Schon Friedrich Schiller hat gedichtet: «Es schwinden jedes Kummers Falten, / solang des Liedes Zauber walten.» Aber mal ganz im Ernst: Wie lange soll ein Sänger singen? «Bis er umfällt», grummelt es stumpf aus den Rollatorreihen der Popfraktion. Und es stimmt auch: David Bowie (69) und Leonard Cohen (82) sind gestorben kurz nach der Veröffentlichung von Alben, die deutlich den Charakter von Nachrufen zu Lebzeiten auf sich selbst haben. Die kreglen Rockopis von den Rolling Stones haben gerade eben erst ein richtig neues Album veröffentlicht.

Irgendwo krächzt auch immer noch der 75-jährige Nobelpreisträger Bob Dylan. Die ein Jahr jüngere Barbra Streisand hat kürzlich eine neue Broadway-CD veröffentlicht, wo sie wohlig maunzt. Und die beiden süssen Senioren Charles Aznavour (92) und Juliette Gréco (89) halten auf der Bühne nach wie vor die Flamme des französischen Chansons am Flackern.

Klar, die Nachgeborenen wollen die Legenden der Eltern hören und diese haben längst unter Beweis gestellt, das auch im endlosen Sonnenuntergang des Bühnenlebens vokales Schmirgelpapier noch sexy reiben kann. Man reduziert die Mittel, intensiviert sie womöglich, legt die Töne tiefer, gewachsene Persönlichkeit macht schwindende Stimme wett. Oder man tut wenigstens so als ob – zaubern haben sie schliesslich alle in unzähligen Tourneejahren gelernt.

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Industrie und Medien bauen keine Stars mehr auf

Wie aber geht das in der Oper, wo zunächst nicht das Originelle, sondern die technische Erfüllung des Notentextes, die Einreihung in die Tradition, die Fortführung der Galerie illustrer Vorgänger gefragt ist? Mit heraushörbarem Timbre, individuellem Zugang, versteht sich, sonst wird ja kein Star geboren.

Da erleben wir zurzeit ein Paradox: Einerseits wird bei den Jungen gnadenloses Typecasting betrieben, wird besonders bei den den Markt überschwemmenden lyrischen Sopranen schnell aussortiert, wer die 45er-Benchmark überschritten und sich nicht besonders profiliert und damit für den Betrieb unentbehrlich gemacht hat.

Andererseits aber wird, weil Industrie und Medien immer weniger Stars aufbauen, an den verbliebenen Primadonnen und Primi Uomi eisern festgehalten. Auch wenn die längst ihren Zenit überschritten haben, brüchige Töne und kurzer Atem von der gnadenlos verfliessenden Zeit, dem sonderbaren Ding, künden.

«Wer rastet, der rostet»

Sie wollen nicht loslassen, die Helden des Langspielplatten- und CD-Zeitalters. Am 5. Dezember wurde José Carreras 70 Jahre alt, am 23. Edita Gruberová. Am 21. Januar feiert der zum Bariton umfirmierte Plácido Domingo offiziell seinen 76. Geburtstag, in Wirklichkeit ist es wohl der 80. Und eben hat Montserrat Caballé (83) gemeinsam mit ihrer Tochter als Besuch der sehr alten Dame einige deutsche Konzerte im Sitzen absolviert: inklusive Katzenduett und «Carmen»-Habanera.

Doch während Carreras bereits zum wiederholten Mal erklärt hat, nun endgültig auf der allerletzten Abschiedstournee zu sein, folgen die anderen dem von Domingo schon auf seiner Webseite kämpferisch vorangestellten Motto: «Wer rastet, der rostet».

Die Alten lassen die Kasse klingeln

Domingo und Gruberová haben bis mindestens 2018 noch szenische Aufführungen im Kalender. Der einstige Tenorissimo hat eben seinen Vertrag als Opernchef in Los Angeles verlängert, präsentiert und dirigiert eine «Aida»-Stadientournee, singt im Mai bei der Gala zum 50. Jubiläum der neuen Metropolitan Opera und ein paar Tage später beim eigenen Halbjahrhundertfest an der Wiener Staatsoper; wo er, wenn ihn keiner hindert, im Juni allen Ernstes als Marquis Posa in Verdis «Don Carlo» zu debütieren gedenkt.

Eine neue CD mit Gitarrenbegleitung ist zudem bei Sony in Planung, und auch in Salzburg ist er selbstverständlich 2017 wieder singender Festspielgast. Weil wenigstens bei ihm die Kasse noch klingelt.

Ein Musterfall für Marketingstudenten

Es wäre eigentlich ein Musterfall für Marketingstudenten, zu untersuchen, wie es möglich war, dass sich beispielsweise José Carreras so lange halten konnte. Denn die einst sonnenstrahlig konzentrierte Latinostimme hatte wegen zu schwerer Rollen schon Mitte der Achtziger, nach knapp 15 hektischen Karrierejahren in der Hochzeit der Plattenindustrie, einen schweren Schlag. Und nach seiner körperlich glücklich überstandenen Leukämieerkrankung war sie nur noch ein Schatten.

Doch unterstützt von seinem Ruhm, Mitleid, guten Wünschen und vielen Benefizeinsätzen gelang es dem Katalanen zumindest bei einer nicht eben opernaffinen Fangemeinde weiterhin als Superstar zu firmieren – 30 Jahre als Schattenmann der Oper.

Ob dem nach wie vor angeschlagenen Rolando Villazón, der inzwischen fast jede anspruchsvollere Rolle kurz vorher wieder cancelt, mit Moderationen, Crossover-Konzerten und Barockspielereien Ähnliches beschieden sein wird?

Abhängige Familien und Steuerschulden

Der Mexikaner hat sich immerhin kraft Persönlichkeit und Charme in die Herzen gesungen. So wie einst Montserrat Caballé, die stets über sich selbst lachen konnte, aber heute traurig stimmt, weil sie, von Steuerschulden geplagt, offenbar das Geld braucht, und – wie Domingo mal stoßgeseufzt hat – einige Dutzend Familienmäuler zu stopfen hat. Diese Monstrés sacrés von gestern haben meist nämlich monströse, von ihnen abhängige Familienclans.

Singen hat mit Endlichkeit zu tun. Ist ein Ton verklungen, ist er für immer vorbei, auch wenn ein Speichermedium seinen Schatten festhält. Wenn man die Technik wirklich beherrscht, wenn man die Rollen durchdrungen und verstanden hat, dann lässt meist der Vokalapparat nach.

Die einen retten sich dank ihrer Stilistik in weitere Karrierejahrzehnte wie Nicolai Gedda oder Alfredo Kraus, die bis hoch ins achte Lebensdezennium hinein vorbildlich klangen. Oder sie mogeln sich durch stetig kleinere, teils klassische Altersrollen wie Klytämnestra, Herodias, Küsterin, Ägisth oder Timur; wobei es da meist die Bässe am leichtesten haben und am längsten aushalten. Was gegenwärtig der auch schon 70 Jahre alte John Tomlinson unter Beweis stellt.

Das älteste Haus am Platze

Es gibt natürlich immer auch die, die früh, zu früh, wie Fans finden, den letzten Ton gestemmt haben. Dietrich Fischer-Dieskau war 67, Birgit Nilsson und Christa Ludwig waren 66 Jahre alt, Leonie Rysanek 70. Maria Callas sang unfreiwillig bereits mit 37 ihre letzte Opernaufführung. Elisabeth Schwarzkopf und Brigitte Fassbaender zogen sich mit 56 Jahren von der Bühne zurück.

Das wahre Altersheim noch aktiver Sänger scheint inzwischen die Berliner Staatsoper zu sein. Da versammelten sich nach der gerontologischen «Meistersinger»-Premiere 2016 Daniel Barenboim (74) und Jürgen Flimm (75) kürzlich bei der «Elektra»-Premiere erneut in den Nebenrollen Cheryl Studer (61), Roberta Alexander (77), Donald McIntyre (82) und Franz Mazura (92).

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