Wer durch die Altstadt von Istanbul, Kairo oder Marrakesch flaniert, kennt die durch kunstreiches Flechtwerk geschützten Alkoven oder Balkone, von denen aus die Frauen des Hauses das Treiben auf der Strasse beobachten konnten, ohne dass zudringliche Blicke von unten ihre Scham und damit die Ehre des Hausherrn verletzten.

Es waren wohl zuerst die muslimischen Zuwanderer, die sich hierzulande an den üblichen offenen Balkongittern störten, weil sie den Blick freigeben auf das, was «haram» ist. Mittlerweile ist die Islamisierung des Abendlandes weit fortgeschritten. Der nachträglich angebrachte Balkonsichtschutz ist eher Regel als Ausnahme. Das Ergebnis ist ein ästhetisches Desaster.

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Grosse Auswahl führt zu ästhetischer Verwilderung

Markisenstoff ist die häufigste Form des Sichtschutzes. Er wird in Baumärkten und Onlineshops am laufenden Meter in verschiedenen Breiten und mit eingenähten Ösen zur Befestigung am Metallgitter angeboten: gelb-weiss, blau-weiss, rot-weiss oder grün-weiss längs oder horizontal gestreift oder auch «uni»: Hauptsache bunt. Gern werden auch billige Kokos- oder Bambusmatten benutzt, zuweilen Kunstrasen aus Plastik oder Filz.

Neuerdings wird der Balkonsichtschutz in Plastik angeboten, dezent gewellt oder gerillt, auch mit wuchtigem Naturstein- oder verschiedenfarbigem Ziegelmuster, für den ästhetisch empfindsamen Heimaufwerter aber auch in einheitlichem Bauhausgrau oder moderner Flechtoptik.

Das Ergebnis ist, dass bei vielen Wohnblocks oder auch Reihenhauszeilen, deren Fassadenwirkung auf der Einheitlichkeit oder der leichten Variierung bestimmter sich wiederholender Elemente und Muster beruht oder bei denen die Leichtigkeit der Balkongitter die Wucht des Gesamteindrucks konterkarieren soll, der Gesamteindruck zerstört wird durch die wuchernde Fülle des individuell angebrachten Sichtschutzes. Hier Bambus, dort Plastik. Hier Horizontal- dort Vertikalstreifen. Hier gelb, dort grün. So tritt zum Fassadenkiller Satellitenschüssel und zum Dachverunstalter Solarpanel ein weiteres Element der ästhetischen Verwilderung hinzu.

Balkonsichtschutz erobert gar Kleinbürgertum

Doch woher kommt diese Unsitte? Und was ist daraus zu lernen? Betrachtete man vor einigen Jahren eine Hochhausfassade in irgendeiner Wohnsiedlung, so war das Vorhandensein eines Balkonsichtschutzes ein Indiz dafür, dass die Mieter Muslime waren; zur Weihnachtszeit würde ihr Balkon vermutlich die üppige Festbeleuchtung vermissen lassen, mit der ihre christlich-konsumistischen Nachbarn – je ärmer, desto üppiger – ihren Drang nach individueller Gestaltung ihres Wohnumfelds austobten. Mittlerweile leuchtet und blinkt es in der dunklen Jahreszeit auch von vielen muslimischen Balkonen herunter.

Noch erstaunlicher ist aber der Siegeszug des Balkonsichtschutzes, der darüber hinaus den Weg aus dem Proletariat ins Kleinbürgertum genommen hat: Reihenhäuser, Townhouses, Penthouse-Etagen, Lofts und so weiter sind mittlerweile häufig mit dem bunten Markisenstoff beflaggt, den man nicht mehr nur bei Obi, Hornbach und vergleichbaren Tummelplätzen der gestaltungsfreudigen Unterschicht bekommt, sondern auch bei edleren Anbietern wie Garpa; schon widmete «Schöner Wohnen» dem Thema eine Ratgeberseite.

Architektur muss sich geschlagen geben

Man macht es sich allerdings zu leicht, wenn man sich nur über diese ästhetische Zumutung mokiert; erst recht, wenn man die Käufer und Anbringer von Balkonsichtschutz als Banausen abqualifiziert. In vielen Fällen wird das zwar der Fall sein, aber Banausen wollen auch wohnen, und deren Bedürfnis nach Wahrung der Privatsphäre ist etwas, was die Architektur in Rechnung stellen muss. Man baut nun einmal für Menschen, nicht für die «Bauwelt» und andere Fachzeitschriften.

Und hier liegt das Problem. Es mag viele Gründe dafür geben, Balkone mit Metallgittern statt mit Stein-, Beton- oder Kunststoffbrüstungen und -blenden zu versehen. Der Balkon ist ein schwerer Klotz, der aus der Fassade ragt; wer ihn nicht zu gestalten versteht, versucht eben, ihn unsichtbar zu machen. Daher die Gitter, die den Blick auf die vorhandene Fassade frei lassen.

Dieser Effekt wird durch Fassadensichtschutz natürlich konterkariert. So mancher Architekt verfällt nun darauf, anstelle von Metallgittern glatte Glasfronten für seine Balkone zu verwenden; vermutlich will man es den Leuten schwerer machen, einen Balkonsichtschutz anzubringen. Im ewigen Zweikampf zwischen Architekt und Nutzer kann man aber jetzt schon voraussagen, dass die Findigkeit der Nutzer über die Verschlagenheit des Architekten siegen wird.

Sich vor neugierigen Blicken schützen

Kosten dürften auch oft eine Rolle spielen. Wer ein Fabrikgebäude in Lofts verwandeln will, schraubt gern zur Attraktivitätssteigerung ein paar Metallbalkone vor die Wohnungen, wie man es ja auch bei der Aufwertung älterer DDR-Wohnbauten getan hat. Das sieht im Rohzustand meistens ganz passabel aus. Bald sammeln sich dort Topfpalmen und Begonien, überdimensioniertes Mobiliar, Fahrräder, Grills, Sonnenschirme und Wäscheständer; schön ist das ja auch nicht gerade. Da mag man sich als Passant sogar einen Sichtschutz wünschen. Dann aber bitte einheitlich: Wozu gibt es Gestaltungssatzungen?

Die Existenz der Balkon- und Terrassensichtschutzindustrie – von dem Horror der aus Holz oder Plastik gefertigten und mit Efeu berankten, zwei Meter hohen Sichtblenden, mit denen Leute ihre Terrassen gegen ihre Nachbarn abgrenzen, haben wir noch gar nicht gesprochen – verweist auf eine Leerstelle der modernen Architektur. Sie will ja den Menschen ins Freie, in Sonne und Licht bitten. Sie stellt sich aber viel zu selten die Frage, wie er dabei seine Privatsphäre wahren kann.

Nur wenige Menschen geniessen es, auf dem Präsentierteller zu sitzen. Wer ein neu gebautes Haus bezieht, freut sich auf den Garten; aber zu seinen ersten Anschaffungen werden Büsche gehören, die schnell wachsen und die Terrasse vor neugierigen Blicken verschonen soll. Und selbst wer nie nackt auf seinem Balkon ein Sonnenbad nehmen würde, geniesst das Gefühl, es gegebenenfalls tun zu können.

Erst grosse Gärten machen Transparenz möglich

Zäune, heisst es in einem Gedicht von Robert Frost, machen gute Nachbarn. Noch besser sind Mauern und andere feste Sichtblenden. Das wussten übrigens die Meister der klassischen Moderne. Zwar gibt es Ikonen wie etwa das Haus Schminke von Hans Scharoun in Löbau oder das Farnsworth House von Mies van der Rohe bei Plano in Illinois, die ganz auf Transparenz setzen. Aber sie befinden sich inmitten grosser Gärten.

Dort, wo dichter gebaut wurde, etwa in Richard Neutras Bungalowsiedlung in Quickborn oder in der Wiener Werkbundsiedlung, ist der Innenhof fester Bestandteil der Architektur. Bei Le Corbusiers Unités de l'habitation sind die Balkone der einzelnen Wohnungen durch Betonwände getrennt; auch die Brüstungen sind aus Beton.

Je mehr man in der Arbeitswelt die Leute – durch Grossraumbüros etwa – dazu zwingt, sich als Teamworker zu erweisen, je mehr auch der Urlaub – ob man es will oder nicht – zum Gemeinschaftserlebnis wird, vom gemeinsamen Entkleiden im Security-Bereich bis zur Wassergymnastik im Pool, desto wichtiger wird der private Rückzugsort. Das mag einigen Architekten gegen den Strich gehen. Wenn sie aber wert darauf legen, dass ihre Gebäude in Wirklichkeit in etwa so aussehen wie auf dem Reissbrett, sollten sie so entwerfen, dass der Balkonsichtschutz überflüssig ist.

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