Moto Guzzi hat nach sehr altem Rezept einen völlig neuen Motor gebaut. Einen klassischen Guzzi-Zweizylinder mit den V-förmig gespreizten, gerippten Zylindertürmen links und rechts vom Tank. Genau so sah das schon vor 50 Jahren aus: Die herausragende Grundkonstruktion eines luftgekühlten Zweizylinders mit längslaufender Kurbelwelle, untenliegender Nockenwelle und altväterlichen Ventilstösseln.

Prinzipiell ist alles, wie es damals war. Dieser neue alte Motor allerdings ist von der jüngsten und besten computergesteuerten Werkzeugmaschinengeneration gefertigt, und sie wird wie alle Guzzis im Stammwerk von Mandello del Lario montiert. Dieser Motor hat 850 Kubikzentimeter und 55 PS. Moto Guzzi liefert ihn in zwei neuen Modellen aus, dem V9 Bobber und dem V9 Roamer. Bis auf die Räder, die Telegabel, die Federbeine und den Auspuff sind die Motorräder technisch identisch, der Motor ist es sowieso. Der Roamer kostet 9990 Euro (10'990 Franken), der Bobber 10'390 Euro (11'490 Franken).

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Unsportlich-beschauliche «Cruiser»

Beide Guzzis sind so etwas wie eine Fristverlängerung für eine abgelaufene Epoche der Motorradgeschichte. Sie war intensiver, berauschender, schlicht überwältigender als alles andere danach. Mit Ausnahme der Sportster von Harley-Davidson gibt es nichts Vergleichbares. Zwar haben von Honda bis Yamaha die meisten Hersteller Motorräder im Programm, die den Guzzis ähneln: Es sind Bikes mit mässiger Leistung bei üppigem Hubraum, bequem zur Hand gehenden Lenkern, einladenden Sitzen, entspannter Fahrhaltung und einer Gangart, die nicht kraftlos, aber eher unsportlich-beschaulich rüberkommt. Motorräder dieses Typs fasst die Branche inzwischen unter dem Begriff «Cruiser» zusammen.

Mit der Euphorie des Guzzi-Gefühls fängt die V9 gleich nach dem Anlassen an, und zwar mit dem ersten Gasstoss. Drehzahlmässig gehört die Guzzi zu den schwer bollernden Stampfern, nicht zu den Hechlern. Die Kolben sind mächtig, die Kurbelwelle schwer. Bei der Guzzi zieht deshalb die Wucht der loskreiselnden Mechanik das ganze Motorrad zur Seite, und alle Guzzisti lassen sich bestätigen: Wer hier aufsteigt, ist Maschinist, dann erst Motorradfahrer.

Mit wenig PS versetzt in die 50er-Jahre

Wem das beim ersten Anrollen noch nicht dämmert, dem hämmert es die Guzzi ein: Das hier ist das Beste, das Maschinen aus dem Dampflokomotivzeitalter zu bieten hatten; ein unvergessliches Etwas zwischen Mensch und Maschine, das so verschwunden ist wie der Geruch heissen Öls aus schwitzenden Dichtungen. Der neue 850er Motor duftet nicht nach Öl, er blutet auch keine Ölflecken auf den Garagenboden. Aber die Zauberformeln bulliger Nummer-sicher-Konstruktionen aus den 50er-Jahren funktionieren so hinreissend, so überzeugend wie früher.

Der Motor bringt nur 55 PS. Das ist nicht berühmt, obwohl es für 180 Spitze reicht. Aber wer tief im Drehzahlkeller bei gemächlich kurbelnden 2000 Umdrehungstouren das Gas aufreisst, lernt die Guzzi richtig kennen. Wo moderne, doppelt so hochdrehende Maschinen kurz vorm Abwürgen sind, schwillt hier der ganz dicke Bizeps: ein Drehmoment von über 60 Newtonmeter. Die V9 wuchtet sich bollernd, pochend aus niedrigsten Touren empor, legt allmählich, dann freudestrahlend immer mehr, immer schneller Tempo zu bis in den Begrenzer hinein.

Der regelt schon bald ab, bei unbeschwert anrennendem Motor. Wieso schon so früh? Warum nicht 2000 Umdrehungen später, dann bei 80 PS Spitzenleistung? Die alte Stösseltechnik, die untenliegende Nockenwelle, nicht einmal die Luftkühlung ist das Problem. Es ist die Kurbelwelle, ihre exzentrische Wucht. Das Gehäuse, in dem sie läuft, ist den Kräften nicht gewachsen.

Heutige Technik macht die Maschine geschmeidig

Die V9 gehört zu den wenigen Motoren, die trotz Euro 4 mit klassischer Luftkühlung klarkommen. Das muss ein paar schlaflose Nächte gekostet haben – mit sonderbaren Lösungsvorschlägen am Morgen danach. Bei der V9 ist die Lösung ein fingerdickes Loch in den Zylinderköpfen. Sieht aus wie ein Durchschuss, der Blick ist unverstellt. Im Inneren ein zweiter Geniestreich: ein kompliziertes Bohrungsgewürm durch die Wandungen des Zylinders fürs Motoröl.

Hinzu kommen computergesteuerte Einspritzung statt Vergaser, geschmiedete Metalllegierungen, die vor 50 Jahren unmöglich waren, eine ganze Batterie von Sensoren. An dieser Maschine klappert, rüttelt, scheppert, schleift und stuckert nichts, sie läuft mechanisch geschmeidig, und das immer, bei jeder Drehzahl, bei jeder Belastung. Nur der Kardan sirrt und singt manchmal im Sopran aus den Zahnrädern. Aber dafür arbeitet er auch ruckfrei, unauffällig und ohne Fahrstuhleffekt.

So gediegen, so unverwüstlich langlebig wie dieser grossartige Motor ist so ziemlich alles an den beiden V9-Modellen. Alles ist echt, alles massiv, alles aus Aluminium, alles aus aus Metall, von den Schutzblechen bis zu Scheinwerfer und Tank. Dann und wann sogar Schrauben aus Edelstahl. Die Philosophie, die Haltung dahinter klingt konservativ: Das hier ist eine Anschaffung fürs Leben, erbfähig über das Ende des Benzinzeitalters hinaus.

Leichtgewicht mit Show-Qualitäten

Trotz aller kostspieligen, aber schwergewichtigen Qualität kommen die Bobber wie die Roamer auf ein sensationell massvolles Gewicht: 209 Kilo, fahrfertig mit vollem Tank. Zum Vergleich: Die Sportster 883 von Harley-Davidson, die für Amerika genau das verkörpert, was die erneuerte Guzzi-Legende für Europa ist, kommt auf rund 50 Kilo mehr. Das sind im Motorradbau Welten.

Die Sitzhöhe fällt bei beiden Modellen mit um die 80 Zentimeter niedrig aus. Dennoch sind Kniewinkel und Sitzposition für grosse Fahrer entspannt, bei der Roamer spürbar mehr als bei der Bobber. Die fährt vorn mit einem dicken, aber unüblich kleinen Rad (16 Zoll), was den Kurvenswing nicht erleichtert. Aber es ist gut für die Show, zudem ist das ganze Motorrad mattschwarz lackiert. Die Roamer, vorn mit grossem 19-Zoll-Rad, fährt sich viel besser.

USB-Anschluss für Datenfans

Sie schwenkt ideal in die Kurven ein, nichts muss erkämpft werden. Und dann streckt der Lenker seine Rohrenden auch noch mit derselben einladenden Geste entgegen, die in den 70ern alle Welt von Easy-Going-Hippie-Motorrädern erwartete. Damit ist allerdings Schluss bei Strassenverwerfungen oder üblem Fahrbahnbelag. Die Federbeine hinten sind schnell am Ende.

Und dann ist da noch etwas, ein USB-Anschluss fürs Smartphone am Lenkkopf. Jetzt kann man sich kostenlos eine Moto-Guzzi-App aufs Handy laden, womit die Guzzi auf eine Infodichte wie im Kontrollzentrum von Houston oder einem Atomkraftwerk kommt: Öldruck und -temperatur, Verbrauch, die fantastischsten, ausgefallensten Parameter, auch die Entfernung zum Mond – vermutlich. Wir haben das nicht vertieft, weil wir den Zündschlüssel einschoben, nach links drehten, und da war es wieder. Alles, wie es damals war.

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