Dieter Rams ist unlängst 85 Jahre alt geworden. Dass der Mann, der 1956 bis 1995 das Design der Firma Braun massgeblich mitbestimmt hat und mit Hans Gugelot unter anderem eine Elektrogeräte-Serie generierte, die bis heute ihresgleichen sucht, wissen wir alle. Spätestens zumindest, seitdem Jonathan Ives, der Chefdesigner von Apple, vor Dieter Rams eine Art virtuellen Designkotau in Form einer Taschenrechner-App auf dem iphone vollzog.

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Rams asketische Dauerwelle ist auch in meinem neuronalen Netzwerk fest eingespeist und vermutlich magnetoenzephalografisch, beim Blick auf einen T1000 Weltempfänger, messbar. Wen wunderts, die funktionale Qualität der Rams-Gerätschaften ist nach wie vor unübertroffen. Selbst nach einer durchzechten Nacht und komplett durchgebrannter Promillesicherung ist es ein Leichtes, den farblich markierten Einschaltknopf mit dem wackeligen Finger zu finden.

Neue Ergonomie des Benutzens und Verstehens

So gesehen ist Rams ein geradezu perfekter Design-Follower der «Kritischen Theorie» Max Horkheimers und Theodor W. Adornos. Er gestaltet schon in seinen frühen Arbeiten gesellschaftliche Produkt-Verhältnisse und entwickelte aus der Analyse einer oft sinnbefreiten Produktästhetik der Nachkriegsjahre eine neue Ergonomie des Benutzens und Verstehens.

Kein anderer Designer hat die dysfunktionale und bräsige Funktionalität der möbelbaudominierten Volksempfangerästhetik der 40er und 50er einerseits so revolutioniert, und andererseits die elitäre, aber politisch gesehen durchaus linke, Position der Ulmer Schule massentauglich gemacht.

Ich will diese Zeilen aber auch nutzen, ein paar Rams-Thesen wieder auf den Tisch zu bringen. Die Brisanz seiner Gedanken wird im Kontext einer Produktwelt, die sich gerade auf ein ökonomisch ewig grüssendes Murmeltier aus Grossserie und Pseudoinnovation verlässt, immer deutlicher. Viele kritische Megatrends, die unsere digitale Welt gerne für sich reklamiert wie zum Beispiel das Hipster Mantra aus Sustainibility, Authentizität und Simplifizierung, waren schon in den 60ern eine der tragenden Säulen seiner Gestaltungstheorie.

Aus aktueller Sicht gerät gerade das Produktdesign durch digitale Produktionsmöglichkeiten zu einem formal orientierten Konsum-Unterhaltungsprogramm auf der Bühne unzähliger 3D-Drucker. Die wiederum rödeln, um die höchst speziellen Lebensmodelle einer neuen Kaste von Dienstleistungsuniversalisten in Produkte zu fassen. Deren energieintensive, dicht gedrängte und eventorientierte Lebensweise braucht zwar keine mittelalterlichen Schnabelmasken um die Pest zu vertreiben, verlässt sich aber in ihren digitalen Communities auf die moderne Schweröl-Exxon-Valdez-Version des Schwarzen Todes. Deshalb hier ein wortgewordenens Dieter-Rams-Schiff der Bottsand-Klasse, das richtig angewendet, für mehr Klarsicht in der ökonomischen Ölpest sorgen könnte.

Gutes Design ist innovativ.
Gutes Design macht ein Produkt brauchbar.
Gutes Design ist ästhetisch.
Gutes Design macht ein Produkt verständlich.
Gutes Design ist unaufdringlich.
Gutes Design ist ehrlich.
Gutes Design ist langlebig.
Gutes Design ist konsequent bis ins letzte Detail.
Gutes Design ist umweltfreundlich.
Gutes Design ist so wenig Design wie möglich.

Wenn auch er diese Thesen auf seine Produkt-Designwelt bezieht sind viele Gebrauchsgegenstände in der gegenwärtigen Web-4.0-Welt schon längst zu Lieferanten einer Supplychain für Daten-Highways mutiert. Es heisst also, diesen ramsschen «Rautek-Rettungsgriff» allgemeiner anzuwenden um den Schleuderkurs unseres Werte-Systems dann aus einer stabilen Seitenlage beurteilen zu können.

Erbarmungswürdiger Zustand

Aus dieser Position betrachtet zeigt sich unsere scheinbar so korrekte Welt in einem erbarmungswürdigen Zustand. Der gegenwärtig noch mächtigste Mann der Welt übt sich in einer bisher nicht gekannten Unberechenbarkeit eines blonden Polit-Wrestlers, dessen permanentes Over-Selling eher tragisch-unterhaltsam trennt, denn verbindet. Auch er bräuchte, so scheint es mir, einen farbig markierten Braun-Reset Knopf. Damit ist er aber nur einer von vielen Repräsentanten einer protektionistischen Haltung die zwischen kollektiver Euphorie und privater Romantik changiert.

Man denke an die seltsame Kombination aus der präsidialen Proklamation «America First» und der verspiegelten Trump Trutzburg in Manhatten (725 5th Avenue, New York, NY 10022), in der die Familie medienwirksam auf samtweichen Riesenkissen und freiem Blick auf ornamental umrandetet Deckenfresken verwöhnt wird.

Wer aber jetzt glaubt, die USA-Bashing-Korken knallen zu lassen, der richtet die Veuve-Clicquot-Luxusflasche geradewegs auf das eigene Auge. Um unseren europäischen Föderalismus steht es nicht besser: Dieser schleudert gerade durch eine Allee aus egotrunkenen populistischen Baumriesen und bräuchte eine Art Dieter-Rams-Leitplanke wie die A-Klasse ein elektronisches Stabilitätsprogramm.

Aber zurück zum Design: Von Gestaltern und Kommunikationsspezialisten werden viele drängende Fragen leider in der Regel mit rein marketinggetriebenen Instrumentarien beantwortet. Wohl ein Resultat einer lebenslangen Prägung, die Perfektion in der braven Quotensteigerung sieht. Der ökonomischen Dimension gelingt die Strategie mit Bravour, scheitert aber kläglich, wenn es um zukunftsträchtige Inhalte geht.

Standart für europäische Unterhaltung

Ein Beispiel für dieses Scheitern und gleichzeitig eine skurrile und dennoch relevante Koinzidenz: 1956 - Rams begann im gleichen Jahr bei Braun, als Marcel Bezençon den Eurovision Song Contest aus der Taufe hob. Rams erfand eine noch heute relevante globale Designsprache mit dem Versuch, eine Produktethik zu implementieren, Bezençon dagegen das erste paneuropäische Eventformat, das kraft endloser institutioneller Sendeleistung zu ökonomischer Geltung gelangte. Im Fall des Eurovision Song Contest wurde daraus eines der wichtigsten kollektiv und medial-erfahrbaren EU-Musik-Erlebnisse. Tragischerweise wurde damit aber auch ein Standart für europäische Unterhaltung gesetzt, bei dem die Hoffnung auf relevante Inhalte der Suche nach besteigbaren Achttausendern im Wattmeer gleicht.

Trotzdem – irgendwie bewundernswert, denn selbst heute noch fragt man sich beim Betrachten deutscher Quotenleuchttürme wie zum Beispiel dem Sommerfest der Volksmusik und dem zugehörigen verzückt wabernden Groupiekonglomerat, wie denn im Kontext solch national orientierten Musikereignisse eine europäische Komponente denkbar ist und war.

Der Quotenfetischismus der Medienindustrie

Hier, tief im deutschen Schlick des Medien-Watts auf den teutonischen Mattscheiben wirft unter anderem das männliche Funkenmariechen Florian Silbereisen perfekt opportunistische Sound- und Event-Brekkies ins Publikum und erweist sich als meisterhafter Arrangeur einer fragwürdigen national geprägten musikalischen Lobotomie. Da ist Bezençons Idee eines europäischen Medien-Produkts deutlich interessanter. Ein Fehler ist jedoch systemimmanent: der Quotenfetischismus der Medienindustrie.

Inhalte, ähnlich kantig und eigenständig wie eine Phono-Radiokombination SK55 von Rams, verschwinden in diesem populistisch orientierten Medien-Meinungsbildungs-Modell in einem Giftschrank aus Late Night und Early Bird-Formaten. Der Prime-Time-Quoten-Kopfgelee wird von einer nicht minder wabbeligen gestalterischen Dimension flankiert. Im Falle des European Song Contests versuchen die zentralen Motive des jeweiligen Jahres zumindest rudimentäre Inhalte zu kommunizieren: 2017 waren das visuell umgesetzte Elemente aus einer traditionellen ukrainischen Halskette - verständlich, unaufdringlich, ehrlich - hier blinkt sogar einiges aus der Rams-Agenda auf. Betrachtet man dagegen die Gesamterscheinung, die Corporate-Design-Elemente der Gesamtveranstaltung und die einzelnen Bühnenauftritte der Länder, ähnelt die gestalterische Zielgruppenorientierung einer Verbringung ins assoziative Guantanamo.

Politisch-gestalterische Dimension

Ganz im Sinne marketingtechnisch stringenter Überlegungen und in geradezu obszöner Art wird hier eine gestalterische Opportunität ausgelebt, deren Resultat ein Zerrbild eines für viele Menschen nicht mehr erkennbaren europäischen Profils ist. So gesehen können schon profane Kommunikationsformate wie der ESC eine spezielle Art der Sensitiven (Europa-) Epilepsie auslösen, vor der uns die Playstation bei jedem Neustart warnt. Man kann deshalb in Bezug zur Wahrnehmung Europas beim ESC von einer politisch-gestalterischen Dimension reden und so wie sich der Auftritt jetzt gestaltet, leider.

Tauchen wir also tiefer ein in dieses paneuropäische Kompetitiv-Spektakel visueller Erlebnisdimensionen. Erster Tauchgang und oft unterschätztes Brennglas der Identität ist das Logo, eine Art Repräsentant von Werten im Superkompaktformat. In unserem ESC-Fall scheint es einer dynamisch-seriell geführten Magic-Marker-Hand im Keller einer Grossagentur entgestiegen zu sein. Ganz politisch korrekt gekleidet, rückt das Logo das jeweilige Land in das Herz des Schriftzuges. Das man die zweite Zeile «Song Contest» ursprünglich in einer brutalistischen Schrift gestaltet hat, ist einerseits zum Teil dem Namen der Schrift geschuldet – es ist die um 1960 entwickelte «Eurostyle» von Aldo Novarese – andererseits sicher historisch begründet. Denn 1957 gab es auch den ersten Aufschlag zur Europäischen Föderation: die EWG. Eine gestalterisch unbequeme Entscheidung, denn die Buchstaben hatten die Eleganz und Wucht einer Betonmischmaschine. Seit 2017 wird diese Schrift leider ersetzt.

Jenseits der formalen Diskussion um das Logo und Keyvisual beginnt die gestalterische Kernschmelze des ESC mit den scheinbar spezifischen visuellen Länderauftritten. Gewollt oder ungewollt versucht in diesem Tohowabohu eine Art Corporate-Stage-Design eine europäische Ordnung zu schaffen.

ESC-Verirrungen

Über die Jahre ist aus diesem unsäglichen Event-Setzkasten eine frankensteineske Veranstaltung entstanden, in der sich Archetypen einfachster Machart auf einer gestreamlineten Bühne die Klinke in die Hand geben: Der wahnsinnige Fiedler beispielsweise, der egal ob auf Bratsche, Geige oder Cello, mit seinem Bogen den Handsäge-Weltrekord von Dirk Braun in Frage stellen will. Die dunkelhaarige Herr-der-Ringe-Eisprinzessin mit Geekstyle Tattoo, Wolpertingerinnen aus Romantik-Fee und Lara-Croft-Egoshooter oder ein politisch scheinbar korrektes Pocahontaskonstrukt sind zwar mitunter unterhaltsam anzusehen, aber alles andere als interessant. Die dazu gezündeten digitalen Mapping- und Pyrotechnik-Blendgranaten lassen im Einklang mit der konturlosen Unterhaltung aus Derivaten einen unbedingten Willen zur medialen Wucht erahnen, der fast jeden Nonkonformismus oder gestalterischen Idealismus einen rechten Mike Tyson-Haken mit anschliessendem K.O. verpasst. Um Adorno frei zu zitieren: Es handelt sich hierbei um eine spezielle mediale Form des «Verblendungszusammenhangs».

2017 reihten sich in der Folge lustig wackelnde VW Bullis, Led-Masken, historische Kanonen und viele scheinbar sinnentleerte Dinge auf der Bühne so aneinander, dass zumindest in meinem Fall im Stau der Null-Inhalte ein unweigerlicher Auffahrunfall mit einem kurzfristigen Unterhaltungs-Schädel-Hirn-Trauma folgte. Mein Heim-TV hat zwar immer mehr Diagonale und Schwarzwert, aber noch keinen Sinn-ABS oder Headbanging-Airbag. Dennoch, es bleibt müssig alle diese ESC-Verirrungen weiter aufzuzählen, denn die werden jeden Tag durch viele Medienformate über uns ausgeschüttet. Mich interessiert vielmehr, dass die gestalterische ESC-Gewinner-Mechanik 2017 offensichtlich nicht ganz gegriffen hat.

Unbeugsame Italiener und Portugiesen, sonst eher für leichte Ramazotti Muse und Fadoverzweiflung bekannt, haben diesen europäischen Mega-Event in diesem Jahr mit ganz unterschiedlichen Strategien in Frage gestellt

Der italienische Beitrag wurde ja schon viel von Insidern diskutiert. Vielleicht gerade deshalb definiert er im Umfeld der Social-Media-Diskurse eine gelungene Möglichkeit, in einem übermächtigen industriell-gestalterisch-medialen Komplex einen indviduell-subversiv-ironischen Haken zu schlagen. Kritische Inhalte mit Partyoption und Urlaubsfeeling – das gab’s auf nationaler Ebene zum letzten mal bei «Geiersturzflug» und «Brottosozialprodukt». So sehr mir persönlich die positive Bewertung schwerfällt, haben wir es hier mit einer Strategie zu tun, die mehr bewirkt als konservatives Denken wahrhaben will. Ich will mal versuchen, die italienische Inhaltsperle der leichten Muse von Francesco Gabbani zu übersetzen:

Titel:  Occidentali's Karma

Text: Sein oder Sein müssen, Hamlets Zweifel, so gegenwärtig wie beim Mensch der Jungsteinzeit  /  machs dir bequem in deinem 2 x 3 Meter Käfig: Intellektuelle in den Cafes, Internetgläubige / Ehrenmitglieder in der Gruppe der anonymen Selfie-Süchtigen / die Intelligenz ist aus der Mode gekommen / einfache Antworten / unnütze Zwickmühlen….Die Menge schreit ihr Mantra, die Evolution strauchelt / der nackte Affe tanzt / es regnet Tropfen aus Chanel auf keimfreie Körper / rette dich vor dem Geruch deiner Mitmenschen / alles Neunmalkluge übers Web / Kokain fürs Volk / Opium für die Armen / gesucht wird virtuelle Humanität.

Betrachtet man die in der Post-ESC-Phase immer noch laufenden Interpretationsversuche von «Occidentalis Karma» in unterschiedlichsten Bevölkerungsschichten und die dadurch initiierte Recherche zu Begriffen wie Karma, Panta Rei, Hamlet usw., erscheint mir hier eine interessante Variante des so oft zitierten Bildungsauftrags des öffentlich rechtlichen Rundfunks unfreiwillig zwar, aber auf europäischer Ebene, gelungen.

Inhaltlich kann da der portugiesische Beitrag von Salvador Sobral nicht mithalten, aber auch er markiert eine medialen Scheideweg, die den Effekt zugunsten einer möglichst einfachen Präsenz auf einer europäischen Bühne verdrängt. Sobral ist ein Soft-Indiz für eine massenmediale Kommunikation, die schon längst nicht mehr irgendwelchen Maketingarchetypen folgt, sondern im Positiven eine neue Form der Shizophrenie definiert: den massentauglichen Individualismus.

Und was haben die im Teich der leichten Muse schwimmenden Gabbani und Sobrals mit einem gestalterischen Schwergewicht wie Rams zu tun?

Alle drei definieren unterschiedlicher Strategien einer gesellschaftliche Suche nach einer kollektiven Ergonomie des Verstehens. Rams als die erhabene Klassiker-Ikone einer reduzierten und klaren Produktwelt, Gabbani und Sobral als kurzlebige Formate einer sich immer schneller drehenden Medienwelt. Womit wir wieder in an den Grenzen der kritischen Theorie entlang schrappen: Hier wird, zugegebenermassen höchst unterschiedlich gewichtet, einer übermächtigen Mythologie, die sich über positivistische Quotentreue und Umsatzzahlen definiert, eine individuelle bewusstseinsbildende Position gegenüber gestellt. Der Einzelne gerät so nicht zum annulierten Protagonist, sondern es eröffnen sich ihm Optionen ausserhalb des ergonomisch- oder unterhaltsam-Totalitären.

Die Menge schreit ihr Mantra, die Evolution strauchelt, der nackte Affe tanzt, es ist wirklich an der Zeit für ein neues «Less is more».

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