In Windeseile ist China zum globalen Powerhouse des E-Commerce aufgestiegen. Warum ist das so? Wie funktionieren Super-Apps und Online-Gruppeneinkauf, Livestreams und Social Commerce?

Winter Nie kennt China und die Schweiz. Die Professorin für Leadership und Change Management an der Lausanner Business School IMD ist Mitautorin des Buches «The Future of Global Retail: Learning from Chinas's Retail Revolution», das 2021 erschienen ist. 

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Im Interview erklärt Winter Nie die Mechanismen des chinesischen E-Commerce – und hat einen Tipp, wie Schweizer Käse nach chinesischem Muster hierzulande Online-Karriere machen könnte. 

Früher blickten die Schweizer Einzelhändler auf die USA, wenn es um Online-Entwicklungen ging. Heute gibt China die Trends im E-Commerce vor. Warum ist das so?
Ich sehe vier Hauptgründe. Erstens wurde die digitale Infrastruktur sehr schnell aufgebaut; chinesische Konsumenten sind es gewohnt, alle Einkäufe per Smartphone zu erledigen. Schnelle Liefersysteme sind effizient und vertrauenswürdig. China wird als die Fabrik der Welt bezeichnet und verfügt über eine gut etablierte Lieferkette für viele Produktkategorien.  Und viertens ermöglichen es die weit verbreiteten Super-Apps wie Tiktok und PDD den Verbrauchern, alle Transaktionen – einschliesslich der Bezahlung – innerhalb einer einzigen App zu erledigen.  

«Chinesische Städter mögen das Gefühl, etwas Reales auf dem Feld zu sehen – es ist fast so gut wie das Selbstpflücken der eigenen Früchte.»

Alle Besorgungen per Super-App erledigen - gilt das wirklich für alle 1,4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohner Chinas, bis in den letzten Winkel des Riesenreichs?  
Besonders weit verbreitet ist dieser Ansatz in den sogenannten «1st-Tier-Städten» mit einem BIP über 300 Milliarden US-Dollar und «2nd-Tier-Städten» mit einem BIP von 68 bis 299 Milliarden US-Dollar. Gegenwärtig haben viele Anbieter zunehmend auch ländliche Gebiete auf ihrem Radar.  

Oft hört man von der extremen Kundenorientierung der chinesischen Händler. Wie sieht das im Detail aus?
Die Definition des neuen Einzelhandels ist die Verschmelzung von Online- und Offline-Handel mit logistischer Unterstützung.  Nehmen Sie ein Beispiel für frischen Hummer, Fisch oder Steak: Sie bestellen das Produkt zunächst über Ihre mobile App. Sie können angeben, ob Sie den Fisch in Ihre Wohnung geliefert bekommen möchten oder ob Sie ihn im Laden abholen wollen. Bei der Abholung in der Filiale wählen Sie, ob der Fisch nach Ihren Wünschen zubereitet werden soll oder ob Sie ihn mit nach Hause nehmen und selbst zubereiten möchten. Wenn Sie sich für die Option entscheiden, dass der Fisch für Sie zubereitet wird, können Sie ihn sofort im Geschäft essen oder den gekochten Fisch mit nach Hause nehmen.  

Winter Nie, Professorin IMD Lausanne

Winter Nie, Professorin IMD Lausanne: «Käseproduzenten könnten ihre Produkte per Livestream bekannt machen und bewerben.»

Quelle: Bild: pd

Sehr verbreitet in China sind die so genannten Livestreams, also Einkaufsveranstaltungen, die online stattfinden. Wie funktioniert das?  
Es gibt vier verschiedene Arten von Livestreamern: CEOs, Prominente (Filmstars, Sänger), professionelle Livestreamer und Regierungsbeamte. Zum Beispiel ist es üblich, dass ländliche Obst- und Gemüseproduzenten oder Dorfvorsteher ihre aktuelle Ernte live online der Öffentlichkeit präsentieren. Sie sehen das Feld, die örtlichen Bauern bei der Ernte, die Fässer mit den Früchten auf dem Feld und so weiter in Echtzeit auf dem Bildschirm. Chinesische Konsumenten in den Städten mögen das Gefühl, etwas Reales auf dem Feld zu sehen – es ist fast so gut wie das Selbstpflücken der eigenen Früchte. Wenn die Verbraucher direkt bei den Bauern bestellen, erhalten sie bessere Preise.  

In der Schweiz würde man solche Livestreams wohl eher als langweilige Dauerwerbesendungen einstufen.  
In China ist das anders. Die Top-Ten-Influencer geniessen ein hohes Vertrauen. Sie sind stolz darauf, die richtigen Waren auszuwählen und im Namen ihres Fanclubs zu verhandeln.  Die Fan-Loyalität ist zu einem grossen Teil mit dem Wert verbunden, den Live-Streamer einbringen können.      

Von welchen chinesischen Trends können Schweizer Einzelhändler, Marken und Produzenten lernen?  
Ein neuer Einzelhandelstrend in China ist der sogenannte soziale E-Commerce. Zum Beispiel über die App Pinduoduo (PDD), wo sich Freunde oder Konsumenten virtuell zu einer Einkaufsgemeinschaft zusammenschliessen und so bessere Preise erzielen. Wenn die Schweizer weniger preissensibel sind und mehr auf die Produktqualität achten, sehe ich im Livestreaming mehr Potenzial als im Social Commerce. Livestreaming hat das Potenzial, Produkte besser zu präsentieren – in Echtzeit, in echter Umgebung, mit 3D-Effekt. Kosmetika sind die Produktkategorie, die sich im Livestreaming sehr gut verkauft.  

Was würde in der Schweiz funktionieren?  
Nehmen wir die Vielfalt der Produzenten und die weit verbreitete lokale Kultur des Schweizer Käses. Nach chinesischem Vorbild könnten die Käseproduzenten ihre Produkte und Spezialitäten per Livestream bekannt machen und bewerben. Und so neue Kunden erreichen, die den lokalen Käse vielleicht noch nicht kennen oder die Besonderheiten dieses einzigartigen Käses nicht verstehen und nach dem Anschauen des Livestream begeistert sind, ihn zu probieren.    

Was vermissen Sie als Konsumentin in der Schweiz am meisten an den chinesischen Digital-Trends? 
Zum einen natürlich die tollen Apps. In China ist es üblich, mit ein und derselben App Restaurantkritiken zu lesen, einen Tisch in einem Restaurant zu reservieren, das Essen zu bezahlen und dann eine Kinokarte zu buchen. Alles in ein und derselben App. In der Schweiz ist dieser Prozess viel komplizierter. Zweitens die Bequemlichkeit, alles – ich meine alles – online zu finden.  

Wie kaufen Sie in der Schweiz ein? Auf die chinesische Art, alles online?  
Überhaupt nicht. Ich esse viel auswärts.  Wenn es um Lebensmittel geht, gehe ich oft in die Migros, weil sie in der Nähe meines Wohnortes liegt.  Es ist toll, dass ich mit Twint bezahlen kann.  

«Schweiz und Europa im Banne Chinas»

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Andreas Güntert
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