Die derzeit grösste Frage zur Präsidentschaftswahl in den USA ist nicht, wer sie gewinnen wird. Sie lautet: Wie konnte das nur passieren? Wie konnte es passieren, dass plötzlich zwei eigentlich unwählbare Kandidaten zur Wahl stehen?

Der eine: das Sinnbild eines durchtriebenen Geschäftsmannes, der – wie mir öffentlich-rechtliche Kollegen, die ihn trafen, schildern – nichts anderes ist als ein «primitiver Kerl» und nur mit den «besten Beratern» regierungsfähig zu machen ist. Die andere: eine seit Jahrzehnten in die wirtschaftspolitischen Netzwerke verstrickte Drahtzieherin, die – wie von Wikileaks veröffentlichte Dokumente zeigen – im Wahlkampf ganz anders redet als hinter verschlossenen Türen vor Goldman-Sachs-Bankern.

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Pest oder Cholera

Beide Politikermodelle sind unerträglich. Beide Modelle in den letzten Wochen dieses grenzwertigen Wahlkampfes mitzuerleben, zu einem Moment also, wo nichts mehr an der Kandidatenfrage zu ändern ist, ist noch viel unerträglicher.

Wen soll ein US-Amerikaner, der sich für anständig hält und einen anständigen Präsidenten haben will, nun wählen? Der ausgebootete Bernie Sanders wäre in diesen Zeiten wohl der Idealkandidat im Präsidentenamt gewesen. Aber nun steht man auf der anderen Seite des Atlantiks da und hat die Wahl zwischen Pest und Cholera. Und die Folgen sind in jedem Falle, um im Bild zu bleiben, pandemisch.

In der Politik passiert nichts zufällig

Die Frage also noch einmal: Wie konnte das passieren? Da fällt einem erst einmal Franklin D. Roosevelt ein, der sagte, dass in der Politik nichts zufällig geschieht. «Wenn etwas geschieht», sagt er, «dann kann man sicher sein, dass es auf diese Weise geplant war.»

Sollte seine Weisheit immer noch stimmen, ist Donald Trump den Republikanern nicht einfach so passiert und durchs System gerutscht. Das gleiche gilt für Hillary Clinton. Umso erstaunlicher ist nun die Empörung, wusste man doch vorher, mit wem man es da zu tun bekommt. Zumindest innerhalb des politischen Systems muss das klar gewesen sein. Aber ausserhalb?

Der Wähler ist plötzlich durch strategisch eingesetzte Enthüllungen über beide Kandidaten mit neuen Wahrheiten konfrontiert. Mitten im Wahlkampfendspurt. Meine amerikanischen Freunde und Bekannten, so erfahre ich in diesen Tagen, sehen sich in einem unauflösbaren Dilemma. Die Gruppe der Nichtwähler müsste auf ein nicht gekanntes Mass anwachsen.

«Wer nicht mitmacht, fliegt raus!»

Wer mit welchem Ziel welchen Kandidaten in Position gebracht hat, ist sicher spannend. Die Recherchen gäben viele Titelstorys her. Spannender jedoch ist, über eine Utopie (übersetzt vom Griechischen «eu topos», was eben den «guten Ort» meint) nachzudenken und zu hinterfragen, welche Vorsorge zu treffen ist, dass so etwas nicht noch einmal passiert.

Als ich mit meinem Journalistenkollegen Ulf Goettges für unser Buch «Du sollst den Wähler für dumm verkaufen» vor der Bundestagswahl 2013 tief ins politische System der Berliner Republik eintauchte, begegneten wir durchaus auch Verhaltensweisen und moralischen Haltungen wie sie jetzt bei Donald Trump und Hillary Clinton zu erkennen sind. Erinnern Sie sich noch an die Pöbeleien von Ronald Pofalla? Damals schlussfolgerten wir: «Die weit um sich greifende Politikverdrossenheit ist hausgemacht. Denn wer in die Politik geht, internalisiert sehr schnell die Regeln dieses Berufs, die sich am Ende auf eine Grundregel reduzieren lassen: Wer nicht mitmacht, fliegt raus!»

Eine Selbstverpflichtung, sich ehrlich zu machen, also für den Wähler gläsern zu sein, würde viel zur Integrität des politischen Personals beitragen. Das würde unlautere Karrieren wie die der SPD-Politikern Petra Hinz verhindern, die ihren Lebenslauf gefälscht hatte. Das würde Licht in die Terminkalender von Parlamentariern und Lobbyisten bringen und bestimmte Entscheidungen erklären. Wieso daher nicht die erwähnte Grundregel umtexten: «Wer beim Hinterfragen der Kandidaten nicht mitspielt und sich schon vorher nicht gläsern macht, fliegt raus!» Schön wär’s.

Nach moralischen und humanistischen Gesichtspunkten bewerten

Weil wir aber nicht so recht an die Systemsanierung von innen heraus glaubten, plädierten wir am Ende unter anderem für ein unabhängiges, überparteiliches und völlig unverdächtiges Kontrollgremium, eine Art politischen Ethikrat, welcher das Parteienpersonal und dessen Entscheidungen nach moralischen und humanistischen Gesichtspunkten bewertet und öffentliche Rügen aussprechen kann.

Das hätte durchaus Wirkung. Zum einen, weil sich der Wähler dauerhaft, also auch in Nicht-Wahlkampfzeiten, eine Art Anständigkeitsindex errechnen kann – das würde auch die Sympathiebarometer in den Umfragen von ARD und ZDF weit authentischer erscheinen lassen. Zum anderen müssten sich Politiker dauerhaft und unmittelbar mit ihrem Verhalten auseinandersetzen und Rechenschaft darüber ablegen.

Das Enttäuschungspotenzial muss erheblich reduziert

Der Vertrauensvorschuss, den Wähler ihren Politikern bei jeder Wahl geben, ist tausendfach enttäuscht worden. Will man das politische System wirklich zukunftsfähig gestalten, muss aber das Enttäuschungspotenzial erheblich reduziert werden. Vertrauen wiederherzustellen funktioniert nur mit einer völlig anderen, wieder am Gemeinwohl orientierten Politikkultur sowie anderen Rekrutierungskriterien für die Protagonisten.

Wir leben doch ohnehin in einer Zeit, in der ein Politiker vor keinem seiner Geheimnisse mehr sicher ist. Das hätte auch Donald Trump und Hillary Clinton und deren Wegbereitern klar sein müssen. Hätten sie von vornherein mit offenen Karten gespielt und hätten Reue gezeigt, wäre ihnen entweder verziehen worden oder man hätte sie schon vor dem Start disqualifiziert. So jedoch bleibt nicht viel mehr als völlige Verwüstung.

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