Gäste seien wie tote Fische, heisst es: Nach drei Tagen fangen sie an zu riechen. Bei Regierungschefs dauert es für gewöhnlich etwas länger. Die Amerikaner schreiben ihren Präsidenten vor, spätestens nach acht Jahren das Weisse Haus zu räumen. Das ist weise.

Bei deutschen Bundeskanzlern dauert es meistens länger, und oft ist lange vor Ende ihrer Amtszeit ihr politisches Haltbarkeitsdatum abgelaufen. Angela Merkel (CDU) hat spätestens seit dem Jahr acht ihrer Kanzlerschaft die Fortüne verlassen. Und doch bleibt sie die «alternativlose» Kanzlerin. Niemand sonst kann die Implosion des Westens verhindern.

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«Americanism, not globalism!»

Im Weissen Haus sitzt mit Donald Trump bald ein Präsident, der die bisherige Staatsräson der USA zur Disposition stellen könnte. Seine Leitlinie fasst er in dem Slogan zusammen: «Americanism, not globalism!» In Trumps Lesart ist der Freihandel eine Verschwörung gegen amerikanische Arbeitsplätze, die Nato eine Organisation, die europäischen Ländern erlaubt, den USA ihre Verteidigungslasten aufzubürden, Konfrontation die Norm, Schwäche die einzige Sünde.

Über Merkel hat er gesagt, sie «ruiniert ihr Land», weil sie zu viele Flüchtlinge hereinlässt; die Europäische Union ist für Trump der Inbegriff jenes «Globalismus», den er bekämpft. Nigel Farage von der UK Independence Party ist für ihn der wahre Führer des britischen Volks. Sein Chefberater Stephen Bannon bewundert die europäischen Nationalisten, allen voran Marine Le Pen, Geert Wilders und die AfD, die ihrerseits – wie Trump selbst – Wladimir Putin bewundern.

Frankreich und Grossbritannien fallen aus

In dieser Situation braucht Europa eine Führung, die den Zusammenhalt des Westens über alle anderen Rücksichten stellt. Hätten sich die Briten für den Verbleib in der Union entschieden, wäre David Cameron der natürliche Kandidat für diese Rolle gewesen. Jetzt aber ist Theresa May vollständig damit beschäftigt, in ihrem zerstrittenen Kabinett und zusammen mit einem unwilligen Parlament die Blaupause für Grossbritanniens Selbstisolierung auszuarbeiten.

Frankreich, die andere europäische Atommacht, steht vor einer Präsidentenwahl, die im schlimmsten Fall einen Sieg Le Pens, einen Austritt Frankreichs aus dem Euro und vielleicht aus der Europäischen Union – und damit das Ende beider Projekte transnationaler Ordnung – bringen kann.

Im besten Fall wird ein knapp gewählter Präsident der Rechten oder Linken mit der Aufgabe konfrontiert werden, die liberalen Reformen durchzusetzen, an denen seit Jahrzehnten Präsidenten scheitern. Und die der rechtsradikalen Opposition neue Kräfte zuführen dürften. Für eine Führungsrolle in Europa fällt Frankreich aus.

Merkel hat in Europa nicht glücklich agiert

Von den wohlmeinenden und teilweise begabten drei Präsidenten der Europäischen Union wollen wir gar nicht erst reden. Parlamentspräsident, Ratspräsident, Kommissionspräsident: ihre Macht ist nur geliehen. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) wäre deshalb gern Bundeskanzler, aber kein aktiver und mächtiger deutscher Politiker geht freiwillig nach Brüssel. Unter der Ägide Merkels hat sich das «intergouvermentale» Prinzip durchgesetzt: Der Klub wird vom Rat der Regierungschefs regiert, wenn überhaupt; und hier setzt sich, wenn überhaupt, derjenige durch, der genügend Macht hinter sich hat. Und in Europa hat allein Merkel diese Macht.

Diese hat die Kanzlerin freilich nicht kraft ihrer Persönlichkeit, sondern kraft der Wirtschaftsmacht Deutschlands. Merkel konnte die sogenannte Rettungspolitik für Griechenland durchsetzen, weil die Bundesrepublik als grösster Gläubiger letztlich das Risiko trug. In der Flüchtlingspolitik, wo sie weder über Droh- noch Lockmittel verfügte, blieb der von ihr durchgesetzte Verteilungsplan Makulatur; der Deal mit der Türkei ging nur über die Bühne, weil alle Regierungen sich davon Erleichterungen versprachen.

Merkel hat auch – ja gerade dort, wo sie Macht hatte – in Europa nicht glücklich agiert. Das Festhalten an der fiskalischen Austerität hat einer ganzen Generation in Südeuropa die Hoffnung geraubt und die Europäische Zentralbank gezwungen, mit einer allzu lockeren Geldpolitik gegenzusteuern. Das hat Europaskeptikern überall Auftrieb gegeben.

Lockmittel müssen die EU attraktiver machen

Aber erstens hat sie die Macht; und selbst, wenn man diesen Faktor wegdenkt, gibt es – zweitens – niemanden, der ihre Autorität und Erfahrung hat. Italiens Mario Renzi? Ein Leichtgewicht. Und da hört die Suche schon auf. Niemand in Europa steht als Kandidat bereit, den Zusammenhalt der Union und des Atlantischen Bündnisses zu retten, ausser Merkel. Man kann das bedauern, aber man muss es akzeptieren.

Und in gewisser Weise muss man es begrüssen, dass diese Aufgabe einer Frau zufällt, die keine erkennbaren Prinzipien hat und sich an ihr Geschwätz von gestern nicht gebunden fühlt. Denn um die EU zusammenzuhalten und einen populistischen Aufstand zu dämpfen, wird es nötig sein, Dinge ins Auge zu fassen, die aus rein ökonomischer Sicht wenig sinnvoll erscheinen mögen und in Deutschland höchst unpopulär sind.

Dazu gehören Euro-Bonds zur Vergemeinschaftung der Schulden und eine wirksame Einlagengarantie für alle europäischen Sparer; ferner grosse europäische Infrastrukturprojekte und ähnliche Konjunkturmassnahmen und eine Qualitätsoffensive zur Verbesserung der europäischen Schulen und der Mobilität der künftigen Arbeitnehmer.

Diese oder ähnliche Lockmittel werden nötig sein, um die Attraktivität der EU-Mitgliedschaft zu erhöhen, während man gleichzeitig Grossbritannien bei den Brexit-Verhandlungen so weit wie möglich entgegenkommt. Die Versuchung ist gross, das Land zu bestrafen; im Interesse der Bindung Grossbritanniens an Europa muss man dieser Versuchung widerstehen und den Binnenmarkt für Grossbritannien öffnen.

TTIP ist tot, der Freihandel muss leben

Eine einheitliche EU ist auch nötig, um mit den USA und China über die neue Weltwirtschaftsordnung zu verhandeln. Trump droht mit Strafzöllen gegen unfaire Handelspartner, die zunächst China treffen sollen – aber auch Deutschland treffen könnten, da deutsche Exporteure vom Wertverfall des Euro profitieren.

Ausserdem würde ein Handelskrieg zwischen Washington und Peking nicht nur diesen für uns entscheidenden Handelspartnern schaden, sondern auch der Bundesrepublik. Das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP dürfte tot sein, der Freihandel selbst muss gerettet werden.

Vor allem aber darf die Nato nicht zerfallen. Trumps Kritik an den europäischen Partnern ist ja nicht völlig falsch. Wenn der Republikaner die Nato im Geist des «Deals» betrachtet, so müssen ihn die Europäer überzeugen, dass die Nato für Amerika ein gutes Geschäft ist; und das heisst vor allem, dass die Europäer mehr ausgeben und das Geld besser einsetzen: «More bang for the buck», mehr Wumm pro Dollar, wie der frühere US-Präsident Dwight D. Eisenhower sagte.

Die Zeiten der Friedensdividende sind vorbei. Gute Nachrichten übrigens für die deutsche Rüstungsindustrie, die vielleicht eine der fatalsten Entscheidungen Merkels rückgängig machen kann: das Verbot des Zusammenschlusses von British Aerospace und dem deutsch-französischen EADS.

So profillos, dass sie mit allen kann

Das sind die nächsten Aufgaben, und sie setzen ein Best-Case-Szenario voraus, bei dem die EU erhalten bleibt und Trump der Nato nicht den Rücken kehrt. Zerfällt die EU, während sich Trump einem grossen Deal mit Putin zuwendet, wären die Folgen unabsehbar.

Aber da möchte man auch keinen Neuling im Kanzleramt haben. Wer könnte Merkels Job machen? CSU-Chef Horst Seehofer wirkt, als würde ihn schon Bayern überfordern. Finanzminister Wolfgang Schäuble hatte schon nicht das Zeug, gegen Helmut Kohl ernsthaft zu opponieren; er will nicht wirklich führen.

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen fehlt die Geduld. Der alerte Jens Spahn, der oft als junge Hoffnung der Union genannt wird, ist noch dabei, sich mit möglichst provokanten Statements zu profilieren. Ein Staatsmann ist er noch nicht.

Was die SPD betrifft, so hat sie ihren einzigen Aussenpolitiker von Format ins Präsidentenamt katapultiert. Der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel könnte selbst nach der Macht greifen. Die anderen Sozialdemokraten wollen erst gar nicht so aussehen, als wollten sie führen – ausser vielleicht Martin Schulz.

Nein; Merkel muss es machen. Schon allein, weil sie so profillos ist, dass sie mit allen könnte: mit der SPD, den Grünen, der FDP und jeder beliebigen Kombination aus den dreien. Manchmal ist Gesichtslosigkeit eine Tugend, wenn die Alternative Fratzen trägt wie jene der neuen Nationalisten.

Merkels wichtigste Aufgabe freilich wäre es, endlich einen Nachfolger aufzubauen. Dass dies im Augenblick schwieriger erscheint als die Rettung des Westens und unwahrscheinlicher als der Zerfall der EU, spricht Bände über die Verheerungen der Ära Merkel.

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