Es gab ja Jahre, da hätte man in einem hessischen Polizeipräsidium lieber in die Auslegeware gebissen, als eine Tasse Tee vom zuständigen Ermittler anzunehmen. Da konnte man so durstig sein, wie man wollte. Der Tee – das sagte einem die «Tatort»-Erfahrung – war entweder versetzt mit Hochprozentigem oder mit sonst einer Droge, auf jeden Fall musste man sich vor ihm hüten.

Hessische Kommissare waren teilweise noch unzurechnungsfähiger, noch gefährlicher, als die Mörder, denen sie nachjagten. Manchmal – als noch Nina Kunzendorf als Conny Mey durch die eichenhölzernen Flure des Frankfurter (Fernseh-)Kommissariats stakste – waren auch nur ihre Beinkleider mörderisch. Aber das ist eine andere Geschichte.

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Alles anders

Jetzt ist sowieso alles anders. Im Frankfurter «Tatort»-Präsidium ist eine angenehme Kuhwärme ausgebrochen, das Einzige wahrscheinlich, das die menschliche Kälte erträglich macht, in der Kommissare heutzutage halt herumstochern müssen. Man ist plötzlich gerne da. Ganz ohne Arg.

Weil da jetzt Anna Janneke ermittelt, eine Kommissarin mit hohem Muttiquotienten. Die hat irgendwie immer eine Teetasse in der Hand. Und man kann ihr unbedingt vertrauen. Sie meint es gut. Sie hat prima Umgangsformen. Sie will nur das Beste.

Beinahe Selma Jacobi

Das Schlimmste hat Anna Janneke lange hinter sich. Nicht, weil sie eigentlich Psychologin ist, aus Berlin kommt und einen irgendwie hippiesken, grossen Sohn samt Enkelkind irgendwo in der nur per Skype erreichbaren Ferne hat, sondern weil sie beinahe Selma Jacobi geheissen hätte. Den Namen hatte sich Margarita Broich einfallen lassen, die Anna Janneke spielt.

Sie hatte ihn von einem Stolperstein. Broich fand das eine gute Idee, an ein Holocaustopfer zu erinnern. Die jüdische Gemeinde beispielsweise in Frankfurt fand das nicht. Und nachdem nun durch diese kurzfristige Aufregung millionenfach mehr erinnert wurde an das Schicksal der Selma Jacobi als durch den sehr ehrenhaften Stolperstein, schenkt also Frau Janneke Tee aus.

Dass da ein bisschen von der hochprozentigen steierschen Existenzessenz von früheren «Tatorten» drin ist, wünscht man sich, da hat der erste Fall für die Seiteneinsteigerin und Brix (Wolfram Koch), den Strassenköter von der Sitte, der nun ebenfalls als Quereinsteiger in der Mordkommission anfängt, noch gar nicht begonnen.

Zwei Leichen liegen herum, zusammengesunken im Kugelhagel am Frühstückstisch, Blutspritzer auf Händen und Eheringen. Die Kamera fährt die Wand lang und an Fotos vorbei. Eine Todesanzeige, Bild eines gefährlich aussehenden Alten, Motto: «Du bist nicht mehr da, wo du warst – aber du bist überall, wo wir sind.» Und dann hängt da ein Fuss mit grünem Turnschuh aus dem Schrank.

Man überlegt sich schon, ob man sich Sorgen machen muss, dass Michael Proehl (Buch) und Florian Schwarz (Regie) da weitermachen könnten, wo sie im legendären hessischen Tukur-Tarantino-Blutbad-«Tatort» aufgehört haben. Muss man aber nicht. «Kälter als der Tod» ist gewissermassen die Innenseite der Eklektizismusexplosion, die «Im Schmerz geboren» so rasant gemacht hatte.

Eine Familiengeschichte

Der Alte von der Anzeige ist Vater und Grossvater der Leichen. Und Auslöser eines Erbstreits. Dass er überall ist, ist erstens wahr und zweitens eine Drohung. Jule, die Tochter der Toten, ist verschwunden. Mitsamt der Nachhilfelehrerin, die für Jule mehr war, als nur Matheunterstützung. Ein Onkel (Roman Knizka) ist noch da. Der führt nicht nur eine der beklemmendsten «Tatort»-Ehen seit Langem. Der ist gefährlich.

Janneke und Brix müssen sich von ihrem Chef (ziemlich herrlich: Roeland Wiesnekker), der Riefenstahl heisst, aber nicht verwandt ist, ob ihres Alters bescherzen lassen. («Wahrscheinlich können Sie sich noch an die Einführung der Wehrpflicht erinnern!») Machen ihr Büro sauber. Dann gehen sie derart geschmeidig in die Teamarbeit, als hätten sie noch nie mit jemand anderem ermittelt.

Allerlei Tricks aus der Fernsehgeschichte

Es gibt wunderbare Dialoge. Es gibt allerlei Tricks aus der Fernsehgeschichte, Schwarz hält mit Leichtigkeit das Schwere in der Schwebe: begehbare Rückblenden, geteilter Bildschirm, aufploppende SMS-Meldungen, als wäre man bei «Sherlock».

Man hat optisch viel von diesem Fall. Die Räume sind grün, sind blau. Sepia färbt die Erinnerungen ein. Der Mond hängt über Frankfurt. Die Sonne geht auf. Was sie beleuchtet, was man sieht bei den Sanders, der Familie der Toten, das ist nicht schön.

Es geht um Menschen, die sich sehnen nach dem Leben, wie es einfach so geschieht, nach Menschen, die sich lieben, Familie sind, wie Familie sein soll. Und zu spät merken, dass die Sanders genau das alles nicht sind.

Da friert es einen dann. Da wird man ganz traurig. Da wünscht man sich, Frau Janneke wär' da. Und würde Tee bringen.

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