Resilienz: Schweizer Wirtschaft mit Luft nach oben

Das Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen Deloitte untersuchte die Krisenfestigkeit und Abwehrfähigkeit der Schweizer Wirtschaft für drei realistische Szenarien. Das Resilienz-Barometer zeigte, dass sich die Grundversorgung insgesamt erfreulich stabil hält, jedoch Schwachstellen bestehen. Im Gespräch erzählen Céline Neuenschwander und Ralph Wyss wo Engpässe bestehen, was die Pandemie auslöste und warum das Milizsystem die Achillesferse der Schweiz ist. Wie kann man das Konzept der Resilienz auf eine Volkswirtschaft anwenden? Céline Neuenschwander (CN): In unserer aktuellen Studie zur Resilienz der Schweizer Wirtschaft beschreiben wir Resilienz als die Fähigkeit der Volkswirtschaft, nachteilige Folgen von externen Schocks zu vermeiden oder sich davon zu erholen. Welche Stufen der Resilienz unterscheiden Sie? CN: Wir drücken in unserer Studie die Resilienz in Prozent aus, wobei 100 Prozent keine Einschränkungen und null Prozent einen kompletten Ausfall bedeuten. Bei 60 Prozent haben wir die Schwelle zur Grundversorgung angesetzt. Ralph Wyss (RW): Als Grundversorgung verstehen wir diejenige Stufe der Resilienz, auf der die unbedingt notwendigen Leistungen noch verfügbar sind. Der Komfort, den wir heute in vielen Bereichen geniessen, ist dann allerdings weg. Können Sie ein Beispiel geben für Einschränkungen oder einen kompletten Ausfall? CN: Nehmen wir den elektronischen Zahlungsverkehr: Wenn Sie beim Bäcker ihre Brötchen nicht mehr mit der Smartwatch bezahlen können, ist das eine leichte Einschränkung des elektronischen Zahlungsverkehrs. Darauf kann man sich einstellen. Ein kompletter Ausfall würde bedeuten, dass Sie nur noch mit Bargeld bezahlen können. Unterbrochene Lieferketten kennen wir inzwischen. Die Logistik an sich ist aber gemäss ihrer Studie die Achillesferse der Wirtschaft. RW: Die Logistik ist immer die Achillesferse, nicht nur in der Wirtschaft. Die schwache Resilienz der Logistik, die unsere Studie identifiziert hat, ist ein Symptom der hoch entwickelten Globalisierung und Digitalisierung. Die länderübergreifende Arbeitsteilung hat die Schweiz effizienter, aber auch verletzlicher gemacht. Noch während des Zweiten Weltkriegs konnte die Schweizer Wirtschaft weitgehend auf lokale Ressourcen zurückgreifen. Wir müssen in Zukunft wieder vermehrt prüfen, wo wir mehr Autonomie benötigen. Ihre Studie hat zudem aufgezeigt, dass wir auch nach der Covid-19-Pandemie noch viel Verbesserungspotenzial haben beim Bewältigen von Schocks. Haben wir unsere Hausaufgaben nicht gemacht? RW: Während der Pandemie haben wir die akuten Probleme behoben oder zumindest verringert. Insgesamt war das eine gute Leistung der Schweiz. Es ist aber doch erstaunlich, zu sehen, dass im Gesundheitssektor nach wie vor deutliche Schwächen bestehen, trotz den Lehren, die wir aus der Pandemie gezogen haben. Wir sollten wohl nicht nur Lehren aus der letzten Krise ziehen, sondern auch die nächste antizipieren. Dies erreicht man mit dem «Denken in Szenarien». Was meinen Sie mit dem «Szenarien-Denken»? RW: Es gibt Dutzende möglicher Ereignisse, die eine Krise auslösen können. Nehmen wir zum Beispiel den Gefährdungskatalog des Bundesamts für Bevölkerungsschutz mit aktuell 105 möglichen Gefährdungen. Als Volkswirtschaft können wir uns nicht auf alle diese möglichen Ereignisse gleichermassen gut vorbereiten. Wir müssen bestimmte Risiken in Kauf nehmen. Hinzu kommt, dass «ein Unglück selten allein kommt», wie der Volksmund sagt. Wie der Ukraine-Krieg mit der nachfolgenden Energiekrise zeigt, löst ein Ereignis oftmals eine Kette weiterer Ereignisse aus. Daher ist es für Unternehmen wichtig, in realistischen Szenarien, das heisst die Auslöser von Ereignissen vorauszudenken und sich darauf in der ganzen Breite und mit dem richtigen Risikoappetit vorzubereiten. Aus diesem Grund basiert unsere Analyse auf drei möglichen Szenarien. Man muss also nicht die nächste Krise vorhersehen? RW: Wenn man den Auslöser der nächsten Krise vorhersehen könnte, dürfte er eigentlich gar nicht mehr zur Krise führen. Auf tatsächlich Unvorhersehbares bereiten sich Unternehmen am besten vor, indem sie eine Vielzahl möglicher Szenarien entwickeln und sich auf sie vorbereiten. Wenn es dann zum Unvorhersehbaren kommt, ist man zwar immer noch überrascht, kann aber dank den vorhandenen Planungen deutlich besser und schneller reagieren. Eine weitere Achillesferse ist gemäss Ihrer Studie das Milizsystem. Bei allen Vorteilen – aber auch in Krisensituationen müssen die Mitglieder der Milizorgane doch wieder zurück in ihren Beruf. RW: Was unsere Studie wenig überraschend gezeigt hat, ist, dass die Resilienz der Milizorgane beschränkt ist. Die Organe der öffentlichen Hand müssen daher das Gleiche machen wie die Unternehmen: Eine Krise ist eine überraschende Veränderung einer zuvor als stabil angenommenen Situation, und auf diese Krise muss man sich einstellen. Nach Monaten der Pandemie handelt es sich nicht mehr um eine Krise, sondern um den neuen Normalzustand, auf den man sich zügig einstellen muss. Die öffentliche Hand darf nicht erwarten, dass Milizorgane monatelang eine Krise managen. Vielmehr können diese kurzfristig einspringen, um die akuten Probleme zu lösen und den Wechsel zum neuen Normalzustand zu unterstützen. Dies machen sie in der Regel gut. Mit anderen Worten: Wir haben kein Milizproblem, sondern die entsprechenden Organisationen müssen resilienter werden – neue Strukturen schaffen und mit der Situation klarkommen. So wie Unternehmen auch. Eine Empfehlung an die Unternehmen könnte sein, dass sie ihre Lieferketten diversifizieren sollten. CN: Dies ist ein mittel- bis langfristiger Trend, dieser Thematik müssen sich Unternehmerinnen, Unternehmer und die Volkswirtschaft widmen: Es kann nicht nur darum gehen, die Lieferketten auf kurzfristige Effizienz und Profitabilität zu trimmen, sondern man muss auch die Zukunft im Auge haben und eben resilienter werden. Das ist gutes Unternehmertum, das viele Schweizer Unternehmen auch praktizieren. Also langfristig denken? CN: Ja, aber nicht nur. Wenn Unternehmen nur langfristig denken, können sie kurzfristig in Konkurs gehen. Man muss Entscheidungen fällen und Risiken tragen. Daher ist das Denken und Üben in Szenarien so wichtig. RW: Bezüglich Denken in Szenarien haben wir in der Schweiz drei grosse Schwächen: Erstens dauern fast alle Krisenübungen nur wenige Stunden oder Tage statt mehrerer Wochen – da kann man sich meistens mit einer grossen Kanne Kaffee noch irgendwie durchwursteln. Zweitens gibt es Schwächen aufgrund des Föderalismus: Wer ist zuständig, wer ist im Lead? Auch das wird nur teilweise geübt, da schon die Einigung darauf, was wie geübt werden soll, zur Herausforderung werden kann. Und drittens sind wir relativ schwach bei gemeinsamen Übungen zwischen der öffentlichen Hand und kritischen Unternehmen. Auch da könnten wir im gemeinsamen Interesse deutlich mehr machen. Viele Schwächen und Probleme tauchen erst auf, wenn alle gemeinsam ein plausibles Szenario üben. Ein gutes Beispiel ist der überraschende Medikamentenmangel während der Pandemie. Im internationalen Vergleich steht die Schweiz aber nicht schlecht da. RW: Ja, schon, aber es nützt nichts, wenn wir im Vergleich die Besseren unter den Schlechteren sind. Als starke und politisch unabhängige Volkswirtschaft müssen wir unsere Hausaufgaben selber erledigen. Es wäre schön, wenn unsere Studie einen Beitrag dazu leisten könnte. Resilienz-Special Dieser Artikel ist Teil des Specials «Resilienz». Der Special beleuchtet verschiedene Facetten der Resilienz, von der psychologischen zur physologischen, von der wirtschaftlichen bis zur digitalen Resilienz. Die jeweiligen Artikel finden Sie alle hier

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