Ecken Sie mit Ihrem österreichischen Akzent eigentlich manchmal an?
Severin Schwan: Nein, es ist ein Vorteil, es baut Hürden ab.

Welche Hürden?
Schwan: Die Schweizer haben wie die Österreicher Hemmungen, sich an Gesprächen zu beteiligen, wenn Kollegen und vor allem die Chefs geschliffen Hochdeutsch sprechen. Das habe ich immer wieder erlebt. Wenn jemand zu perfekt ist, dann wird er unnahbar.

Machen Sie deshalb manchmal absichtlich keinen perfekten Eindruck?
Schwan: Nein. Da muss ich leider nicht noch absichtlich nachhelfen.

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Bei Roche endet eine Ära. Der Aktionärspool der Familie Hoffmann-Oeri ist aufgebrochen und hält nicht mehr über 50 Prozent der Stimmen. Beunruhigt?
Schwan: Nein. Sowohl der Familienpool wie auch Maja Oeri halten ausdrücklich an der Unabhängigkeit von Roche und dem Konzernsitz in Basel fest. Das ist uns versichert worden. Für uns als Unternehmen ändert sich nichts.

Hier und heute ja. Aber was, wenn in ein paar Jahren noch weitere Familienmitglieder ausscheren?
Schwan: Das ist reine Spekulation. Der Familienpool behält seine Rolle als stärkster Aktionär von Roche. Ausserdem hat der Pool neu eine gemeinnützige Stiftung aufgenommen. Die kinderlosen Mitglieder des Pools sehen vor, ihre Beteiligung an Roche nach ihrem Ableben dieser Stiftung zu übertragen. Damit erhält der Pool eine zusätzliche Langfrist-Dimension.

Planen Sie nun Abwehrszenarien? Novartis hält ja bereits 33 Prozent und suchte in der Vergangenheit die Fusion.
Schwan: Nein. Dazu besteht kein Anlass.

Wem würde ein Zusammengehen mit Novartis nützen?
Schwan: Diese Frage stellt sich nicht.

Für die Roche-Führung war es bislang einfach. Dank der Familie im Rücken musste man an Generalversammlungen nie ernsthaften Widerstand fürchten.
Schwan: Die Stabilität im Aktionariat ist ein echter Wettbewerbsvorteil – gerade vor dem Hintergrund der Finanzkrise und der zunehmenden Volatiliät der Märkte. Das gilt insbesondere für unsere Branche, wo die Produktzyklen sehr langfristig sind und man deshalb auch langfristig denken und handeln muss.

Was hat Ihnen übers Wochenende mehr Sorgen bereitet: Der Familien-Pool oder das Desaster in Japan in Bezug auf Roche?
Schwan: Die Katastrophe in Japan ist schlimm und macht mich persönlich sehr betroffen.

Wie steht es um Roche in Japan?
Schwan: Alle unsere Mitarbeiter sind unversehrt und sicher. Das ist das Wichtigste.

Sollen Ihre Mitarbeitenden das Land wegen dem Atom-Desaster verlassen?
Schwan: Wir nehmen zum jetzigen Zeitpunkt keine Evakuierungen vor. Wenn Mitarbeiter das Land verlassen wollen, dann unterstützen wir sie.

Welche Auswirkungen hatte die Katastrophe auf Ihre Forschungszentren und Produktionsstätten?
Schwan: Einzelne Fabriken sind betroffen, allerdings entstanden an den Gebäuden keine grosse Zerstörungen. In den Labors hat es natürlich auch geschüttelt. Im Moment ist es noch schwierig, das genaue Ausmass der Schäden zu beziffern.

n Japan gibt es seither zu wenig Strom.
Schwan: Das betrifft uns auch. Wenn es noch Monate dauern sollte, wäre das problematisch.

Die Infrastruktur in Japan ist getroffen, Lieferketten sind teilweise unterbrochen. Wie wirkt sich das auf das Geschäft aus?
Schwan: Bis jetzt haben die Spitäler noch genügend Vorräte von unseren Medikamenten. Aber alles hängt davon ab, wie schnell der Wiederaufbau in Japan gelingt. Für die Gruppe insgesamt rechnen wir derzeit allerdings nicht mit signifikanten materiellen Schäden.

Ändern Sie Ihren Ausblick auf das ganze Jahr wegen der Katastrophe in Japan und den Wirren in der arabischen Welt?
Schwan: Nein. Bisher gibt es keinen Grund, den Ausblick für das Geschäftsjahr zu ändern.

In Krisen reden Manager inflationär von Verantwortung. Wie sieht es mit der Verantwortung bei Ihnen aus?
Schwan: Die Tragweite von Entscheidungen, die ich treffen muss, ist gross. Zum Beispiel, ob wir ein Medikament in die späte Entwicklung bringen wollen oder nicht. Damit sind immer Risiken und hohe dreistellige Millionensummen verbunden. Es hat auch Auswirkungen auf Patienten. Wenn Sie das durchdenken, dann spüren Sie schon die Verantwortung.

Aber am Ende heisst Verantwortung doch nichts anderes, als dass der Kopf bei Misserfolg rollen muss.
Schwan: Nein. Gerade in unserem Geschäft ist man im Nachhinein immer gescheiter. 90 Prozent der Medikamenten-Projekte schaffen es nicht zur Marktreife. Wenn die Leute nicht den Mut haben, Entscheidungen zu treffen, weil es schief gehen könnte, dann schaffen sie keine Innovationen. Das ist auch eine Kulturfrage.

Wie nehmen Sie den Leuten die Angst vor dem Scheitern?
Schwan: Ich sage manchmal: Wir müssen die Fehler feiern. Natürlich nicht die gleichen mehrmals.

So wird Verantwortung doch zur Floskel.
Schwan: Nein. Wir brauchen Leute, die die Verantwortung tragen und auch spüren. Aber wenn Sie Fehler verbieten, dann passiert das Gegenteil. Dann enden Sie mit einem Haufen ängstlicher Bürokraten, die keine Entscheidungen mehr treffen. Verantwortungsgefühl wächst mit dem Vertrauen, das Sie Ihren Leuten geben.

Wie laufen Entscheide bei Ihnen ab?
Schwan: In schwierigen Fällen muss man sicher sein, dass man die notwendigen Leute miteinbezogen und alle wichtigen Fragen gestellt hat. Ich arbeite im Team. Man trifft bessere Entscheidungen, wenn alle Meinungen offen auf dem Tisch liegen. Wenn man dann voll und ganz hinter seinen Entscheidungen stehen kann, ist das befreiend, und sie können auch besser mit dem Druck umgehen.

Haben Sie als Kind jede Mutprobe bestanden?
Schwan: Nicht jede. Man darf nicht unvernünftig sein und unkalkulierbare Risiken eingehen.

Wie spüren Sie die Last der Verantwortung?
Schwan: Ich bin mir meiner Verantwortung sehr bewusst, aber es ist keine Last. Sonst könnte ich meinen Job nicht machen. Wenn Sie die Verantwortung wahrnehmen, und es entwickelt sich etwas gut, dann ist das unheimlich befriedigend. So etwas baut Energie auf. Das können nicht nur Geschäftsentscheide im engeren Sinne sein, sondern auch Personalentscheide.

Personalentscheide?
Schwan: Es gibt Situationen, in denen ich eigentlich jemanden ganz anderes für eine Stelle nehmen müsste, zum Beispiel jemanden mit ausgewiesener Erfahrung. Aber dann wagen Sie einmal etwas und nehmen jemanden, der auf den ersten Blick nicht geeignet ist, und alle sagen, jetzt spinnt er. Da ist ein gewisser Druck. Aber die Befriedigung ist dann umso grösser, wenn es klappt und sich solche Leute in der Organisation gut entwickeln und etwas bewegen.

Sie selber waren ja auch eine Wundertüte, bevor Sie Chef von Roche wurden.
Schwan: Ich hatte immer das Glück, dass ich Vorgesetzte hatte, die mit mir ein Risiko eingingen. Als ich mit 27 Jahren Finanzchef in Roche Belgien wurde , meine Güte, mein Lebenslauf war so leer wie ein weisses Blatt Papier. Damals haben sie gesagt, jetzt riskieren wir das mal mit dem Schwan.

Und das praktizieren Sie jetzt also selber?
Schwan: Man ist ja bis zu einem gewissen Grad auch Opfer seiner eigenen Karriere. Man macht es so, wie man es selber durchlebt hat. Das ist vielleicht ein Grund, weshalb ich mit solchen Entscheidungen gut umgehen kann. Ich schlafe deshalb nicht schlecht.

Habe Sie keine Angst, dass bei Roche einmal das Unvorstellbare wie in Japan passiert?
Schwan: Die grossen Risiken wie Nebenwirkungen von Medikamenten kann man nicht ausschliessen. Mit diesem Restrisiko müssen wir leben. Und damit kann ich leben. Aber wir haben die Verantwortung, solche Risiken zu minimieren.

Und wie leben Sie mit dem sinkenden Aktienkurs? Roche ist nicht mehr der High-Flyer, Sie werden inzwischen auch schon als Absteiger betitelt.
Schwan: Wir hatten letztes Jahr Rückschläge in der späten Entwicklung, insbesondere mit Taspoglutide gegen Diabetes und Avastin in der Indikation Brustkrebs in den USA. Man darf sich davon aber nicht aus der Ruhe bringen lassen. Wir haben nach wie vor eine der stärksten Produktepipelines in der Industrie. Allein in der späten Entwicklung befinden sich zwölf völlig neue, vielversprechende Wirkstoffe. Das werden die Produkte sein, die das Wachstum mittel- und langfristig antreiben. Ich bin sehr zuversichtlich.

Wieso honorieren das die Investoren nicht?
Schwan: Sie sind risikoscheuer geworden. Wenn Sie wie im letzten Jahr kurz vor einer möglichen Zulassung einen unerwarteten Ausfall haben, dann können Analysten und Investoren das natürlich sehr schnell bewerten und einordnen. Sie wissen, was das bedeutet und welcher Umsatz damit verbunden ist. Die Erfolge bei der Entwicklung von neuen Medikamenten gehen da etwas unter. Es dauert halt noch zwei, drei Jahre, bis diese Produkte auf den Markt kommen. Aber früher oder später wird der Aktienkurs entsprechend nachziehen.

Die Forschungserfolge werden seltener, den Gesundheitsbehörden fehlt überall Geld. Es spricht alles gegen die Pharmabranche.
Schwan: Ich habe da grundsätzlich eine andere Meinung. Es besteht ein enormer Bedarf an neuen Medikamenten. Zwei Drittel der Krankheiten sind nicht behandelbar. Mit den enormen Fortschritten in der Genomik und Molekularbiologie beginnen wir erst jetzt richtig zu verstehen, was die wirklichen Ursachen für Krankheiten sind. Das gibt uns zunehmend neue Ziele für neue Medikamente. Da kommt eine Welle auf uns zu über die nächsten Jahre, die der Industrie Wachstum bringen wird. Davon bin ich überzeugt.

Roche setzt auf personalisierte Medizin, also auf Medikamente, die genauer, dafür nicht mehr für alle Leute wirken. Doch auch da wird der Preisdruck zunehmen.
Schwan: Der Preisdruck nimmt generell zu. Entscheidend ist aber letztlich der Nutzen für den einzelnen Patienten. Mit dem Ansatz der personalisierten Medizin steigern wir den Nutzen pro Patienten erheblich. Nehmen Sie zum Beispiel das Medikament Herceptin für die Behandlung von Brustkrebs. Mithilfe eines molekularen Gewebetests können wir die Behandlung auf genau die 20 Prozent der Frauen einschränken, bei denen das Medikamnet wirklich hilft. Das trägt entscheidend zur Kosteneffizienz im Gesundheitswesen bei. Die Kostenträger werden deshalb einen höheren Preis akzeptieren.

Wie viel ist denn ein Leben maximal wert?
Schwan: Es gibt ein einziges Land, das diese Frage mit einer konkreten Zahl beantwortet hat: England. Dort haben die Behörden entschieden, dass ein zusätzliches Jahr mit guter Lebensqualität 30 000 Pfund wert ist. Wenn das Medikament mehr kostet, dann muss der Patient den Mehrbetrag selber bezahlen.

Aber in der Schweiz ...
Schwan: ... undenkbar.

Ein kürzliches Bundesgerichtsurteil hat erstmals so etwas wie einen Kostendeckel fixiert.
Schwan: Vergessen Sie es. Dann sind wir in der Zweiklassen-Medizin. Das ist politisch in der Schweiz nicht möglich. Davon bin ich überzeugt.

Sie fürchten also die Sparübungen bei den Behörden nicht?
Schwan: Alle Staaten machen sich zunehmend Kosten-Nutzen-Überlegungen. Doch das ist gerade die Chance von Roche. Wir sind sogar daran interessiert. Inskünftig bezahlen die Kostenträger nur noch Medikamente, die wirklich innovativ sind und einen Nutzen bringen. Das wird Mittel für uns freimachen aus Bereichen, in denen das Kosten-Nutzen-Verhältnis schlechter ist.

Die Zulassungsbehörden drehen jedoch die Schraube an und teilen Ihre optimistische Sicht des Nutzens nicht immer. Die amerikanische FDA kippt wohl Avastin gegen Brustkrebs im Sommer definitiv aus der Liste der Medikamente mit Anspruch auf Rückerstattung.
Schwan: Avastin ist ein hervorragendes Medikament und ist bereits für fünf verschiedene Krebsarten zugelassen. Bei der Indikation Brustkrebs vertritt die FDA eine andere Meinung. Uns freut es aber, dass die Europäer den Nutzen von Avastin für Brustkrebs ohne Wenn und Aber bestätigt haben.

Aber die FDA bleibt hart.
Schwan: Leider. Wenn das Beispiel Avastin Schule macht, dann wird es für die Pharmabranche kritisch. Es gibt einen Punkt, wo höhere Anforderungen an Sicherheit und Wirksamkeit kontraproduktiv sind und die Innovation hemmen. Ich befürchte, in den USA geht es in diese Richtung.

Und wie reagieren Sie auf diese Entwicklung?
Schwan: Die Anforderungen und die Kosten für die Entwicklung steigen. Bisher reichte es, nachzuweisen, dass der Tumor nach der Einnahme eines Medikamentes nicht mehr wächst. Das nennt man progressionsfreies Überleben, und das war ein einleuchtender Standard: Wenn der Tumor nicht mehr wächst, hat das wahrscheinlich eine positive Wirkung auf den Patienten.

Das reicht jetzt nicht mehr.
Schwan: Man kann das natürlich weitertreiben und fragen, ob der Patient auch wirklich länger lebt. Wenn die Behörden diesen Gesamt-Überlebens-Nachweis verlangen, braucht es wesentlich grössere und längere Studien, um statistisch signifikante Resultate zu erzielen. Damit kommen immense Mehrkosten auf die Industrie zu.

Aber Sie können sich dem nicht entziehen?
Schwan: Wir entwickeln zurzeit T-DM1, einen bewaffneten Antikörper, der gegen Brustkrebs wirkt. Unser ursprüngliches Studienziel war progressionsfreies Überleben. Dann kam die FDA-Entscheidung zu Avastin. Wir haben daraufhin beschlossen, das Studiendesign für T-DM1 zu ändern und werden nun zusätzlich auch das Gesamt-Überleben messen. Jetzt brauchen wir doppelt so viele Patienten für die Studie. Das hat Konsequenzen. Sie können das gleiche Geld ja nicht zweimal ausgeben. Es werden im Ergebnis weniger Produkte entwickelt.

Inzwischen spricht auch Novartis offensiv von personalisierter Medizin. Der Konkurrent kreierte dafür den Ausdruck «individualisierte Medizin».
Schwan: Da kommt niemand daran vorbei. Alle Firmen werden das machen müssen. Einfach deshalb, weil sich die Medizin in diese Richtung entwickelt. Weil wir wissen, dass die Menschen unterschiedlich auf Arzneien reagieren.

Sehen Sie Novartis-Chef Joe Jimenez oft?
Schwan: Wir haben uns schon länger nicht mehr getroffen. Aber ich kenne ihn, und man trifft sich, zum Beispiel in den Verbänden. Wir haben ein sehr professionelles Verhältnis. Manchmal sind wir Konkurrenten, manchmal arbeiten wir zusammen.

Roche expandiert in China. Wie läuft dort das Geschäft?
Schwan: Wir haben hohe zweistellige Zuwachsraten und decken die volle Wertschöpfungskette ab. China ist nicht nur wichtig für Verkäufe, sondern gerade auch für die Forschung. Die Chinesen investieren Milliarden in die Biotechnologie. Die Labors sind auf Top-Niveau.

Aber Patentrisiken in den Emerging Markets bestehen noch immer?
Schwan: In Indien ist das der Fall. Dort werden die bestehenden Patente de facto oft nicht durchgesetzt. In China ist das anders, weil das Land auf Innovation setzt und sehr langfristig orientiert ist. Die Chinesen haben erkannt, dass sie ein gutes Patentwesen brauchen, um ihre eigenen Innovationen zu schützen und Firmen wie uns ins Land zu holen.

Sie bauen die Forschung in China weiter aus?
Schwan: Absolut, das ist keine Frage.

Der Mensch

Name: Severin Schwan
Funktion: Konzernchef Roche
Alter: 43
Wohnort: Riehen BS
Familie: Verheiratet, drei Kinder
Ausbildung: Promovierter Jurist
Karriere: Nach Studienabschluss direkter Berufseinstieg bei Roche.
1993 bis 1995: Mitarbeiter bei Corporate Finance, Roche Basel
1995 bis 1998: Leiter Finanzen & Administration, Roche Brüssel
1998 bis 2000: Leiter Finanzen & Informatik Roche Grenzach
2000 bis 2006: Zuerst Leiter Globale Finanzen, dann Leiter Region Asien und Pazifik bei Roche Diagnostics
2006 bis 2008: Chef von Roche Diagnostics
Seit 2008: Konzernchef Roche-Gruppe

Das Unternehmen

Roche steigerte im letzten Jahr den Umsatz währungsbereinigt und ohne Tamiflu-Verkäufe um 5 Prozent. Rechnet man die Verkäufe des Grippemittels ein, so schrumpfte der Umsatz des Basler Pharmakonzerns im Jahr nach der Schweinegrippe auf 47,5 Milliarden Franken. Der Gewinn betrug 8,9 Milliarden.

«Handelszeitung»-Redaktoren Ihle und Badertscher im Gespräch mit Schwan: «Dann enden Sie mit einem Haufen ängstlicher Bürokraten.»