Deutschland hat sich vor einem Monat erneut für eine rot-grüne Regierung entschieden. Waren Sie enttäuscht?

Gustav Greve: Nein. Froh war ich über das knappe Wahlergebnis. Die künftige Regierung kann sich jetzt nicht zurücklehnen, in der Meinung, sie habe über die letzten Jahre hinweg alles richtig gemacht. Die wirtschaftlichen Indikatoren und Ergebnisse zeigen, dass einiges falsch gelaufen ist.

Was hätte das Koalitionsgespann CDU/CSU mit der FDP unter Edmund Stoiber anders gemacht?

Greve: Es wäre nicht zu den aussenpolitischen Irritationen gekommen, wie sie am Ende des Wahlkampfes zwischen dem Bundeskanzler und der amerikanischen Regierung bestanden. Stoiber hat das Thema Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt gestellt. Entsprechend wäre die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik ganz deutlich in den Vordergrund gerückt.

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Bundeskanzler Gerhard Schröder gilt als Mann der grossen deutschen Konzerne. Die müssten mit der Wahl zufrieden sein.

Greve: Ja, davon gehe ich hinsichtlich der Steuerreform aus. Aber auch die Grosskonzerne sind auf einen gesunden Mittelstand im Bereich der Zulieferer und der Kunden angewiesen.

Dann sieht es weniger günstig für die kleineren und mittleren Unternehmen aus?

Greve: Vielleicht kommen Globalkonzerne mit dem erdrückenden Regelnetzwerk aus Betriebsverfassungs-, Kündigungsschutz-, Weiterbildungs-, Sozial-, Renten-, Abschreibungs-, Steuer-, Ökosteuer- und Arbeitszeitgesetzen noch gut klar, für die kleinen und mittleren Unternehmen ist es oft ein Kampf um das Überleben. 32000 Insolvenzen im Jahr belegen das.

Wagen Sie eine Prognose: Was realisiert die neue Bundesregierung innerhalb der ersten zwölf Monate?

Greve: Eine echte Strukturreform des deutschen Bildungssystems wird ganz oben auf der Liste stehen. Nur dürfte das nach der bisherigen Erfahrung nicht wirklich durchgesetzt werden. Auch eine Steuerreform, die eine wirkliche Entlastung des privaten Einkommens oder des Mittelstandes vorsieht, wird nicht weiterentwickelt.

Dann bleibt der Reformstau?

Greve: Ja, da wird nichts abgebaut. Die Finanzspielräume sind bis an den Rand der EU-Kriterien ausgeschöpft, die Gewerkschaften werden für ihre Wahlhilfe ihren Preis einfordern, der Bundesrat hat eine Blockademehrheit für alle zustimmungspflichtigen Gesetze und die Wirtschaftsverbände sind voller Skepsis.

Zunächst muss Schröder aber mit US-Präsident George W. Bush klarkommen. Deutsche Exportunternehmen geraten sonst auf einem der wichtigsten Absatzmärkte in Bedrängnis.

Greve: Die Exportabhängigkeit von Deutschland in Richtung USA ist gross. Das gilt auch für die kapitalmässige Verflechtung. Deutsche Unternehmen haben in den USA im letzten Jahr 220 Mrd Euro investiert. Daher ist es dringend geboten, dass Bundeskanzler Schröder die Dinge in Washington persönlich und nicht via Mittelsmänner wieder zurecht rückt.

Müssen jetzt mit staatlichen Investitionsprogrammen neue Impulse gesetzt werden?

Greve: Für Deutschland wäre dies ein ganz falsches Konzept. Man kann nicht Geld, das ohnehin fehlt, in die Infrastruktur stecken, die keinem wirklichen Bedürfnis entspricht. Ein negatives Beispiel der falschen Strukturwirkung von Investitionsprogrammen sehen wir bei der Bauindustrie in Ostdeutschland. Eine Dauerunterstützung wie im deutschen Steinkohlebau, wo jeder Mitarbeiter mit 70000 Euro pro Jahr subventioniert wird, gilt sicherlich nicht als Zukunftskonzept. Wir brauchen nicht mehr Staatsausgaben, vielmehr ist die überhöhte Staatsquote nach dem Muster von Grossbritannien und den USA zu senken. Unter Premierministerin Margaret Thatcher wurden die Steuern dramatisch vermindert.

Vorerst sind aber eher Steuererhöhungen statt Entlastungen angekündigt.

Greve: Ja, ich vergleiche das schlicht mit einem Unternehmen, das Umsatz verliert und einfach die Preise erhöht. Diese Rechnung geht nicht auf. Wer die Staatsquote anhebt und damit die Umverteilungsquote noch weiter erhöht, stranguliert ein Land.

Wohin sollen die staatlichen Gelder fliessen?

Greve: Es gibt zwei Schwerpunkte für die Zukunft: Zum einen die Bildung und zum andern die Innovation.

Gilt das auch für die Schweiz?

Greve: Die Schweiz ist mit den gleichen Problemen der Überalterung konfrontiert wie die übrigen Industrieländer, mit Ausnahme der USA. Da gilt es, das Thema Bildung, vor allem die Weiterqualifizierung, anzupacken. Wir können die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter länger virtuell jung erhalten, wenn wir sie im Alter von 40, 50 oder auch 60 Jahren noch einmal auf die Schulbank setzen. Sie erhalten damit die Chance, mit der Kommunikationstechnik, mit neuen Maschinenprogrammen oder innovativen Materialien, ebenso wie mit Finanz- und Serviceinnovationen umzugehen. Das erhöht Marktwert und Unabhängigkeit.

In der Schweiz nähern wir uns dem Nullwachstum. Bereits ertönt der Ruf nach Impulsprogrammen zur Stimulierung der Wirtschaft. Was halten Sie davon?

Greve: Wer das wünscht, handelt sich auch gleich ein Zukunftsproblem ein. Alles was durch staatliche Investitionsprogramme zulasten der Zukunft ausgeben wurde, ist noch in keinem anderen Land der Welt je wieder zurückverdient worden. Es wirkt wie eine Droge, die nach immer mehr Impulsprogrammen verlangt.

Bringt es etwas, mehr Strassen und Tunnels zu bauen?

Greve: Sicher nicht als Begründung für ein Konjunkturprogramm. Allenfalls kann sich das zur Erweiterung der Verkehrsinfrastruktur als notwendig erweisen. Der von Prognos erstellte «European Transport Report» kommt zum Schluss, dass sich die Projektionen, Güter auf dem Schienenweg oder via Wasserstrasse zu transportieren, auch in Zukunft nicht erfüllen. Das heisst, der Güter- und Personenverkehr auf der Strasse wird nicht zuletzt im Rahmen der EU-Osterweiterung über die nächsten zehn Jahre hinweg um 50% zunehmen. Mit diesem Anstieg vor Augen, sollte man über Infrastrukturprojekte in Public-Private-Partnership nachdenken. Etwa die Möglichkeit der Refinanzierung via Gebühren, den so genannten Maut-Systemen, die sich über die eigentliche Investition hinaus auch amortisieren.

Wo müsste in der Schweiz speziell investiert werden?

Greve: In die Zukunftstechnologien.

Beim Internet oder der Telekommunikation generell macht sich im Moment aber eher Unsicherheit breit.

Greve: Das ist eine untypische Situation. Genauso wie vor gut hundert Jahren, als in den USA die Eisenbahnvernetzung entstand und einem Goldrausch ähnlich sehr viel Geld in Eisenbahn-Aktien investiert wurde. Anfang des letzten Jahrhunderts wurde die Wirtschaft entsprechend in Mitleidenschaft gezogen. In der New Economy hat das Pendel nun einfach übermässig zurückgeschwungen. Die jetzige Unsicherheit wird sich normalisieren, weil Technik- und System-Innovationen dauerhaft sind. Zur Erinnerung: Die namhaften Unternehmen erzielen zwischen 30% und 50% ihres heutigen Umsatzes mit Produkten und Dienstleistungen, die es vor fünf Jahren noch nicht gab. Würden wir jetzt einen Innovationsstopp verhängen, ginge die Wettbewerbsfähigkeit dramatisch verloren.

John Naisbitt hat in den letzten zwei Jahrzehnten lauthals die Megatrends verkündet. Was prognostizieren Sie bis 2020?

Greve: Naisbitt war ein Trendguru, die Prognos analysiert die Zukunftsentwicklungen mit wissenschaftlich fundierten Prognosen. Wir haben festgestellt, dass Systeminnovationen und wachsende Zentrifugalkräfte das wirtschaftliche und politische Handeln in der Zukunft bestimmen werden. Wir beobachten sieben Megatrends, die alle zeitgleich auftreten und insoweit ein Geflecht von Zukunftsherausforderungen darstellen. Die Neuordnung der geostrategischen Machtverhältnisse, die Zunahme der globalen Arbeitsteilung und finanzwirtschaftliche Vernetzung, die technologische Diffusion bekannter Techniken in neue Anwendungsfelder, die rasch alternde Bevölkerung in den Industriestaaten, die Reform der EU und deren Osterweiterung, die Schieflage der weltweiten Einkommensverteilung und die zunehmende Belastung der Umwelt ohne wirkliche Gegenmassnahmen. Bis ins Jahr 2020 müssen alle diese Themen friedlich bewältigt werden, ohne dass dazu die übernationalen Instrumente vorhanden oder, wo vorhanden, wirksam wären. Die Schweiz wird sich indirekt keinem dieser Themen entziehen können.

Ist das, was jetzt passiert, nicht wie ein Trendbruch?

Greve: Nein, wir werden uns später einmal daran erinnern, dass zwischen 2000 und 2003 wirtschaftlich ein grosser Höhepunkt und ein grosser Tiefpunkt zu überwinden waren. Deswegen wird aber der Schweizer Aktienindex nicht auf Null fallen. Die traditionellen Werte, sowohl des Wirtschaftslebens wie der Unternehmen, werden sich fangen und neu behaupten.

Wirtschaftliche Voraussagen sind aber schwierig.

Greve: Im kurzfristigen Rahmen ja, mittel- und langfristig nein. Die kontinuierliche Wirtschaftsentwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg, mit Sondereffekten nach Kriegsende, wird sich nicht innerhalb weniger Jahre fundamental verändern.

Wie gut ist die Schweiz für die Zukunftstechnologien gerüstet?

Greve: Sie hat gute Voraussetzungen, denn die Zukunft heisst eher Wissens- und Servicegesellschaft statt Industrie- und Rohstoffgesellschaft. Was die Schweiz bisher im Bereich der Industrie und der Banken und Versicherungen erfolgreich gemacht hat, wird auch in Zukunft wichtig sein. Darüber hinaus denke ich an die grüne und rote Biotechnologie, kombiniert mit der Nanotechnologie. Auch im Maschinenbau sehe ich Chancen, speziell in Verbindung mit neuen Materialien, Designwerkstoffen oder Oberflächentechnologien. Das erfordert neue Maschinen, die man nicht irgendwo bauen kann.

Das Finanzdienstleistungsgewerbe trägt rund 12% zum Bruttoinlandprodukt bei, doppelt so viel wie in anderen Ländern. Ist das kein Klumpenrisiko?

Greve: Wäre die Schweiz neu zu erfinden, müsste man dieses Risiko natürlich sorgfältig abwägen. Aber in Kombination mit den bestehenden Rahmenbedingungen bezüglich Steuern und Sozialpartnerschaft ist das fraglos auch ein Riesenvorteil. Im gleichen Ausmass, wie die Schweiz Anlagegeld anzieht, sinken auch die Zinsen. Das erhöht die Attraktivität für Investoren. Der starke Franken ist für die Exportindustrie nicht nur eine Herausforderung auf den Drittmärkten, er wirkt auch als eigentliche Produktivitätspeitsche, um wettbewerbsfähiger als andere Unternehmen vergleichbarer Art in der Welt zu sein.

Die Pharmabranche und Chemie ist ebenfalls stark. Droht da nicht die Abwendung nach Übersee, wenn wir uns der Gentechnologie verschliessen?

Greve: Es wäre fatal, wenn die Schweiz alle Dummheiten wiederholen würde, die wir in Deutschland und anderswo in der EU beobachten können. Man sollte sich den neuen Technologien und Innovationen öffnen und sich gleichzeitig absichern, dass die Schweizer Pharmaindustrie ihre Verantwortlichkeit allen Stakeholdern gegenüber sehr wohl abzuwiegen weiss. Dazu bedarf es nicht notwendigerweise einer gesetzlichen Regelung.

Der starke Franken drückt auf die Schweizer Tourismusbranche. Was raten Sie da?

Greve: Unsere Untersuchungen zeigen, dass ein Tourismus-Segment überdurchschnittlich wachsen wird, und dies unabhängig von aller Preissensibilität: Die Kombination von Wellness, Erholung und Gesundheit, allenfalls ergänzt um Weiterbildung.

Wann sehen Sie die Schweiz in der EU?

Greve: Am liebsten gar nicht. Warum sollte die Schweiz die Möglichkeit der eigenständigen Rechts-, Finanz- und Steuerpolitik aufgeben? Gleiches gilt für den starken Franken. Meine Empfehlung, nachdem ich erst seit 18 Monaten in der Schweiz lebe: Back to the roots, Besinnung auf die Prinzipien von Leistung, Flexibilität und Eigenverantwortung. Nicht anpassen, sondern einzigartig bleiben.