Wir befinden uns mitten in der entsetzlichsten Situation, in der ich jemals einen Dax-Konzern gesehen habe»: So formulierte es der Präsident der deutschen Finanzmarkt-Aufsicht Bafin an einer Konferenz in Frankfurt. Der Fall Wirecard sei «eine Schande für Deutschland», so Felix Hufeld, ein «totales Desaster».

Der Dax-Konzern musste am Montag vollends und offiziell einräumen, dass 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten sehr wahrscheinlich Luftbuchungen waren. Die Aktie des Zahlungsdienstleisters brach nochmals um gut 40 Prozent ein und notierte knapp unter 15 Euro – nachdem sie am Donnerstag letzter Woche noch zu über 100 Euro bewertet worden war.

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Wirecard Dax aktie Stock share

Ansicht einer Blase: Entwicklung des Aktienkurses von Wirecard, Dezember 2006 bis Juni 2020.

Quelle: Google

Jetzt steht Wirecard am Abgrund – die Zukunft des Konzerns hängt vom Wohlwollen der Banken ab. Die Kreditinstitute könnten der Payment-Firma aus Aschheim bei München den Geldhahn abdrehen. Interims-Chef James Freis kämpft ums Überleben der Firma: Man stehe mit Hilfe der am Freitag angeheuerten Investmentbank Houlihan Lokey weiterhin in «konstruktiven Gesprächen» mit den kreditgebenden Banken, so Freis. 

Am Finanzplatz Frankfurt war zumindest am Wochenende zu hören, dass die Banken Wirecard weiter am Leben halten wollen. Die Sorgen vor den Schockwellen eines Bankrotts sind wohl zu gross.

Moody's zieht die Leine

Die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung» zitierte entsprechende Stimmen: Danach strebten die Banken eine Stabilisierung an. Aus dem Umfeld von Wirecard hiess es dem Bericht zufolge, man hoffe auf eine Einigung bis Ende kommender Woche. Zudem wolle das neue Wirecard-Management Schritte prüfen, das Geschäft fortzuführen – mit Kostensenkungen sowie Umstrukturierungen, der Veräusserung oder Einstellungen von Unternehmensteilen und Produktsegmenten. Die IT Systeme von Wirecard liefen ohne Einschränkungen, hiess es weiter. 

Andererseits erfuhr die Nachrichtenagentur «Bloomberg», dass die Bank of China mit dem Gedanken spielt, einen Schlussstrich zu ziehen, die Kreditfazilität an Wirecard  zu stoppen und notfalls die geschuldeten 80 Millionen Euro abzuschreiben; «Bloomberg» beruft sich auf «mit der Angelegenheit vertraute Personen». Die Bank of China gehört zu einer Gruppe von mindestens 15 Geschäftsbanken, die Wirecard Finanzierungen von 2 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt haben. 

Zugleich muss Wirecard jetzt auch damit rechnen, dass die Kunden angesichts des Vertrauensverlustes das Weite suchen.Die Ratingagentur Moody’s, welche die Kreditwürdigkeit von Wirecard erst am Freitagabend auf «Ramsch» herabgestuft hatte, zog am Montag alle Ratings vollständig zurück. Die vorliegenden Informationen seien zu ungenügend oder inadäquat, um die Bewertung beizubehalten, so die US-Agentur.

Seit Donnerstag vergangener Woche hatten sich die Ereignisse im Bilanzskandal zugespitzt. CEO Markus Braun musste am Freitag seinen Posten räumen. Sein Management hatte eine Summe von 1,9 Milliarden Euro bei zwei Banken auf den Philippinen angegeben. Später hatten die philippinischen Banken BDO Unibank und Bank of the Philippine Islands mitgeteilt, dass der deutsche Dax-Konzern kein Klient bei ihnen sei; Dokumente externer Prüfer, die das Gegenteil besagten, seien gefälscht. Am Sonntag machte es die Zentralbank in Manila offiziell: Die Summe, von der da die Rede war, sei gar nicht im Land eingetroffen.

«Wir prüfen alle in Betracht kommenden Straftaten»

Wirecard wickelt bargeldlose Zahlungen für Händler ab, sowohl an Ladenkassen als auch online. Das Unternehmen ist seit über einem Jahr in Bedrängnis, seit die Londoner «Financial Times» dem Management in einer Serie von Artikeln Bilanzmanipulationen vorwarf (zum Wirecard-Dossier der FT). Auch die Bafin und die Münchner Staatsanwaltschaft untersuchen verschiedene Aspekte im Fall Wirecard.

Nach dem Eingeständnis mutmasslicher Luftbuchungen muss Wirecard nun weitere Ermittlungen fürchten. «Wir prüfen alle in Betracht kommenden Straftaten», sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft München I am Montag. Ob konkret gegen ehemalige oder amtierende Wirecard-Manager wegen Bilanzmanipulation ermittelt wird oder dies geplant ist, sagte die Sprecherin nicht: Einzelheiten zum Vorgehen würden nicht genannt.

Bei der Behörde läuft bereits ein Ermittlungsverfahren gegen Markus Braun und drei weitere Manager der Wirecard-Spitze: Es geht um den Verdachts der Falschinformation von Anlegern in zwei Börsen-Pflichtmitteilungen.

Kritik und Fragen, wie die mutmasslichen Manipulationen unentdeckt bleiben konnten, gibt es sowohl an die Adresse der Bafin als auch an die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY, die die Jahresabschlüsse 2017 und 2018 geprüft und testiert hatte. «Der Fall Wirecard ist eine Katastrophe für den Finanzplatz Deutschland und eine Bankrotterklärung der beteiligten Wirtschaftsprüfer und Aufsichtsbehörden», sagte FDP-Finanzexperte Florian Toncar.

(AWP – «Bloomberg» – rap)

Hintergründe zu Wirecard

Grundlegende Fakten
Wirecard wurde während der Hochphase der New-Economy-Zeit 1999 gegründet und war anfangs auf die Abwicklung von Zahlungen von Porno- und Glückspiel-Internetseiten fokussiert. 2002 übernahm der nun zurückgetretene Firmenchef Markus Braun den Vorstandsvorsitz. Er baute das Geschäftsmodell um, besorgte eine Vollbanklizenz für die Wirecard Bank und brachte das Unternehmen schliesslich im September 2018 in den Dax. Weltweit arbeiten an 26 Standorten rund 5'800 Mitarbeiter für Wirecard. Zu den Kunden zählen unter anderem die niederländische Airline KLM, das O2-Mutterunternehmen Telefonica, Aldi, Ikea, WMF und Fedex .

Wie funktioniert das Geschäftsmodell? 
Grob gesagt fungiert Wirecard als Bindeglied zwischen Händler und Kunde. Der Konzern mit Hauptsitz in Aschheim bei München steuert das bargeldlose Bezahlen via Smartphone oder Kreditkarte an Ladenkassen und Online-Shops und darf durch eine Kooperation mit Anbietern wie Visa und Mastercard Kreditkarten selbst herausgeben. Zudem geht Wirecard für Händler ins Risiko, prüft bei Bestellvorgängen, ob der jeweilige Kunde vertrauenswürdig ist, nimmt den Kaufpreis entgegen und leitet ihn abzüglich einer Gebühr an den Händler weiter.

In Europa betreibt Wirecard für diese Geschäfte eine eigene Bank. In Ländern, in denen Wirecard keine eigenen Lizenzen hat, ist der Konzern auf Drittanbieter angewiesen. Um Geschäfte zwischen zwei Vertragspartnern abzusichern, deponiert Wirecard auf Treuhandkonten Geld. Einen Treuhändler in Asien hatte Wirecard 2019 gewechselt. Wirtschaftsprüfer stellten fest, dass für 1,9 Milliarden Euro, die auf solchen Treuhandkonten sein sollten, keine oder gefälschte Bescheinigungen existierten.

Was bleibt von Wirecard nach der Krise?
Dem Unternehmen einen Wert beizumessen, kommt nach Meinung von Branchenexperten einem Blick in die Glaskugel gleich. Für Wettbewerber gebe es keinen zwingenden Grund, lebensfähige Teile der Wirecard-Geschäfte aufzugreifen, da es einfacher sei, die Kunden abzuwerben. «Wir sind nicht in der Lage, das wahre Profil des Unternehmens mit Überzeugung zu quantifizieren», sagte Analyst Robert Lamb von der Citi-Bank, der sein Kursziel für die Wirecard-Aktie ausgesetzt hat. Die Ratingagentur Moody's zog ihr Rating für den Konzern komplett zurück mit der Begründung, es gebe keine ausreichenden, überprüfbaren Informationen mehr.

An der Börse ist das Vertrauen hinüber. Die Aktien sackten innerhalb von drei Tagen um rund 85 Prozent auf 14 Euro ab. Beim Aufstieg in den Dax hatte eine Aktie noch fast 200 Euro gekostet, die Marktkapitalisierung war damals höher als die der Deutschen Bank. Experten fürchten, dass Wirecard nicht nur die Anleger davonlaufen, sondern auch Kunden. «Die Kunden, die wenigen, die es wirklich gibt, werden sich nach alternativen Zahlungsanbietern umsehen», sagte Analyst Neil Campling vom Broker Mirabaud zur Nachrichtenagentur Reuters. «Meiner Ansicht nach ist das nicht mehr zu retten.»

Wird Wirecard zum Übernahmekandidaten?
Wirecard hat selbst angekündigt, Geschäftsteile und Produkte auf den Prüfstand zu stellen. Auch die kreditgebenden Banken dürften ein Wörtchen mitzureden haben bei einem Umbau. Es liege im Interesse der Gläubigerbanken, Wirecard nicht in den Bankrott zu treiben, da dies den in Kundenbeziehungen und Zahlungsverträgen verbliebenen Restwert zerstören würde, sagte Investmentanalyst Richard Sbaschnig vom Researchhaus CFRA.

Ein grosser Konkurrent von Wirecard in Europa ist die niederländische Adyen. «Wir sehen Adyen als sehr gut positioniert, um bestehende Wirecard-Kunden zu gewinnen, die Wirecard verlassen könnten», sagte Julian Serafini von der Bank Jefferies. Adyen habe bislang aber immer erklärt, vorzugsweise organisch wachsen zu wollen. Für die französische Worldline sei nur das Wirecard-Geschäft in Europa interessant, sie hätte weniger Bedarf an Teilen in Asien, vermuten Analysten. Für den in Italien ansässigen Rivalen Nexi komme Wirecard ebenfalls nicht infrage, da Nexi keine Ambitionen habe, im Ausland zu expandieren.

(Reuters)