Möglich, dass am Morgen des 27. Februar – sollte «Toni Erdmann» in der Nacht doch keinen Oscar gewonnen haben – alle anklagend auf diesen Artikel zeigen werden: «Der hat es verschrien, der ist schuld.» Aber man muss, nachdem Maren Ades Film nun auch die zweitletzte Hürde zum wichtigsten Filmpreis der Welt genommen hat, doch einmal auf seine Chancen sehen. Sie sind, gelinde gesagt, nicht schlecht.

Der schärfste Konkurrent ist nicht mehr dabei: Paul Verhoevens Film «Elle», in dem Isabelle Huppert ihren Vergewaltiger aufspürt und ein erotisches Rollenspiel mit ihm beginnt. «Elle» schlug «Erdmann» bei den Golden Globes, aber unter die letzten Fünf für den besten nicht-englischsprachigen Film hat er es nicht geschafft.

«Ein Mann namens Ove» ist eine Art schwedischer «Gran Torino»: Verbitterter Witwer lernt fremdländische Nachbarn kennen und schätzen. Es ist ein Appell an das Gute im Menschen, ein Appell an Toleranz gegenüber Fremden, ein Appell an die Tränendrüsen – und eine sehr gut gemachte Komödie. Es ist allerdings auch ein Formelfilm.

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Der grosse Unbekannte kommt aus Australien

«The Salesman» heisst der neuste Film des Iraners Asghar Farhadi, der vor fünf Jahren mit «Nader und Simon – eine Trennung» jeden nur denkbaren Preis der Kinowelt gewann, inklusive den Goldenen Bären und den Oscar. Es ist ein Vergleich, den «Forushande» (so der Originaltitel) aushalten muss, und an sein Meisterwerk kommt der neue Farhadi nicht heran, auch wenn es wieder ein packendes Drama über ein Unheil ist, das sich aus vielen kleinen, gedankenlosen Handlungen zusammenbraut.

«Unter dem Sand» ist die dänische Hoffnung, obwohl man notfalls auch hierzulande mitfeiern könnte. Nach Kriegswende werden junge deutsche Gefangene zum Räumen der Landminen gezwungen, die ihre Wehrmacht an Dänemarks Küste vergraben hat, und es geht um Schuld und Sühne, Gnade und Rache – und die Hauptrollen spielen Louis Hofmann, Joel Basman und Leon Seidel. Es ist ein hoch eindrücklicher Film und er hat einen bisher unbekannten Blickwinkel auf den Krieg – aber allmählich könnte sich in der Akademie die Meinung verbreiten, das es genug mit Zweitem Weltkrieg ist.

Der grosse Unbekannte heisst «Tanna – eine verbotene Liebe» und kommt aus Australien. Der Film spielt in einer fast archaischen Gemeinschaft auf einer einsamen Südseeinsel, es geht um eine verbotene Liebe, den Konflikt zwischen Tradition und Moderne und einen Vulkan als dramatischem Zusatzelement. Er erinnert stark an Murnaus letzten Film «Tabu», aber der war in Schwarzweiss, und kaum einer der Akademie-Wähler dürfte ihn auf dem Schirm haben.

Maren Ade könnte sich also allmählich überlegen – bitte auf Holz klopfen! –, ob sie in ihrer Handtasche ein künstliches Gebiss in die Verleihungsgala einschmuggelt. Die Favoritenrolle liegt bei ihr, das kann sie so wenig abstreiten wie der FC Bayern seine vor der Partie gegen RB Leipzig.

«La La Land» haushoher Favorit

Als haushoher Favorit geht «La La Land» mit 14 Nominierungen in die Oscar-Nacht; nur «Titanic» (vor 20 Jahren) und «Alles über Eva» (vor 65 Jahren) brachten es auf diese Anzahl. Es ist ein Film, der exakt in die Psyche Amerikas passt: eine Rückkehr in konfliktlose Zeiten, einen Bonbonniere zuckersüsser Hollywood-Nostalgie, ein Film, den man als Kritiker so sehr mögen darf wie als Popcornpublikum. Das könnte ein wichtiger Faktor sein, denn die Oscars haben in letzter Zeit häufig Filme prämiert, die keine Kassenschlager waren; dem verdankt die Übertragung die fallenden Quoten.

Es wäre geradezu tollkühn für die 6000 Wähler der Akademie, sich der Stimmung im Lande zu verweigern. Bei «Moonlight» könnten sie einen guten Grund anführen, denn es ist ein Film von Afroamerikanern über Afroamerikaner, und damit wären die Oscars nicht mehr «so white», wie ihnen vorgeworfen wurde. Die kühnste Entscheidung wäre die für «Manchester by the Sea», in dem die Schicksalsschläge auf Hauptdarsteller Casey Affleck und seine Familie nur so einprasseln – man aber trotzdem seltsam getröstet das Kino verlässt. Es ist er ehrlichste, menschlichste, klügste Film unter allen Kandidaten.

Nun verstellt der reine Blick auf die Zahl der Nominierungen den Blick auf das wirklich Wichtige. Was zählen, sind Nominierungen in den entscheidenden Kategorien: Bester Film, Regie, Drehbuch, Haupt- und Nebendarsteller(innen). Es gibt sieben solcher Kategorien, und deshalb muss man die nackte Zahl unterteilen. Danach ergibt sich eine ganz andere Reihenfolge: «Moonlight» 8 (sechs wichtige/zwei unwichtige), «Manchester by the Sea» 6 (6/0), «La La Land“»14 (5/9), «Lion» 6 (4/2), «Hacksaw Ridge» 6 (3/3). Das Rennen um den Besten Film ist offener, als man denken sollte.

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