ABB-Chef Jürgen Dormann ist zwar kein zweiter Neo. Der Held im Film «The Matrix Revolutions» wollte im Kampf zwischen Maschinen und Rebellen das Überleben der Menschheit sichern. Doch Dormann hat mit seinem Technologiekonzern einen ähnlichen Kampf hinter sich - einen nämlich mit der Matrix. Nicht im virtuellen Raum, sondern ganz real als gescheiterte Organisationsform. Die Matrix hat im Verbund mit strategischen und operativen Fehlern sowie unzähligen Umstrukturierungen ABB beinahe das Genick gebrochen.

Der Konzern wollte global und lokal zugleich sein, gross und klein, radikal dezentralisiert mit zentralisiertem Controlling. Um diese Ziele zu erreichen, zog der damalige Chef Percy Barnevik eine Top-down-Restrukturierung mit der Matrix-Struktur durch. Jeder Verantwortliche an den Schnittstellen musste an zwei Vorgesetzte rapportieren. Der Chef der Hochspannungstechnik in Zürich zum Beispiel sowohl an den Gebietsleiter Schweiz wie auch an den Produkteleiter für die Hochspannungstechnik. Auf höherer Ebene war wiederum an zwei Chefs zu berichten, an den Verantwortlichen für die Region und deren Werke sowie den Chef des weltweiten Segments.

*Falscher Ansatz*

Im Zentrum des Spinnennetzes der Matrix sass Percy Barnevik, der zwar formal die Macht verteilte, jedoch als rastloser Eintreiber überall eingriff, wo etwas seiner Meinung nach zu langsam ging oder zu entgleisen drohte.

Das ist grundsätzlich der falsche Ansatz. Wenn die Einsicht fehlt, bringt man es mit der Matrix kaum auf einen grünen Zweig. Dass dieses Mehrliniensystem aber trotz aller Komplexität und Konfliktanfälligkeit enormes Potenzial bietet, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass sich derzeit auch in der Schweiz wieder vermehrt Unternehmen diese Organisationsform verpassen. Beispielsweise der Lebensversicherer Swiss Life oder der Rückversicherer Converium.

«Structure follows Strategy» lautet das Motto etwa bei Converium, um die im Leitbild verankerte Globalität auch zu leben. Der aus der Zurich Financial Services entstandene Rückversicherer war bisher aus historischen Gründen nach Regionen organisiert. «Es ist ein Anachronismus, regional organisiert zu sein», bestätigt Hans Peter Boller, Chief Risk Officer und Executive Vice President von Converium. «Wir mussten handeln; vor allem interne Abläufe haben gezeigt, dass wir bisher nicht effizient waren. Durch eine einheitliche Struktur, bessere Koordination und Kommunikation können wir jetzt Effizienzen gewinnen.»

Auch beim Lebensversicherer Swiss Life, der ehemaligen Rentenanstalt, hält die Matrix derzeit Einzug. Erklärtes Ziel von Konzernlenker Rolf Dörig ist die Umgestaltung von ehemals autonomen Finanz-Einheiten hin zu einem integrierten Lebensversicherungskonzern. Dörig schwebt das Führen der Kern-Einheiten entlang der vier Funktionen Distribution, Product, Operations/IT und Investments vor.

Theoretisch ist die Sache einfach: Mit der Organisation werden die Voraussetzungen geschaffen, um einen grösstmöglichen Nutzen für das Unternehmen zu erzielen. Je nach Rahmenbedingungen drängt sich eine Organisation nach Funktionen, Produkten oder Markt/ Ländern auf. Dazu kommen die Leistungsprinzipien, also die Zuordnung in Führungs- und Durchführungsaufgaben im Einlinien- oder Mehrliniensystem.

Beim Mehrliniensystem in Form der Matrix erfolgt eine Teilung der Gesamtaufgaben in horizontale (produktorientierte) und vertikale (funktionsorientierte) Funktionen (siehe Kasten). Ziel ist, eine bestmögliche Aufteilung der Aufgaben im Hinblick auf wahrzunehmende Funktionen, zu verkaufende Produkte und zu bearbeitende Märkte zu erreichen. Weil bei dieser Organisationsform die Autoritäten des Produkt- und des Funktionsmanagements aufeinander treffen, besteht ein konstantes Konfliktpotenzial. Dieses Konfliktpotenzial kann jedoch in vielen Fällen zu einer höheren Effizienz der Gesamtorganisation führen.

Die Matrixorganisation drängt sich vor allem auf, wenn Unternehmen zahlreiche und heterogene Produkte anbieten. Sie wird erfahrungsgemäss umso eher gelingen, je konsequenter die Produktmanager mit Kompetenzen und Entscheidungsbefugnissen ausgestattet werden. Mit einem Funktionsdiagramm lassen sich mögliche Konflikte über Zuständigkeiten von Beginn weg minimieren.

*Sparten statt Matrix*

In der Praxis ist bekanntlich immer alles anders. Bei ABB erwies sich die dezentrale Matrix schon vom Start weg als konfliktträchtig und kostspielig, denn jede der vielen neu geschaffenen Zellen des ABB-Organismus entwickelte ihre eigenen Interessen, und die Koordination lag im Argen.

Im Herbst 1998 platzte Barnevik-Nachfolger Göran Lindahl der Kragen. Die Matrix habe ihre Aufgabe erfüllt, die Expansion von ABB zu koordinieren, erklärte Lindahl und löste kurzum die regionalen und lokalen Organisationsstrukturen in Europa, Amerika und Asien auf und stutzte die komplexe Organisation auf eine Spartenorganisation zurück.

Die abrupte Entfernung der Matrix, welche Business Areas und Länder verband und das Funktionieren der globalen ABB-Werkstätte ermöglichte, wird im Rückblick negativ beurteilt. Kritisch äussert sich auch Jürgen Dormann: «Damals war die Matrix die ideale Organisationsform. Der abrupte Wechsel zur Spartenorganisation war dann aber zu viel für einen so grossen Konzern wie ABB, der weltweit tätig ist. Da ist die strikte Zentralisierung nicht so geeignet. Die Leute konnten einfach nicht mehr folgen.»

Für den ABB-Konzernchef sind es zwei Parameter, die aus seiner Sicht für die Weiterentwicklung des Konzerns absolut bedeutend sind: Dezentralisation sowie die Einbindung der Beschäftigten - vor allem des Kaders - in die Entscheidfindung. Jürgen Dormann hat mit den Länderchefs der zehn bedeutendsten Länder, in denen ABB insgesamt rund 80% des Umsatzes generiert, intensive Gespräche geführt, damit diese die Strategie voll mittragen.

Ausgewogen ist das Urteil von Hans Peter Boller, Executive Vice President von Converium: «Es gibt sicher Unternehmen, bei denen die Matrix ins Verderben geführt hat. Wir hatten bei der ZFS schon lange nach dieser Organisationsform gearbeitet - es hat viel gebracht. Jetzt führen wir sie bei Converium global ein. Wenn wir dann mal so gross sind wie Swiss Re, dann kriegen wir das vermutlich nicht mehr hin.» Matrixorganisationen leben davon, dass Kommunikation und Koordination stattfindet. Ab einer gewissen Grösse geht das nicht mehr, dann koordiniert man sich zu Tode. Der Erfolgsfaktor ist mithin die Grösse.

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Literatur:

Werner Catrina: «ABB - Die verratene Vision», Orell Füssli 2003.