Nutzlos stehen sie in der Gegend herum, wie bestellt und nicht abgeholt: Grenzwärterhäuschen, Schlagbäume, Rampen für die Zollkontrolle bei Lastwagen. Einst staute sich hier der Verkehr. Finger trommelten nervös, Zigaretten wurden angezündet, Kohlenmonoxid verpestete die Luft.

Einst sassen hinter den Glasscheiben Menschen in Uniform, deren Berufsleben aus dem Stempeln von Pässen und Papieren bestand, standen an den Betonrampen Menschen in Uniform mit Schnüffelhunden und fahrbaren Spiegeln. Aus. Vorbei. Zumindest in Teilen Europas.

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«Grenzen waren Markierungen, die nicht nur territorial gezogen wurden, sondern quer durch die Köpfe. Das andere, Unverständliche, Irritierende hatte so einen räumlich abgesteckten, eigenen Ort», sagt der Fotograf Josef Schulz, der vier Jahre lang immer wieder an die staatlichen Trennlinien gefahren ist, um die Nahtstellen zwischen Deutschland und Belgien, Österreich und Tschechien, Spanien und Frankreich mit der Kamera festzuhalten.

West-Berliner kannten sich aus mit Grenzkontrollen

Wie recht er hat! Als West-Berliner kannte man sich mit Grenzkontrollen aus. Jede Fahrt in das Sehnsuchtsland Italien etwa stoppte, kaum dass sie begonnen hatte, am Grenzübergang Dreilinden.
Als West-Berliner musste man seinen «behelfsmässigen Personalausweis» abgeben, als Westdeutscher seinen Reisepass, dann folgte eine Gesichtskontrolle, danach musste man sich einreihen in die Autoschlange, während Pass oder Ausweis per Förderband zum zweiten DDR-Grenzhäuschen ratterte, wo man gefragt wurde, ob man Rundfunkgeräte oder Waffen mit sich führe.

Ein Freund, in dessen Auto wir gen Süden fuhren, machte einmal die dumme Bemerkung, die Kalaschnikow würde er grundsätzlich im Kofferraum lagern. Das kostete uns sechs Stunden. Das Auto, ein Renault 4, wurde auseinandergeschraubt. Wir durften es anschliessend selbst zusammenschrauben und – erstaunlich genug – weiterfahren durch die Deutsche Demokratische Republik.

Am anderen Ende warteten dann die Bayern, die kaum freundlicher verfuhren. Man wusste nie, ob man den bundesdeutschen Beamten in Hirschberg als möglicher DDR-Infiltrant suspekt war, oder schlicht als West-Berliner. Ein R4 oder Citroen 2CV, die bevorzugten Marken der Berliner Studenten, machte einen obendrein als Linksradikalen verdächtig.

Besonders wenn die Haare ein wenig zu lang waren. Weshalb die echten Radikalen Mercedes fuhren und Scheitel trugen. Eine weitere Kontrolle gab es bei Kufstein, dann am Brenner.

Weg, alles weg. Aus der Abfertigungsanlage Dreilinden ist ein Industriepark geworden. Bei Hirschberg steht auf der thüringischen Seite ein Autobahnrestaurant – dort, wo einst die bewaffneten DDR-Grenzorgane ihren Dienst taten. Es ist besser als das Restaurant auf der bayerischen Seite.

Aber es hat irgendwie etwas Obszönes, eine Bratwurst dort zu verspeisen, wo schon die Männer assen, die 1976 den italienischen LKW-Fahrer Benito Corghi erschossen haben. Der stellte damals an der bayerischen Kontrollstelle fest, dass die DDR-Grenzer ihm nicht alle Papiere zurückgegeben hatten, und lief zurück, um sie zu holen. Ein tödlicher Fehler. Der überzeugte Kommunist Corghi wurde von Grenzern eines kommunistischen Staats getötet. Niemand wurde dafür zur Rechenschaft gezogen.

Todesstreifen - einst und jetzt Grenzgänge zwischen Ost und West konnten leicht vom Komischen ins Bedrohliche kippen. Mit einem Freund machte ich Mitte der 80er-Jahre eine Wanderung im Bayerischen Wald. Wir mussten uns unbemerkt der Grenze zur – damals kommunistischen und vereinten – Tschechoslowakei genähert haben, denn plötzlich stiessen wir auf einen Trupp tschechoslowakischer Soldaten, die in ihren Helmen Blaubeeren sammelten.

Anscheinend wusste niemand, wo genau die Grenze verlief. Die Soldaten liessen die Blaubeeren fallen und griffen zum Gewehr. Wir hoben die Hände, und diesmal machte mein Freund – es war derselbe, der an der Kontrollstelle Dreilinden den Witz mit der Kalaschnikow gemacht hatte – keine dummen Bemerkungen.

Nach einigen Sekunden fingen die Soldaten an zu lachen, der Kommandeur reichte uns zum Zeichen des Friedens seine Zigarettenpackung. Wir waren beide Nichtraucher, taten aber tiefe Züge und husteten, sehr zur Freude der Soldaten. Dann zogen sie ab Richtung Osten. Ob eine solche Begegnung mit DDR-Grenzern ähnlich glimpflich abgegangen wäre?

«Die ham die Mauer uffjemacht!»

1989 fiel über Nacht die Mauer. Das Ereignis habe ich schlicht verschlafen. Wir waren am Abend des 9. November in irgendeinem Off-off-Theater gewesen, irgendwo in Berlin-Kreuzberg, anschliessend in einem Lokal. Niemand rannte herein und schrie: «Die Mauer ist gefallen!» Nirgendwo lief ein Fernseher oder ein Radio. Handys gab es noch nicht. Wir fuhren nach Hause und fielen ins Bett.

Am nächsten Morgen musste ich früh zur Bank. Sie war voller Leute in Stonewashed-Jeans, die ihr Begrüssungsgeld abholten. Ich fragte die Kassiererin, was los sei: Sie blickte mich an, als wäre ich vom Mars gekommen: «Die ham die Mauer uffjemacht! Und mir jehn die D-Mark-Scheine aus.»

Man vergisst im Rückblick leicht, dass die Systemgrenze durch Deutschland schneller verschwand als jene zwischen der Bundesrepublik und den benachbarten Demokratien Österreich, Schweiz, Frankreich, Dänemark und den Benelux-Staaten.

Per Fahrrad entlang der innerdeutschen Grenze

Ich erinnere mich gut an das erhebende Gefühl, als wir bei einer Bergwanderung im Allgäu an einem verlassenen österreichischen Grenzhäuschen vorbeikamen. Europa! An dieser Leerstelle wurde die Einheit des Kontinents bereits greifbar, fünf Jahre vor Einführung des Euro: Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.

Mindestens zehn Fotos hat die Wandergruppe damals von dieser Sensation geschossen, die inzwischen Alltag ist, von der polnischen Ostgrenze bis zum Süden Portugals. Und an die sich viele Europäer längst gewöhnt haben, obwohl der grenzenlose Schengen-Raum, in dem jeder überallhin frei und ohne lästige Kontrollen reisen kann, alles andere als selbstverständlich ist.

Oft bleiben die Barrieren im Kopf

Das Glück unserer offenen Grenzen könnte einen dazu verleiten, an den Fortschritt zu glauben. Doch Schulz relativiert: «Da die Schlagbäume schneller verschwinden als die Barrieren im Kopf, bleiben die alten Grenzen im Bewusstsein.»

Und wer Agatha Christies Roman «Der Tod wartet» liest, sollte ebenfalls nicht in Euphorie ausbrechen: In dem Buch reist eine Touristengruppe Ende der 1920er-Jahre von Jerusalem nach Amman und Petra, ohne einen einzigen Grenzposten zu passieren. Auch Ausflüge nach Baalbek und Damaskus sind ohne Komplikationen möglich, das einzige Ärgernis sind die schlechten Strassen (und natürlich eine Leiche, aber das ist eine andere Geschichte).

Heute liegen die herrlichen Tempelanlagen von Baalbek im Grenzland zwischen Libanon und Syrien; die Vororte von Damaskus sind Killing Fields; und dass man überhaupt von Jerusalem nach Amman fahren kann, ist ein kleines Wunder. Erkauft wird es durch einen längeren Aufenthalt am israelisch-jordanischen Grenzübergang.

Touristenziele werden zu No-go-Areas

Ganze Regionen, die noch vor Jahren oder Jahrzehnten selbstverständliche Ziele von Touristen waren, sind heute No-go-Areas, unerreichbar hinter undurchlässigen Grenzen. Aus meinem Abiturjahrgang brachen noch mehrere abenteuerliche Geister mit dem Rucksack Richtung Osten auf und landeten im gelobten Land Afghanistan, wo es den besten Haschisch und die schönsten Mädchen der Welt gab.

Der Libanon war ein weiteres Traumziel: Ob der «schwarze Afghane» oder der «rote Libanese» besser sei, oder doch lieber der «grüne Marokkaner»? Darüber redete man sich bei der «Dicken Wirtin» oder in der «Apotheke» in West-Berlin die Köpfe heiss – oder ging zum Praxistest über, bei dem man leider am nächsten Tag nicht mehr genau wusste, was am Vorabend los gewesen war.

Egal. Man konnte ja noch mal hinfahren: Per Zug nach Istanbul und dann mit dem Auto durch Anatolien und die syrische Küste entlang in den Libanon. Oder durch Francos Spanien hinüber nach Marokko, wo man am Strand von Essaouira Jimi Hendrix treffen konnte. Auch Richtung Iran fuhr man gern mit VW-Bus, Schlafsack und einer gehörigen Portion Blauäugigkeit.

Durchlässige Grenzen sind nicht immer gut

Islamische Länder waren auch deshalb beliebte Reiseziele damals, weil man dort gegenüber unverheirateten Paaren, Kiffern und Schwulen toleranter war als im Westen. Kaum vorstellbar heute, aber wahr.

Während die Welt also dank Billigfluglinien kleiner geworden ist und die Grenzen innerhalb Westeuropas obsolet werden, richtet man anderswo neue Mauern auf. In der Ukraine zum Beispiel. Die Krim, einst Vorzeige-Ferienparadies der Sowjetunion, ist heute besetztes Gebiet, hier führen jetzt russische Grenzer ein strenges Regiment und trennen, was einst zusammengehörte. Neue Grenzen gibt es auch in Abchasien, wo die schönsten Strände und Berge Georgiens liegen.

Andere Grenzen werden porös, aber das ist nicht immer beruhigend; so muss manchmal die Bewachung ins Landesinnere verlegt werden. Bei der Fahrt durch Ägypten freut man sich sogar über die Checkpoints der Armee, die alle paar Kilometer die Fahrt unterbrechen. Tatsächlich aus Sicherheitsgründen. In anderen Ländern lauern an Strassen-Checkpoints oft Wegelagerer im Dienst irgendeines Warlords.

Mahnmale für die einstige Trennung

Die Fotos von Josef Schulz bilden eine Utopie ab, die leider nur in Westeuropa Realität geworden ist und selbst dort wieder gefährdet ist, weil man Flüchtlings-, Arbeiter-, Terroristen- und Geldströme kontrollieren will. «Die Grenzstationen erscheinen als verlorene Hüter, als verblichene Mahnmale für die einstige Trennung», sagt Schulz, um zugleich zu warnen: «Eines Tages könnten sie mit Leichtigkeit wieder in ihrer alten Funktion genutzt werden.»

Dies ist die Situation, in der die weltgrösste Tourismusmesse ITB Anfang März in Berlin stattfand. Als sie 1966 zum ersten Mal unter dem Funkturm ihre Tore öffnete, stellten sich nur fünf Länder vor: Ägypten, Brasilien, Guinea, der Irak und die Bundesrepublik Deutschland.

Dieses Jahr waren Aussteller aus über 180 Ländern dabei, erstmals seit Jahren war sogar Afghanistan wieder mit von der Partie. Man möchte glauben, möchte hoffen, dass der Tourismus mit dazu beiträgt, Grenzen einzureissen, und sei es erst einmal nur die in den Köpfen.

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