Ihr ehemaliger Verwaltungsratspräsident Hans-Rudolf Merz wird von italienischen Anwälten angeklagt. Bundesrat Merz war Präsident der Avona, welche im Zusammenhang mit Asbestfällen unter Beschuss geraten ist. Sind Sie froh, dass Herr Merz nicht mehr Präsident der Helvetia Patria ist?

Roland Geissmann: Nein, überhaupt nicht. Wir bedauern, dass Herr Merz uns verlassen hat. Wir verstehen aber, dass er die Chance, Bundesrat zu werden, wahrnehmen wollte.

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Wäre es nicht unangenehm gewesen, einen Präsidenten zu haben, der derart in der Kritik steht?

Geissmann: Nein. Im Haftpflichtrecht werden Personen oft vorsorglich ohne Schuldnachweise angeklagt. Ich kenne den Fall zwar nicht genau. Trotzdem glaube ich nicht, dass er uns als Präsident wegen dieser Klagen Nachteile beschert hätte. Seine Funktion als Präsident anderer Firmen hat ja nichts mit der Helvetia Patria zu tun.

Die Corporate Governance der Helvetia Patria gibt seit dem Rücktritt von Hans-Rudolf Merz zu reden. Ihr CEO Erich Walser hat zusätzlich die Funktion des Präsidenten übernommen. In der Vergangenheit gab es unzählige Beispiele, wo diese Doppelmandate den Firmen geschadet haben. Hat man bei der Helvetia Patria keine Angst diesbezüglich?

Geissmann: Nein. Erstens ist es deklariertermassen nur für eine temporäre Phase, wobei wir nicht festgelegt haben, wie lange diese dauern soll, und zweitens ...

C'est le provisoire qui dure ...

Geissmann: ... mais pas chez nous! Erich Walser verfügt bei den Investoren über enormes Vertrauen, und man kennt seine charakterlichen Stärken. Aber wir nehmen das Problem wegen der Checks and Balances ernst und haben weitere Massnahmen getroffen. Wir haben gewisse Ausschüsse neu gruppiert. Bei Entschädigungs- und Lohnfragen redet Erich Walser nicht mehr mit. Zudem haben wir dem CEO einen Lead Director zur Seite gestellt in der Person von Ueli Fors-ter. Der Lead Director ist Verbindungsglied zwischen Verwaltungsrat und Geschäftsleitung. Er stellt sicher, dass keine Informationen aus der Geschäftsleitung dem Verwaltungsrat vorenthalten werden. Ueli Forster erhält sämtliche Protokolle der Geschäftsleitung wie der Ausschüsse und entscheidet selber, an welchen Sitzungen er teilnimmt.

Hat Ueli Forster aber überhaupt Zeit, nebst seiner eigenen Firma und dem Präsidium der Economiesuisse sich seriös auch noch um die Helvetia Patria zu kümmern?

Geissmann: Wir haben ihn von seinen bisherigen Aufgaben in den Verwaltungsratsausschüssen weit gehend befreit, damit er diese neue Aufgabe übernehmen kann. In seiner eigenen Firma hat er sich entlastet, indem er nur noch das Präsidium inne hat, und nicht mehr operativ tätig ist. Aber wie gesagt: Wir stecken in einem Interregnum. Wenn dieses zu Ende ist, braucht es keinen Lead Director mehr.

Suchen Sie aktiv einen neuen Verwaltungsratspräsidenten?

Geissmann: Ziel ist es nicht, einen Präsidenten zu finden, sondern einen neuen CEO. Damit Erich Walser sich auf das Präsidium beschränken kann. Wir sind auf der Suche.

Bis wann wollen Sie soweit sein?

Geissmann: Das ist keine Sache von Wochen, aber auch nicht von Jahren. Im neuen Versicherungsaufsichtsgesetz ist zudem vorgesehen, dass Doppelmandate nur in Spezialsituationen möglich sind. Allenfalls müssen wir uns irgendwann beeilen. Doch im Moment fühlen wir uns nicht unter Druck, sondern wollen den Besten für diese Funktion suchen.

Was bedeutet es für denn Alltag eines Finanzchefs, wenn seine Firma börsenkotiert ist?

Geissmann: Zum Beispiel dass ich mit Ihnen zusammensitzen darf! Wären wir nicht börsenkotiert, wären wir für die «HandelsZeitung» weniger interessant. Die Aufgabenstellung wird vielfältiger, weil man mit der Öffentlichkeit reden muss. Vertrauen ist für die Finanzindustrie ein sehr wichtiges Gut. Börsenregeln vollziehen, mit Finanzanalysten reden, das ist alles sehr anspruchsvoll. Von grosser Bedeutung ist auch, dass wir die Führungsinformationen genau beobachten, um rechtzeitig zu entscheiden, ob eine Ad-hoc-Information nötig ist. Dann beschäftigen wir uns viel mit Transparenz und Corporate-Governance-Anliegen. Hier wollen wir «state of the art» sein.

Sind Sie es?

Geissmann: Davon bin ich überzeugt. Zumindest verglichen mit den Konkurrenten, die auch nach FER-Standards die Rechnung ablegen. Bezüglich Transparenz sind wir noch nicht so weit, dass wir die Spartenergebnisse bekannt geben. Das wird sich aber ändern, wenn wir auf IFRS umstellen.

Im Kollektivgeschäft werden Sie auch transparent?

Geissmann: In der 2. Säule sind wir vom Gesetzgeber ab April 2004 dazu verpflichtet, und selbstverständlich werden wir dieser Verpflichtung nachkommen. Ich bin überzeugt, dass eine vorbildliche Transparenz in Zukunft einen Wettbewerbsvorteil darstellen wird.

Der Helvetia Patria wird immer wieder angekreidet, dass der Free Float tief ist. Wann ändern Sie dies?

Geissmann: Der tiefe Free Float erklärt sich aus unserer Geschichte. Die Patria-Genossenschaft hat nach der Fusion zwischen der Helvetia und der Patria 39% der Aktien erhalten. Wir diskutieren oft, wie gross der Anteil der Genossenschaft sein soll. Nichts ist in Beton gegossen. Wir könnten beispielsweise mittels einer Kapitalerhöhung bewirken, dass der Anteil der Genossenschaft sinkt, indem sich die Genossenschaft nicht an der Erhöhung beteiligt. Ein Konsens besteht darin, dass die Genossenschaft die Sperrminorität von 33% nicht unterschreiten sollte.

Wieso braucht es diese Genossenschaft mit einer Sperrminorität noch?

Geissmann: Die Genossenschaft hat uns den Start als kotierte Firma überhaupt erst ermöglicht. Im Hype, der damals bei unserem Börsengang 1996 herrschte, wären unsere Aktien wie bei der Swiss Life in grösseren Taschen verschwunden. Das haben wir vermeiden können. Aber wir sind offen für Veränderungen.

Was tut die Genossenschaft denn überhaupt?

Geissmann: Früher wurde das Lebengeschäft darüber abgewickelt. Heute ist die Aufgabe der Genossenschaft darauf beschränkt, das Aktienpaket zu verwalten. Gemäss Statuten muss die Genossenschaft alles tun, um sicherzustellen, dass die Ziele der Helvetia Patria erreicht werden.

Könnte die Genossenschaft nicht zu viel Einfluss bekommen, wie zum Beispiel die Stiftung bei Kuoni in der Vergangenheit?

Geissmann: Nein. Wir haben darauf immer Wert gelegt. Die Vertreter der Genossenschaft haben mit nur drei Mandaten im Verwaltungsrat der Holding keine Mehrheit. Eine Einflussnahme gegen den Willen der anderen Aktionäre ist nicht möglich.

Auf die Versicherungswirtschaft kommen neue Regeln zu, die mit Solvency II umschrieben werden. Worum geht es?

Geissmann: Bei Solvency II handelt es sich um neue Solvenzvorschriften, wie es für die Banken Basel II darstellt. Für die Versicherungen in Europa ist noch nicht klar, wohin die Reise mit Solvency II geht. In der Schweiz macht man voran. Das Bundesamt für Privatversicherungen ist daran, den so genannten Swiss-Solvency-Test vorzubereiten. Die ersten Schritte könnten bereits auf Beginn 2005 eingeführt werden.

Was ist daran so neu?

Geissmann: Das BPV redet von Solvenz I und Solvenz II. Solvenz I ist der Solvenzausweis auf statutarischer Basis, eine obligationenrechtliche Betrachtung also. Die Solvenz II, und das ist jetzt das Neue und Spannende, geht in Richtung Fair-Value-Bewertung, sowohl auf Aktiv- wie Passivseite. Aktiven und Passiven werden risikoadjustiert betrachtet. Davon hängt ab, wie hoch das risikobasierte Minimalkapital sein muss. Dabei soll die Passivseite neu zu Barwerten bewertet werden.

Es gibt Studien, die voraussagen, Solvency II werde bei vielen Versicherungen zu Kapitalknappheit führen.

Geissmann: Das wird sicher der Fall sein. Schätzungen von Mercer Oliver Wyman gehen davon aus, dass der europäischen Lebensversicherungsindustrie bei der Einführung von Solvency II rund 100 Mrd Euro fehlen würden. Allerdings: Wer zu wenig Kapital hat, kann auch die Risiken minimieren. Wir können am Kapital oder an den Risiken schrauben. Denn inskünftig werden alle Risiken als Ganzes betrachtet und dem Zielkapital gegenübergestellt. Als erstes würde man Geschäfte aufgeben, wo vor allem Risiko getragen und wenig verdient wird. Zum Beispiel eben das Geschäft mit der beruflichen Vorsorge.

Reicht das Kapital bei Ihnen unter den neuen Bedingungen?

Geissmann: Es ist zu früh, um das zu beurteilen. Letztlich aber hängt es sowohl von der Risikowilligkeit wie auch -fähigkeit ab. Das ist eine wichtige strategische Entscheidung des Verwaltungsrates.

Die Helvetia Patria verfügt über genehmigtes Kapital. Ist es absehbar, dass Sie diese Kapitalerhöhung bald vornehmen?

Geissmann: Das genehmigte Kapital ist nur zwei Jahre lang gültig. Wir haben dieses im letzten Jahr an der Generalversammlung aus drei Gründen beantragt: Erstens für eventuelle Akquisitionen: Wir haben damit gerechnet, dass die Werteinbussen in der Branche zu Veränderungen führen, von denen wir profitieren könnten. Zweitens wollten wir Kapital zur Verfügung haben, um Wachstum zu finanzieren, und drittens für den Worst Case, wenn die Börsen noch weiter eingebrochen wären.

In den Medien findet eine teilweise hitzige Debatte statt über die Löhne von Vasella und Co. Finden Sie solch hohe Löhne in Ordnung?

Geissmann: Ich kann und will mich nicht über die Löhne anderer Gesellschaften äussern. Wir haben bei der Helvetia Patria keine exzessiven Saläre. Als Faustregel meinen wir, dass die höchsten Löhne in der Firma nicht mehr als 10 bis 15 Mal mehr als die tiefsten betragen sollten. Dass eine besondere Verantwortung oder Leistung besser entlöhnt sein soll, ist aber sicher richtig. Die Frage ist nur, wo die absolute Höhe liegt.

Legen Sie die Löhne offen?

Geissmann: Ja, als Gesamtsumme sowie das Salär des Verwaltungsratspräsidenten und CEO einzeln.

Sollten die Aktionäre Ihrer Meinung nach Einfluss auf die Löhne des Managements nehmen können, um Exzesse zu verhindern?

Geissmann: Darüber machen wir uns keine Gedanken, weil wir keine exzessiven Löhne haben. Ich finde es aber falsch, wenn Aktionäre ins operative Geschäft eingreifen. Eine Generalversammlung ist ein Kontrollorgan, welches die operative Entscheidungsgewalt dem Verwaltungsrat und Management überlassen sollte.

Sie sind seit 20 Jahren bei der Helvetia Patria, seit 1988 Finanzchef. Die letzten Jahre waren aufgrund der Kapitalmarktlage schwierig. Was bringt die Zukunft für Ihre Branche?

Geissmann: Die Industrie hat sich seit dem 11. September 2001 gut erholt. Das muss man anerkennen. Es hat keine dramatischen Konkurse gegeben, wie man das aufgrund der riesigen Kapitalvernichtung hätte erwarten können. Am Anfang hatte man Angst, ein Dominoeffekt könnte das ganze Finanzsystem gefährden. Diese Gefahr hat sich glücklicherweise nicht bewahrheitet. Im Sachgeschäft konnten wir von der Situation sogar profitieren, indem höhere Prämien verlangt werden konnten. Im Lebengeschäft allerdings machen uns die tiefen Zinsen je länger je mehr zu schaffen.



Profil: Steckbrief

Name: Roland Geissmann

Funktion: CFO Helvetia Patria

Alter: 56

Familie: Verheiratet

Ausbildung: Betriebsökonom/Wirtschaftsprüfer