Wie Russland eine Nahrungsmittelkrise für die armen Länder verursacht

Die Nahrungsmittelkrise spitzt sich zu. Der Tschad hat dieser Tage den Ernährungsnotstand ausgerufen. Der Staat im Herzen Afrikas gehört zu den Ländern der Sahelzone, die besonders hart unter knapper werdenden Nahrungsmitteln und steigenden Preisen leiden. Doch auch im Bürgerkriegsland Jemen, im Libanon, in Syrien und Afghanistan und in Ägypten ist die Situation dramatisch. Grundnahrungsmittel wie Weizen, aber auch Öle sind knapp geworden seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine. Die beiden Länder stellen 10 bis 12 Prozent der weltweit gehandelten Kalorien. In der Ukraine liegt die landwirtschaftliche Produktion wegen des Krieges vielerorts dar nieder. Zudem blockiert Russland die Ausfuhr aus der Ukraine von Weizen aus der Ukraine, vor allem über Odessa. Man geht davon, dass zur Zeit 20 Millionen Tonnen Weizen in ukrainischen Häfen am Schwarzen Meer blockiert sind. Dominik Ziller vom Internationalen Fonds für landwirtschaftliche Entwicklung, warnte im deutschen Fernsehen vor einer «Kernschmelze der Nahrungsmittelsysteme». Die Effekte von eingeschränkten Exporten und Horten würden sich so addieren, dass sich viele Staaten Nahrungsmittel einfach nicht mehr leisten könnten. «Wir müssen uns darauf gefasst machen, dass viele Menschen verhungern werden». David Beasley, Exekutivdirektor des Uno-Welternährungsprogramms, befürchtet Hungersnöte «biblischen Ausmasses.» Umso wichtiger wäre, dass die zur Verfügung stehenden Nahrungsmittel möglichst frei gehandelt werden und dass die Länder darauf verzichten, Nahrungsmittel zu horten. 72 Exportbeschränkungen seit Beginn des Krieges Doch die Realität ist eine andere. Immer mehr Länder greifen zum Mittel der Exportbeschränkungen, um die Versorgung ihrer Bevölkerungen zu schützen. 72 wurden seit Beginn der Invasion in Kraft gesetzt, von 27 Ländern. Die Beschränkungen, die auf die vom Westen und von Japan verfügten Sanktionen zurückzuführen sind, sind dabei nicht mit eingerechnet. Das ergibt die monatliche Auswertung von Simon Evenett, Professor für internationalen Handel und Wirtschaftsentwicklung der Universität St. Gallen und Autor des Global Trade Alert (GTA). Damit sind aktuell 147 Restriktionen in Kraft. Den GTA gibt es seit 2018; er erfasst systematisch und weltweit staatliche Handelsbeschränkungen und informiert auch monatlich darüber. Eine gefährliche Situation Die Situation ist heikel. Je mehr Länder die Schotten dicht machen, desto mehr kommen die Länder unter Druck, die im Moment noch an liberalen Handelspraktiken festhalten. «Es besteht die Gefahr, dass es zu einem Dominoeffekt kommt», sagt Evenett. Mit Abstand am meisten Exportbeschränkungen hat Russland. Der Aggressor beschränkt die Ausfuhr von Nahrungsmitteln und Düngemittel mit nicht weniger als dreissig Massnahmen. Das Instrumentarium reicht von Zöllen über Quoten bis zu Verboten, limitiert wird die Ausfuhr von Sonnenblumenöl, Weizen, Düngemitteln und anderem. Auch die Türkei macht fleissig mit Auf Platz zwei ist die Türkei. Vonseiten der Türkei sind aktuell neun Exportbeschränkungen in Kraft, die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan hält die Hand unter anderem auf Sonnenblumenöl und andere pflanzliche Fette und Öle, aber auch Bohnen, Linsen und Olivenöl. Ein schwerer Schlag für den freien Handel war die Entscheidung Indiens, den Export von Weizen zu verbieten. Indien ist ein bedeutender Exporteur von Nahrungsmitteln. Eigentlich wollte die Regierung von Narendra Modi den Export von Weizen erhöhen, doch dann machte ihr die Jahrhunderthitze einen Strich durch die Rechnung und sie zog die Notbremse. Das, was auf den ausgetrockneten Ländern des Subkontinents wächst, soll der einheimischen Bevölkerung zugutekommen. Das Kalkül geht nicht immer auf Kalkül der Exportbeschränkungen ist es, die Versorgung der Bevölkerung zu sichern und soziale Unruhen zu vermeiden. Dass das nicht immer aufgeht, zeigt das Beispiel Indonesiens, des wichtigsten Exporteurs von Palmöl. Die Regierung verbot die Ausfuhr von Palmöl, worauf Millionen Bauern auf die Strasse gingen, weil sie um ihre Lebensgrundlage fürchteten. Drei Wochen später musste die Regierung die Massnahme wieder rückgängig machen. Auffällig sei die Spannbreite der Dauer der Massnahmen, sagt Simon Evenett. Sie reicht von 4 bis zu 450 Tagen. Im Mittel sind die Massnahmen 90 Tage in Kraft. Vor allem die russischen Exportbeschränkungen seien oft nur eine oder zwei Wochen in Kraft, die Steuern auf den Exporten etwa änderten sich fast jede Woche, sagt der St. Galler Professor. Die gute Nachricht ist: Viele Länder, darunter die Schweiz, haben unter dem Eindruck des Ukraine-Kriegs den Import von Lebensmitteln liberalisiert. Europa ist bis jetzt immun Noch findet sich das Gros der Exportbeschränkungen auf dem Gebiet rund ums Krisengebiet, im Mittleren Osten und in einigen afrikanischen Ländern. Doch die Spillover-Effekte nehmen zu. Inzwischen drehen auch Länder wie Grossbritannien, Kanada und die USA an der Schraube. Immerhin: Die europäischen Länder zeigen sich bis jetzt immun. Trotzdem gibt es Faktoren, welche die aktuelle Krise gefährlicher machen als frühere. Bei früheren Krisen gab es im Prinzip genügend Nahrungsmittel. Es ging also darum, Länder davon abzuhalten, Nahrungsmittel zu horten, die dann anderswo fehlten. Diesmal aber gibt es eine reale Knappheit. In den vergangenen Krisen sei es gelungen, die Regierungen von Exportbeschränkungen abzubringen, indem man sie darauf verwiesen habe, dass genügend Nahrungsmittel zur Verfügung stünden, sagt Simon Evenett. Das sei diesmal schwieriger. «Transparenz allein wird uns also nicht helfen, das Problem in den Griff zu bekommen.» Wie beim Hamstern im Supermarkt Klar ist: Mit den Exportbeschränkungen ist es wie beim Hamstern. Je mehr Leute es tun, desto knapper werden die Güter und desto höher steigen die Preise. Und klar ist auch: Reiche Länder wie die Schweiz werden sich diesen Wettlauf noch lange leisten können. Für die armen Länder Afrikas aber kann diese Krise zur Katastrophe werden, wenn andere die knappen Nahrungsmittel horten. Inzwischen verhandelt die Türkei und Russland über Wege, einen Korridor für die Ausfuhren aus der Ukraine frei zu machen. Doch die Hoffnungen bleiben gedämpft. Für den russischen Präsidenten Vladimir Putin ist der Hunger längst zur Waffe geworden. Dieser Tage hat er einmal mehr die Freigabe der in der Ukraine blockierten Getreideexporte davon abhängig gemacht, dass der Westen seine Sanktionen oder die «politisch motivierten Beschränkungen», wie er sie nennt, aufhebt. Die sich verschärfende Nahrungsmittelknappheit gehört zum zynischen Kalkül des russischen Präsidenten. Je mehr Menschen zu wenig zu essen haben, je stärker die Preise steigen, desto grösser die Gefahr von sozialer Unrast und desto grösser die Chance, dass die westlichen Regierungen unter Druck kommen und die antirussische Front ins Bröckeln gerät. Für die Ärmsten sind das verheerende Aussichten.

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Nahrungsmittelkrise: Angst vor der Kernschmelze