, keine Dokumentation, eine mehr als nur lückenhafte Buchhaltung und fast keine externe Aufsicht. Das Kern-Management von FTX bezeichnet Ray als «sehr kleine Gruppe unerfahrener, unbedarfter und potenziell kompromittierter Personen». Die Situation sei «beispiellos». Keine Kontrolle über Bargeld Die Kundinnen und Kunden von FTX müssen mit einem Totalausfall rechnen. Bislang wurde erst «ein Bruchteil» der digitalen Vermögenswerte ausfindig gemacht, schreibt Ray. Die Rede ist von etwa 740 Millionen Dollar an Kryptowährungen, die in Offline-Kaltgeldbörsen gesichert sein sollen. Zum Vergleich: Vor dem Insolvenzantrag wies FTX über 5 Milliarden Dollar an Krypto-Assets auf. Wahrscheinlich ist, dass das Geld weg ist. FTX hatte «keine zentrale Kontrolle über seine Barmittel», wie Ray schreibt. Das Unternehmen hat es versäumt, eine genaue Liste der Bankkonten und der Kontobevollmächtigten zu führen. Deshalb ist auch unklar, wie viel Bargeld das Unternehmen hatte, als es Konkurs anmeldete. Die Konkursmanager haben bisher 560 Millionen Dollar zusammengekratzt. Die Buchführung des Unternehmens sei so lax gewesen, so Ray weiter, dass die Konkursmanager nicht einmal in der Lage waren, eine vollständige Liste der Personen zu erstellen, die zum Zeitpunkt des Insolvenzantrags für die FTX-Gruppe arbeiteten. Im Klartext: Eigentlich ist unklar, wer zu welchen Bedingungen wann für die Gruppe arbeitete. Möglich ist, dass Fake-Mitarbeitende angestellt waren und dass Gelder abgezweigt wurden. Geld für FTX: Wo blieb die Due Diligence? Die Gerichtsunterlagen zur FTX-Pleite offenbaren ein beispielloses Chaos in der Buchhaltung und Geschäftsführung. Unmittelbar damit verbunden stellt sich die Frage, warum das Unternehmen von Geldgebern geflutet wurde und wie gewissenhaft die Risikokapitalgeber ihre Sorgfaltsprüfung erledigt haben. Die Liste der FTX-Unterstützer liest sich wie ein «Who is Who» der VC-Welt. So gehörten unter anderen Tiger Global Management, Third Point und Altimeter Capital Management zu den Hedgefonds, die sich an einer Finanzierungsrunde von 2021 beteiligten. Betroffen sind auch Aushängeschilder wie Masayoshi Sons Softbank aus Japan, die Private-Equity-Gesellschaft Thoma Bravo oder die Wagniskapital-Gesellschaft Sequoia Capital. Sequoia feierte das ehemalige Krypto-Wunderkind Bankman-Fried sogar auf der eigenen Website. Die Verantwortlichen waren schwer beeindruckt von einem Zoom-Call, bei dem Bankman-Fried die Fragen der Investoren «genial» beantwortet und gleichzeitig «League of Legends» gespielt haben soll. Sie sahen den Gründer bereits als zukünftigen und ersten Menschen, der ein Vermögen jenseits von 1000 Milliarden anhäufen werde. Es kam anders. Bankman-Fried geht in die Geschichte ein als der Mensch, der über Nacht sein ganzes Vermögen verloren hat. Sequoia hat die Beteiligung in Höhe von 214 Millionen US-Dollar auf null abgeschrieben – und muss bei der internen Due-Diligence-Abteilung über die Bücher. Die Liste der wahnsinnigen Verfehlungen geht weiter: Angeblich wurde der Missbrauch von Kundengeldern aktiv verschleiert. Der Gründer und Ex-CEO Sam Bankman-Fried zahlte sich ausserdem ein privates Darlehen über 1 Milliarde Dollar aus. Schliesslich wurden Kundengelder auch dazu verwendet, Immobilien auf den Bahamas zu kaufen, die dann auf den Namen einzelner Manager liefen und wahrscheinlich immer noch laufen – mutmasslich als unkontrollierte und höchstwahrscheinlich nicht ganz legale Gratifikation. Eine zentrale Kontrollinstanz gab es eigentlich nicht, von Sam Bankman-Fried mal abgesehen, über dessen Pult die meisten Bilanzen liefen, weswegen der Insolvenz-CEO kein Vertrauen in die Daten hat. Ein internes, professionelles Audit und Controlling fehlte. Ein externer Bilanzprüfer war ein weitestgehend unbekanntes Unternehmen, das sich damit brüstet, die erste Accounting-Firma mit Headquarter im Metaverse zu sein. Spesen ohne Kontrolle Das HR-Management und die Spesenkontrolle funktionierten schliesslich über Emoji-Chat-Nachrichten; und bei gewissen Konzerneinheiten kam es in der ganzen Geschichte zu keiner einzigen Sitzung des Verwaltungsrats. Für die Insolvenzverwalter aber besonders schwierig ist die Tatsache, dass die meisten Entscheidungen, die in der Vergangenheit gefällt wurden, nicht mehr nachvollziehbar sind. Das Gros der Kommunikation von Bankman-Fried lief über einen Chat-Dienst, der die Nachrichten nach kurzer Zeit wieder löschte. Das einstige Krypto-Wunderkind ermunterte seine Angestellten sogar dazu, es ihm gleichzutun – was auch geschah. In der Folge bleibt vieles, was passiert ist, im Dunkeln. FTX streitet nun mit Bankman-Fried darüber, ob sein Imperium unter die Zuständigkeit der US-Gerichte fallen soll, wo mehr als hundert verbundene Unternehmen in Konkurs sind. Bankman-Fried bevorzugt die Bahamas. Die Kryptowelt übt sich derweil im Zittern. Die weltweit grösste Kryptobörse Binance sah sich gezwungen, in der Nacht auf Freitag eine Nachricht an sämtliche Nutzerinnen und Nutzer zu schicken. «Nach den jüngsten Ereignissen in der Kryptoindustrie wollten wir eine E-Mail senden, um Ihnen zu versichern, dass Ihre Gelder bei Binance sicher sind», heisst es darin. «Wir wissen, dass Sie das von anderen in der Kryptobranche gehört haben, kurz bevor die Dinge nicht mehr in Ordnung waren. Wir wissen, dass wir Ihnen zeigen und nicht nur sagen müssen, dass Ihre Gelder sicher sind.» Es folgte eine aussergewöhnliche Erklärung der Situation. Alle Gelder auf Binance würden eins zu eins gehalten und könnten jederzeit abgehoben werden. Und der Notfallversicherungsfonds sei auf 1 Milliarde Dollar aufgestockt worden. Das FTX-Pleite-Universum reicht bis nach Appenzell Ausserrhoden Der Insolvenzantrag der Kryptobörse FTX zeigt, dass die Firma über 130 Tochterfirmen unterhielt. Eine davon, gelistet auf Position 80, ist die FTX Switzerland GmbH. Stammkapital: 20’000 Franken. Sitz: Pfäffikon SZ. Bis vor kurzem firmierte das Unternehmen im Handelsregister noch unter dem Namen Canco GmbH, einst gegründet in der Ostschweiz und dann gezügelt in die Billigsteuergemeinde Freienbach. Die FTX Switzerland GmbH wiederum, das zeigt das Dokument weiter, ist eine Tochtergesellschaft der FTX Europe AG. Die Firma hat deutlich mehr Kapital: 1 Million Franken. Sie ist das Dachunternehmen, das diverse Firmen in sich vereint, der Dreh- und Angelpunkt der FTX-Operationen in Europa, Afrika und im Nahen Osten. Ein halbes Dutzend Firmen sind voll im Besitz der Aktiengesellschaft. Mehr lesen Sie hier.

Krypto-Desaster: Pleite-Börse FTX war ein Selbstbedienungsladen

Die Pleite-Börse FTX war ein Selbstbedienungsladen