Wim Wenders wurde an diesem Freitag 70 Jahre alt. Längst ist er mehr als der bedeutendste lebende deutsche Filmregisseur. Die liebevolle Enge des Regisseur-Berufs hat er hinter sich gelassen und ist mit den Dokumentarfilmen zu einer Art Kurator unseres Gegenwartsverständnisses geworden. Ob Mode, Tanztheater oder Dokumentarfotografie, ob kubanische Kultmusiker oder zeitgenössische Architektur, Wenders hat ein audiovisuelles Museum der Weltkultur eröffnet und fügt ihm behutsam wie hingebungsvoll Jahr für Jahr ein Kämmerchen oder einen Saal hinzu.

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Sein Blick auf das Schaffen der Kollegen ist von Ernst, Respekt und Liebe geprägt. Es ist ein Blick, der – soviel Küchenpsychologie darf sein – wohl einer ist, den er sich gerne für sich selbst wünschen würde.

Als filmbesessener Kritiker begonnen

Heldenverehrung zieht sich durch all seine Filme. Da ist er Kind jener Zeit. Die grössten Revolutionäre waren im Kino diejenigen, die vor den Vatermord die Verklärung ihrer Erzeuger setzten. Allen voran der brillantische Jean-Luc Godard, der Fritz Lang einer Generation bekannt machte, die ihn schlicht vergessen hatte.

Wie Godard und die anderen Bilderstürmer der Nouvelle Vague begann Wenders als Kinokritiker, als ein ausgezeichneter, der schon einen präzisen, frühreifen Blick auf das Kino entwickelt hatte, als er noch nicht ahnen konnte, dass er selbst als ein Grossmeister der Filmkunst in dessen Geschichte eingehen sollte. Wenn einem die hinreissende Frieda Grafe, die beste Filmkritiker(in) des 20. Jahrhunderts, vom jungen Wenders als Kollegen in der «Süddeutschen Zeitung» erzählte, berichtete sie auch von dessen Filmbesessenheit.

Intellektualismus in edle Bahnen gelenkt

Wenders' Kino sieht man an, was Wenders alles gesehen hat – und auch gelesen und gehört. Wie auch bei Godard ist Kino nicht nur «24 mal Wahrheit in der Sekunde», sondern auch 24 kulturelle Referenzen pro Sekunde. Anders als Godard, der trotzkistische Grossbürger vom Genfer See, hat Wenders seinen Intellektualismus gemässigt und in edle Bahnen gelenkt. Hinter der Zerrissenheit seiner Figuren lauert ein romantisches Grundverständnis der Kunst, dessen Sehnsucht nach Einheit und einer ästhetischen Totalität auch das Deutsche seiner Filme ausmacht.

Ja, man kann die Naturaufnahmen in «Paris Texas», «Stand der Dinge» oder «Falsche Bewegung» von den Bühnenbildern bei John Ford oder Sam Fuller ableiten, aber noch mehr eigentlich fröstelt dort die Einsamkeit der Ölschinken von Caspar David Friedrich nach. Über die Bande des amerikanischen Einsamkeitsidyllikers Ed Hopper gespielt, kommen in Wenders' Szenerien deutscher und amerikanischer Blick zusammen – zusammengehalten unter einem Himmel voller Melancholie und Trauer.

Düsterer Höhepunkt «Stand der Dinge»

Ein letzter Godard-Vergleich. Als sich der orthodoxe Linksradikale Godard nach einem knappen Jahrzehnt im Dienst der Revolution 1979 beim bürgerlichen Kino zurückmeldete, machte er aus sich einen selbstironischen Clown. Am eindrücklichsten in «Prénom Carmen», wo Godard sich als Verrückten selbst spielt, einen Gettoblaster am Ohr, rufend: «Das ist meine Kamera.»

Dieser heilige Unernst hat Wenders nie infiziert. Seine Filme wurden im Gegenteil mit und durch das Scheitern in Hollywood noch ernster. Am düstersten vielleicht im vergessenen Meisterwerk «Stand der Dinge», dessen schwarz-weisse New-Wave-Ästhetik das Werk von Regisseuren wie Jim Jarmusch und Anton Corbijn vorwegnahm.

Der Schmerz und die Verletzung in Hollywood haben Wenders' künstlerische Fähigkeiten nicht zerstört, sondern herausgefordert. Im Umfeld dieser grausamen Niederlage war Wenders gut wie nie zuvor und auch danach nicht mehr. Er schuf atemraubende Meisterwerke. Innerhalb von fünf Jahren erschienen «Stand der Dinge», «Paris Texas» und schliesslich «Der Himmel über Berlin». In Hollywood hatte er erlebt, wie die Kulturindustrie einem Regisseur ein Werk entreissen konnte, und diese Traumatisierung führte zu einer Mischung aus Rache und Kompensation mit Kunst, die radikal nur mehr sich selbst verpflichtet war.

Die Freiheit des Dokumentarfilms

Danach vermied Wenders Schmerzen, und seine Sehnsucht nach Balsam liess ihn in die Arme von Gleichgesinnten und netten Kollegen fallen. Die Ergebnisse waren sehr unterschiedlich: Ob eine Band wie BAP wirklich einen Wenders-Film verdient, wage ich zu bezweifeln. Der Dokumentarfilm, so erklärte Wenders zuletzt in einem «FAS»-Interview, gebe ihm grössere Freiheit als die Produktion von Spielfilmen.

Diese Fluchtbewegung passt gut in eine Zeit, in der auch junge Filmemacher aus den totgetrampelten Spielfilmgenres in Fernsehserien und Dokus flüchten. Leute wie der Brite Asif Kapadia («Senna», «Amy») oder John Akomfrah («The Last Angel of History»).

Wunsch an Wim Wenders

Wenn sich der Wenders-Fan zum Geburtstag des Grossmeisters etwas wünschen würde, dann wieder mehr Schmerz und weniger Klassik und jene existenzielle Zeitgeistigkeit, die Harry Dean Stanton, Nastassja Kinski oder Bruno Ganz zu Stilikonen der Achtziger- und Neunzigerjahre werden liessen. Gnadenlos modisch, überglamourös, bezaubernd kaputt und dabei wie bei allen Nachwirkungen des deutschen Idealismus nie ohne Substanz hinter den ikonischen Oberflächen.

Die Farben von «Paris Texas» waren eine Feier des Lebens, das miese Hollywood überlebt zu haben. Die blonden Haare der Kinski dazu waren sexy Schocks, so wie das Blond der jungen Zirkusartistin im «Himmel über Berlin» vor dem drogenverseuchten Grauschwarz des beckettschen West-Berlins noch heller leuchtete. Wenders suchte den Glanz im Dunklen, im Halb- und Vollschatten. Ein Rendezvous zwischen irdischem und überirdischen Engel findet bei einem Konzert von Nick Cave und Blixa Bargeld statt.

Das Zuschauen fasziniert den Regisseur

Wenders war stets mehr in Bilder als in Geschichten verliebt. «Ganz am Anfang – und davon ist viel übriggeblieben – war Filmemachen für mich, dass man die Kamera irgendwo hinstellt und auf etwas ganz Bestimmtes richtet und dann nichts tut und nur laufen lässt», schreibt Wenders. «Es ist mehr das Zuschauen, was mich fasziniert hat am Filmemachen, als das Verändern oder Bewegen oder Inszenieren.» Dieser Blick ist heute 70 geworden, wer Wenders zuletzt leibhaftig erlebt hat, weiss, wie jung er geblieben ist. Er könnte nun mit einem unberechenbaren Spätwerk beginnen.

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