In dem Märchen «Der alte Grossvater und der Enkel» von den Gebrüdern Grimm ist der Grossvater ein «steinalter Mann». Er sah und hörte nicht mehr gut, die Knie zitterten ihm. Beim Essen konnte er den Löffel kaum halten. Er verschüttete die Suppe auf das Tischtuch «und es floss ihm auch etwas wieder aus dem Mund».

Davor ekelten sich sein Sohn und seine Schwiegertochter und verbannten ihn beim Essen hinter den Ofen. Einmal «konnten seine zittrigen Hände das Schüsselchen nicht festhalten, es fiel zur Erde und zerbrach. Die junge Frau schalt, er sagte nichts und seufzte nur. Da kaufte sie ihm ein hölzernes Schüsselchen für ein paar Heller, daraus musste er nun essen.»

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Nun kommt der Enkel ins Spiel. Er trägt «kleine Brettlein» zusammen und erwidert auf die Frage des Vaters, was das solle: «Ich mache ein Tröglein, daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich gross bin.» Darauf weinten Vater und Mutter sehr und holten den Grossvater wieder an den Tisch zurück und sagten auch nichts mehr, wenn ihm etwas Suppe aus dem Mund lief.

In aller Unschuld erteilt der kleine vierjährige Bub seinen Eltern nicht nur eine Lektion darüber, dass man Opas nicht wie Schweine behandeln darf, wenn sie nicht mehr ganz so sauber sind. Er erinnert sie auch eindringlich daran, dass das Alter schon bald bei ihnen anklopfen wird, dann nämlich, wenn er selbst «gross» ist. Und schliesslich zeigt er durch sein Verhalten, dass zwischen ganz Jungen und ganz Alten, zwischen Enkeln und Grosseltern eine Art von Einverständnis herrscht, aus dem diejenigen, die «mitten im Leben» stehen, ausgeschlossen sind.

Die Kaltherzigkeit der aktiven Generation

Die moralisierende Absicht des Märchens ist leicht zu erkennen. In der vorindustriellen Gesellschaft war das «Altenteil» kein einladender Ort. Das nötige Minimum an Generationensolidarität war unter bedrängenden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen oft schwer aufzubringen.

Es zu gewähren, gehörte aber zu dem auch durch solche Erzählungen immer wieder erneuerten moralischen Code der Gesellschaft. Mit grimmiger Unausweichlichkeit waren die Generationen aufeinander angewiesen. Aber selbst in solch freudlosen Verhältnissen bringt der Umgang zwischen Enkel und Grossvater einen humanen Wärmestrom in Gang, der die Kaltherzigkeit der aktiven Generation überwindet.

Heute ist natürlich alles ganz anders. Um diese beschwichtigende Floskel kommt man nicht herum. Heutige Grosseltern sind in der Regel weit davon entfernt, «steinalt» zu sein. Irgendwann zwischen Ende 50 und Ende 60 kommt ja dieser generationelle Statuswechsel meist. Da sollte man seine Suppe noch löffeln können, ohne zu kleckern. Senioren haben agil zu sein.

Als Grosseltern erbringen sie vielfältige Leistungen, die in Sozialstatistiken schwer abzubilden sind. Junge Familien, vor allem alleinerziehende Mütter oder Väter, profitieren von den heute noch üppigen Pensionen und Renten der Eltern oder von ihren guten Arbeitseinkommen, über die sie sich gegen Ende ihres Berufslebens freuen können. Abschläge auf das zu erwartende Erbe dämpfen das materielle Risiko prekärer Arbeitsverhältnisse oder vorübergehender Durststrecken des Berufsweges. Wir reden jetzt von der Mittelschicht.

Auch in Grossstädten rücken Generationen zusammen

Wichtiger als finanzielle Hilfe kann Familienarbeit in Form von Kinderbetreuung sein, wenn Eltern und Grosseltern nahe beieinander wohnen. Das ist jenseits der Metropolen weithin Normalität, von der wenig Notiz genommen wird. Aber auch in den Grossstädten rücken die Generationen wieder zusammen.

Wenn an Wochenenden auf Spielplätzen und Wochenmärkten im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg auffallend viele lässig gekleidete ältere Damen und Herren Kinderwagen schieben, dann sind die nicht immer nur auf Besuch bei Kindern und Enkeln. Manche sind darunter, die dauerhaft dem Ruf der Metropole, mehr aber noch dem der Familie gefolgt sind.

Neben allen praktischen Vorteilen, die dieses Zusammenrücken bietet, muss man auch eines bedenken. Wer schon einmal Vater und Mutter war, und bei Grosseltern ist das naturgemäss der Fall, der weiss, wie schnell Kinder sich entwickeln, wie kurz diese wundersame Lebensspanne Kindheit ist und wie viel man verpasst, wenn man nicht dauernd dabei ist. Vor allem Väter wissen davon ein Lied zu singen. Ihnen soll das nicht noch einmal passieren. Vielleicht kann man ja als Grossvater gutmachen, was man als Vater versäumte.

Grossvatersein ist kein Anti-Aging-Programm

Man sollte sich allerdings hüten, nach den «neuen Vätern» nun vor Begeisterung jauchzend das Leitbild der «neuen Grossväter» zu propagieren. Nichts ist schlimmer als ein vor Aktivität vibrierender Turbo-Opa. Grossvatersein ist kein Anti-Aging-Programm. Für Grossmütter gilt das Gleiche.

Man kommt ja nicht daran vorbei, dass die Geburt von Enkelkindern das deutlichste Zeichen dafür ist, dass nun das letzte grosse Lebenskapitel begonnen hat. Wer das Glück hat, die Enkel aufwachsen zu sehen, dem muss klar sein, dass er den nächsten Generationenschritt allenfalls als Hochbetagter erlebt. Und ob seine Pflegesituation dann wesentlich besser ist als die des steinalten Opas im Märchen, das sei dahingestellt.

Frischgebackene Grossväter und Grossmütter sollten also wissen, dass die Zeit, die ihnen bleibt, knapp bemessen ist. Das betrifft die Zeit, die sie miteinander haben, und die Zeit, die jeder für sich hat. Es ist keine gute Idee, sich mit Haut und Haaren in die Grosseltern-Rolle zu stürzen. Grosseltern, die nur alt sind und Zeit haben, sind nicht glücklich.

Vor allem aber: Sie sind für die Enkel ziemlich uninteressant. Es liegt also in beider Interesse, wenn Grossvater und Grossmutter ein ausgeprägtes Eigenleben führen. Oft kommt man ja erst mit dem Ende des Berufslebens zu den Dingen, die einen wirklich interessieren, die einem wirklich wichtig sind. Das muss kein Seniorenmalkurs und auch keine Traumschiff-Kreuzfahrt sein.

Der andere Lebensmodus der Alten

In Kinderbüchern kommt Grosseltern oft die Funktion zu, für das Kind erlebbar zu machen, was «Vergangenheit» und «Geschichte» ist, ja, dass es so etwas überhaupt gibt. Grosseltern kommen aus einer anderen Zeit, aus einer Zeit, in der man noch Papierzeitungen las und deshalb Papierschiffchen bauen kann oder in der man noch Bücher zum Studieren brauchte, deren Titel nun einen Teil der Lebensgeschichte erzählen.

Elementare Kulturtechniken wie zum Beispiel das Kochen, das Haltbarmachen von Nahrung, Gärtnern, das ganze weite Feld des Heimwerkens, auch Fischen oder Jagen werden erfahrungsgemäss öfter von der Grosseltern- zur Enkelgeneration weitervermittelt als von Eltern an Kinder.

Wie schön ist es für ein Kind, einen alten Menschen zu erleben, der etwas mit stiller Leidenschaft und Musse tut! Es hat sonst keine Gelegenheit, diesen Lebensmodus kennenzulernen. Wie heilsam ist es für ein Kind, zu erleben, dass jeder Mensch auch damit irgendwann einmal aufhört.

Der grösste Segen von Grosseltern für Kinder besteht darin, dass sie sterben können, ohne zu traumatisieren. Opas Tod ist in Ordnung. Er lässt die Welt nicht einstürzen. Und wenn sich der Grossvater vorher immer öfter beim Essen bekleckert, dann sehen die Enkel, was jedem blüht.