So entwickelt Firmenich Düfte, die die Massen begeistern sollen

Kittel, Sicherheitsschuhe, Schutzbrille und Helm sind Pflicht, elektronische Geräte nur mit Sondergenehmigung erlaubt. Alles, was Funken schlägt, ist verboten auf dem Gelände des Duft- und Aromenherstellers Firmenich in La Plaine GE. Kubikmetergrosse Container stapeln sich, gefüllt mit entflammbaren Chemikalien. Hier gilt die höchste Sicherheitsstufe. Die Wege sind klar abgesteckt, die Vorkehrungen streng. Zwischenfälle gab es in über fünfzig Jahren nicht. Die «Handelszeitung» trifft Forschungschefin Sarah Reisinger, die erstmals in der Firmengeschichte durch das Werkgelände und die neue Biotech-Anlage am westlichsten Zipfel der Schweiz in La Plaine führt. Hier dürfen sonst keine Besucherinnen und Besucher rein. Grundstoffe fürs Parfums und Lebensmittelaromen Dabei erklärt sie, was Riechen und Schmecken mit Biotechnologie zu tun haben, dem neuen Steckenpferd des Konzerns. Handys und Kameras sind aus, ein letzter Check. Sicher ist sicher. Die gelagerten Flüssigkeiten auf dem Areal sind Grundstoffe für Parfums und Aromen industrieller Lebensmittel. Firmenich gehört mit einem Umsatz von 3,9 Milliarden Franken zu den weltweit grössten Lieferanten, die zusammen knapp 50 Prozent des Aromen- und Duftstoffweltmarktes von umgerechnet 39 Milliarden Franken halten – hinter der ebenfalls schweizerischen Givaudan und dem US-Hersteller IFF. Ohne diese drei und Symrise, den viertgrösste Player, gäbe es Parfums von Paco Rabanne und Calvin Klein so wenig wie Tiefkühlpizza und Erdbeerjoghurt. Von der Konkurrenz hebt sich Firmenich bei Forschungsaufwand und Firmenstruktur ab: Bis Ende Jahr will Konzernchef Gilbert Ghostine mit Reisinger die Forschungseinrichtungen vom Standort La Jonction GE in die Forschungszentren in Satigny GE und La Plaine übersiedeln. Eine grössere Operation, welche 2017 begann und das grösste Investment der Firmengeschichte darstellt. Die menschliche Nase ist unersetzlich Das Unternehmen leistet sich Hunderte Ingenieure, Biologinnen, Chemiker, Kreateure – und jetzt auch einen Bioreaktor. Das schlägt sich in der Forschungsquote nieder: Diese lag vergangenes Geschäftsjahr bei 10 Prozent. Das ist mehr als die 8,5 Prozent von Givaudan und mehr als die 6,8 Prozent von IFF. Die Konkurrenz muss im Gegensatz zu einem Betrieb im Familienbesitz wie Firmenich von Quartal zu Quartal den Investoren Rede und Antwort stehen über Umsatz, Gewinn und Forschungsausgaben. «Wir können Grundlagenforschung in einem Ausmass betreiben, wie es unsere aktienkursgetriebene Mitbewerber oftmals nicht können», sagt Reisinger. So wie in der neuen Biotech-Anlage in einem aufgerüsteten Altbau auf dem Konzerngelände von La Plaine. Nach der Eröffnung dieser Anlage stützt sich Firmenichs Forschung und Produktion von Aromen und Duftstoffen nun auf drei Säulen: «Grüne Chemie, Naturprodukte – und Biotechnologie», erklärt Reisinger. Im Biotech-Labor türmen sich hinter Vitrinen aus Sicherheitsglas Pipetten, Reagenzgläser und ein Schlauchwirrwarr wie in einem Automotor. Hier wird Abfall aus der Natur analysiert, zersetzt und neu kombiniert. Mit einem Gas-Chromatografen durchleuchten Wissenschafterinnen und Kreateure die DNS der Aromen und Düfte aus Biomasse. Das letzte Urteil fällt die Nase Hier werden Teststoffe mithilfe von Maschinen und Algorithmen kreiert. Firmenich kennt die Moleküle der Düfte und Aromen. Das letzte Urteil über Geruch und Geschmack fällt aber immer noch ein Mensch. «Unsere Geschmacksspezialisten und Parfümeure bringen ihren kreativen Touch ein, der durch kein System ersetzt werden kann.» Reisinger nimmt aus einem drei Meter hohen Industriekühlschrank eine tiefgefrorene Ananas zur Veranschaulichung heraus. Das sei Biomasse für die Forschung, die in begehbaren Kühltruhen lagert, woraus verschiedene Geschmacksrichtungen entstehen, die nicht unbedingt etwas mit dem Ausgangsmaterial zu tun haben müssen. Das Ananasaroma kann extrahiert oder zu Erdbeere oder Wassermelone verarbeitet werden. Einen Laborraum weiter riecht es nach Vanille. In der Mitte steht ein zylinderförmiges Metallfass, der Fermenter. Das ist der Bioreaktor, der ähnlich funktioniert wie das Verfahren in der Bierherstellung. Hier werden Naturstoffe verwendet, fermentiert, Bakterien und Hefen gezüchtet – und das über mehrere Tage hinweg. Bei der Purifikation wird die Essenz des Stoffs herausgefiltert. Profi-Nasen schnüffeln hier erstmals an den Substanzen, die den Bauplan für zukünftige Düfte und Aromen erstellen. Extraktionen in der «Küche» Der Geruch von Nagellackentferner zieht auf. Reisinger kneift bei dem beissenden Geruch die Augen zusammen. Dieser steigt aus einem überdimensionalen Bauchglas auf, in das Extrakt von Holzschnitzeln tropft. Die Schnitzel kommen aus einer Häckselmaschine, die pro Tag eine Tonne Wurzelwerk zermahlt. Neben der Häckselmaschine steht der meterhohe Dekantierer, eine Glasflasche mit einem Öl-Wasser-Gemisch. Die zweite Extraktionsvorrichtung in dem Labor, das Reisinger als «Küche» bezeichnet, ist eine Filterpresse, wie sie auch in der Weinverarbeitung zum Einsatz kommt. Alle Maschinen hier dienen dazu, aus Naturstoffen wie etwa Ananas und Holz Öle und Moleküle zu isolieren. Zum Beispiel für das Erdbeeraroma im Tortenguss oder den Sandelholzduft im Parfum. Die Substrate gelangen von dort in eine Zentrifuge, einen in den Boden eingelassenen Kessel mit Rotorblättern. Das ist das technologische Kernstück der Biotech-Fabrik – eine digitale Mischanlage, in der jeder Schritt, jedes Molekül, jede Komposition und jedes Destillat vollautomatisch und an fünf Tagen die Woche rund um die Uhr überwacht, gemischt und per Zentrifuge zu einem Destillat abgesondert wird. Letzte Station ist die Destillierstube. Hier geht es nur noch um die Flüssigkeiten aus dem Bioreaktor, also um die Endprodukte. Wissenschafter jonglieren auf dem Computer mit Zahlenwerten, welche die «Spürnasen» von Firmenich in jene Substanzen übersetzen, die beim Tasting Dreamwood oder Strawberry heissen. Hierin steckt für Reisinger die wahre Magie. Aus Fäkalgeruch wird Moschus Das eigentümlichste Beispiel für solche Magie ist der Naturstoff Ambra. Dabei handelt es sich um eine Substanz, die aus dem Verdauungstrakt von Pottwalen gewonnen wird. «Was anfangs einen starken Fäkalgeruch hat, wird zu wunderbarem Moschus, der in feinen Düften verwendet wird und mehr wert ist als Gold.» Firmenichs Wissenschafter arbeiteten an einem Ersatzstoff, um die Wale zu schonen. Mithilfe von Biotechnologie haben sie einen Duft geschaffen, der dem von Ambra nahekommt. Firmenich nennt ihn Ambrox Super. Der Stoff wurde zum Bestseller. So manches Luxusparfum wird heute mit dem Wal-ähnlichen Duftstoff aufgepeppt. Firmenichs Spezialität ist es, die Biologie des Geruchs und die menschlichen Reaktionen auf Düfte miteinander in Einklang zu bringen: «Durch einen multidisziplinären Ansatz, der Neurowissenschaften, Physiologie, Psychologie und sensorische Analyse einschliesst.» So wird, was zuerst übel riecht, zum nächsten Renner in der Kosmetikwelt. «Wie Düfte Erinnerungen und Emotionen beeinflussen, hat Auswirkungen auf die Art und Weise, wie wir unsere Kreationen im Bioreaktor gestalten», sagt Reisinger. Dieser Artikel erschien erstmals am 8. November 2020