F-Dur. Dominantseptakkord-Schläge. Trockener als trocken. Alles sitzt auf der Stuhlkante. Orchester wie Auditorium. «Die Geschöpfe des Prometheus». Eine Ballettmusik. Ludwig van Beethovens erste Ouvertüre. 1801 in Wien uraufgeführt. 216 Jahre später erklingt sie nun als erstes offizielles Musikstück vor einem geladenen Publikum in der bereits vorab zum «Weltwunder» hochgekochten Hamburger Elbphilharmonie. Festakt. Gleich kommen Erster Bürgermeister und Bundespräsident mit Reden dran, auch die musikliebende Kanzlerin sitzt im Saal. Allergrösster Kulturbahnhof.

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Hier hört man grausam alles

Ja, das könnte was, werden, denke ich. Obwohl ich reichlich seltsam sitze, Block I, Reihe Vier, Platz 24. Bitte merken! Ich schaue auf das Orgelspielpult, schräg daneben sind die Hörner positioniert. Ok, denke ich. Mutig. Halb hinter dem Orchester. Aber was soll’s? Der Saal, oval, fast so breit wie hoch, soll ja überall gut klingen, eine akustische Offenbarung sein. Funktioniert zunächst auch.

Kleine Besetzung des NDR Elbphilharmonie Orchesters, ab jetzt hier Hausensemble. Es klingt knusprig, die Musik hat Platz, aber man spürt schon: Hier hört man grausam alles, jeden Ansatzfehler, jeden unsauberen Bogenstrich, jedes Hüsteln auf dem Podium. Es kommt direkt, ehrlich, fast hart. Für Barockmusik ideal.

Dann sagen Olaf Scholz und Joachim Gauck Schönes, Ehrliches, Ungeschminktes, ja auch Anrührendes. Der Bundespräsident improvisiert wieder mal. «Elphie ist aufgemacht», kalauert er. Ein Gemeinwesen, 500 normale, durch das Los bestimmte Hamburger sind ebenfalls im Saal, freut sich, was es, allen Widrigkeiten zum Trotz, doch noch gestemmt hat. Heute wollen wir hier alle bessere Menschen sein, veredelt durch Musik, die im ältesten Fall schon 1589 unsere Vorfahren erfreut hat. Ein Sieg funktionierender Demokratie, initiiert von Bürgersinn, auch zum Teil bezahlt von Mäzenen, der grosse Rest von 789 Millionen freilich durch unserer aller Steuern.

Plötzlich Probleme

Wir lassen jetzt das Dunkle draussen. Erfreuen uns an den organisch schwingenden, asymmetrischen Brüstungslinien, Treppenläufen, Sitzfeldern des eierschalfarbenen, von mundgeblasenen Glasbällchen heimelig erleuchteten Saals von Jacques Herzog (der später ebenfalls den genau richtigen Redenton treffen wird) und Pierre de Meuron. Geniessen die korallenartige, sofort nach Berührung verlangende Akustiknetzhaut, die Klangorakel Yasuhisa Toyota hat präzisionsfräsen lassen. Toyota mag es hell, obertonreich, klar strukturiert. Das ist ihm hier gelungen.

In den pfeffergrauen, schön breiten, nicht zu weichen Sesseln lümmelt man wie im Wohnzimmer. Es ist gemütlich, höhlenartig kuschelig, macht Laune, auch wenn man dauernd viele Gegenüber beobachten kann und muss. Von oben hängt der pilzartige (oder ist es doch ein Stempel?) Reflektor wie ein verfremdeter Lüster herab. Eine Wellness-Tonoase. Mit einem berührenden Moment des Erinnerns, als Olaf Scholz seiner im Oktober verstorbenen Kultursenatorin Barbara Kisseler gedenkt, die den Verdrussbau so entschieden auf der Zielgeraden wieder in die Spur gebracht hat. Da wo sie hätte sitzen sollen, liegt jetzt ein weisser Blumenstrauss.

Und in der Mitte, Intendant Christoph Lieben-Seutter spricht von der kreativen Feuerstelle des Prometheus, da lodert jetzt das Orchester. Mit Mendelssohns «Ruy Blas»-Ouvertüre. Doch dann kommt Brahms, noch ein gebürtiger, früh vertriebener Hamburger, Schlusssatz 2. Sinfonie. Allegro con spirito, D-Dur. Und plötzlich habe ich Probleme. Der Orchestersatz wird komplexer, und auf einmal höre ich nur noch Bässe. Oder Hörner. Und unangenehm aus der Mitte trötende Klarinetten. Der Klang spreizt sich auf, verflacht dann, vieles dringt nicht mehr durch. Es atmet zu wenig, denke ich. Erst mal Pause.

Ein langer Abend

Es wird ein langer Abend. Ein zu langer. Einlass war bis 17.45 Uhr. Verspäteter Beginn des Festakts wegen im Stau stehender Politiker um 19 Uhr. Nach einer Stunde Pause dann zwei überambitionierte, ermüdende Konzerthälften. Am Ende standen wie am Anfang Beethoven. Um 23 Uhr ist – endlich – der letzte, leider gar nicht götterfunkelnde Schlussakkord verklungen. Warum auch sollte die Inauguration kürzer sein als die Bauzeit?

Viel Freiraum also – zum Nachdenken, zum Analysieren, während Thomas Hengelbrock sein bis zuletzt geheim gehaltenes Eröffnungsprogramm Stück für Stück perlenschnurgleich vom Stapel lässt. «Zum Raum wird hier die Zeit», hach ja. Extreme Kontraste der Stile, Epochen, Besetzungen; aber alle attacca, ohne Atempause. Der totale Ton-TÜV, vom fast Flüstern bis gellend laut.

Am Anschlag lärmend

In der ersten Hälfte gibt es immer was Solistisches gegen das volle Orchester. Benjamin Brittens «Pan» für Solo-Oboe, eine schöne Idee, gibt die doch sonst stets zum Einstimmen den Kammerton a vor, erklingt von irgendwo oben als vierfaches Echo. Zum Glück werden die frühbarocken de Cavalieri- und Caccini-Solomadrigale von dem hinreissenden Philippe Jaroussky gesungen. Seine Stimme kenne ich genau, selbst sie klingt peripher vom Rang, kaum fokussiert; die nur schnarrende Harfe seiner Partnerin könnte auch ein Zigarrenkistchen mit Paketschnüren sein. Auch das Praetorius Ensemble, schräg gegenüber halboben platziert, versuppt wie in einer halligen Kirche.

Beim Orchester aber, da knallt und kracht es nur: Henri Dutilleuxs Mystère de l’Instant mümmelt sich noch diskret wispernd weg, Bernd Alois Zimmermanns bruitistische Photoptosis schneidet allerdings als metaphysisch greller Lichteinfall auch klanglich förmlich die Luft durch. Ebenso die Verbeugung vor dem für Hamburgs Musikgeschichte der Moderne so wichtigen Rolf Liebermann: Furioso, knackig ins Klavier mitgedroschen von Ya-ou Xie. Und erst das swingende Finale aus Olivier Messiaens Turangalîla-Sinfonie: alles einheitslaut, breiig. Jedenfalls hinter den Hörnern. Man hört keinen Raum mehr. Nur ein am Anschlag lärmendes Orchester auf einem zu klein anmutenden Podium.

Strikt nach vorn spielendes Orchester in einem fast runden Saal

Und dann komme ich doch schwer ins Grübeln. Die Grundfläche der Elbphilharmonie war durch den Kaispeicher determiniert. Der grosse Saal wurde, eingekeilt von angeblich kostendrückenden Eigentumswohnungen und Hotel, immer mehr nach oben gedrückt.

Die 2100 Plätze sind kreisförmig angeordnet. Steigen über einem sehr kleinen, arg tief liegenden Parkett auf acht, neun Halbetagen an. Fast die Hälfte der Plätze liegt steil und direkt neben, hinter und über dem Orchester. Die ersten Reihen erheben sich unmittelbar an den Köpfen der Musiker. Die aber haben ihre Schalllöcher nach vorn gerichtet, so tönen auch menschliche Münder. Von der Hälfte der Plätze hört man also mindestens anders als gewohnt; von manchen, ich sage nur: Block I, Reihe Vier, Sitz 24, richtig schlecht. Denn ein strikt nach vorn spielendes Orchester in einem fast runden Saal mit offenbar zu wenig Nachhallraum, das kann auch ein Toyota nicht umformen.

Weltklasse geht anders

Ich hätte so gern gelobt. Die Organisation: perfekt. Keine Schlangen an der Sicherheitskontrolle, an Garderobe, Klos, auf den vielen Treppenhäusern. Die winden sich mit immer wieder überraschenden Perspektiven entspannt nach oben. Sie sind holzgetäfelt oder weissgespachtelt (ein Lob den Putzfrauen- und Männern), das Komplexe und Superteure des Gebäudes sieht man ihm nicht an. Das ist als höchstes Kompliment gemeint. Man fühlt sich wohl, vertraut, wird unaufdringlich geleitet. Hamburgisches Understatement eben. Eine feinfühlige, fast harmonisch leise Architektur ohne jedes Protzgehabe. Da braucht es gar keine Superlative. Nicht mal den tollen Blick in den januardunklen Hafen.

Aber besser klingen müsste es. Weltklasse geht einfach anders. Ich weiss nicht, wie es frontal und oben ist, aber auf halber Höhe und hinten geht es gar nicht. Ich bin enttäuscht. Und total traurig. Gleichzeit aber froh über die mir geschenkte Erfahrung, die leider noch andere machen werden. Zum Glück bleibt mir die Orgel erspart. Ich sehe zwar die reizende Iveta Apkalna von hinten, aber den auf sie blickenden Leidensgenossen direkt vor dem schicken Blechvorhang aus Pfeifen, denen dröhnen schon nach wenigen Läufen die Ohren.

Wie ein langer, sehr ruhiger, modriger Strom

Es kommt noch schlimmer, nach der Pause, mit dem grossen, fetten Orchesterdreischritt, natürlich wieder attacca. Wagners «Parsifal»-Vorspiel geht gut, solange nur Streicher mit chromatisch warmen Liegetönen dürfen. Wieder quaken die Klarinetten, hört man grausam wenig unisono einsetzende Posaunen. Und etwas flirrender, dichter könnte man es auch dirigieren.

Dann die Uraufführung. Wolfgang Rihms (krank) Hommage an einen Hamburger Orgelbauer und Wortklauber: «Reminiszenz. Triptychon und Spruch für Hans Henny Jahnn». Weder so verspreizt wie der Titel, noch wie der erste Satz, «Singende Öde am Fluss: Wer rief?», ist das Folgende.

Es mäandert eher wie ein langer, sehr ruhiger, modriger Strom, der nach abgestandener Auftragskomposition riecht. Eine Mischung aus gemütstrübem Mahler und frühem Schönberg, vier wirklich allerletzte Lieder. In hübsch fliessendem Tenorparlando für Jonas Kaufmann (krank) gedacht, jetzt von Pavol Breslik gemimt, denn viel Singen habe ich nicht gehört, geschweige denn ein Wort verstanden. Aber sein frisch weissblond gefärbter Schopf gefiel.

Nur die Frauen klingen durch

Schliesslich die Ode, «Freude, schöner Götterfunken», traditionelle Beethoven-Bestätigung als Antithesis gemeint, sehr plan und banal genommen. Singen die sicher trefflichen Chöre des NDR und BR zusammen, höre ich nur die Frauen; und gar keinen mehr der ganz vorn stehenden, ins Ungefähre kauderwelschenden Solisten: Breslik, Bryn Terfel, eigentlich lautester und teuerster Bassbariton der Welt, Wiebke Lehmkuhl und Hanna-Elisabeth Müller – statt Anja Harteros (unpässlich), Camilla Tilling (krank) und Marlis Petersen (nur Cover, aber im Saal).

Klar, am Ende freuen sich alle. Man hat so lange durchgehalten, 16 dornige Projektentwicklungsjahre und nun noch einmal über fünf Stunden. Aber ich freue mich nicht, träume stattdessen von der Berliner Philharmonie (zehn Jahre Nachjustierzeit) oder der frischen in Paris, die vom ersten Ton an funktionierte. Da klingt es auf fast allen Plätzen, da hat die Musik Raum. In der Elbphilharmonie nicht. Jedenfalls nicht auf Block I, Reihe Vier, Platz 24. Kehrwiederspitze heisst hier ein nahes Inselende. Werde ich gern, aber nie, nie wieder auf diesem Sitz.

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