Die Niederlande sind kein Klischee aus viel Wasser, Frau Antje mit echtem Käse aus Holland, bunten Hausbooten und Van-der-Valk-Klängen, die über idyllische Grachten hallen. Auch keine humanoide Traumarche aus unendlich vielen Coffeeshops und peinlichen Elektrowasserpfeifen, sondern viel mehr: ein Mekka des Kommunikationsdesigns nach De-Stijl-Oranje-Art, besser komponiert als jeder Hit vom Simon Park Orchestra. Viele Kreative wählen deshalb die Niederlande insgesamt als gestalterisches Zamzam für neue Ideen und arbeiten in einem Büro in Utrecht, Den Haag, Rotterdam oder Amsterdam. 

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Für meinen Design-Ausflug habe ich mir in Amsterdam ganz besondere Büros ausgesucht. Zwei grundverschiedene gestalterische Positionen, die es in dieser bewunderungswürdigen Stringenz im teutonischen Mutterland des Opportunismus kaum geben könnte: Experimental Jetset und KesselsKramer. Beides Ideen-Enklaven von Weltrang, deren Konzeptionen und visuelle Zeugnisse mich immer wieder in akute Faszination versetzen. Der Grund: Sie nähern sich dem von Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung kritisierten Marktwert, mit ganz unterschiedlichen Strategien kritisch an.

Kritisch-tolerante Positionen hat viele Faktoren

Das sich kritisch-tolerante Positionen in Holland konzentrieren, ist aus meiner Sicht vielen Faktoren geschuldet. Da ist die in Zeiten des religiösen Dogmatismus vorbildliche Konfessionsflexibilität und Toleranz eines Wilhelm von Oranien sowie eine global ausgerichtete merkantile Tradition. Diese prägte eine Gesellschaft, die bei aller notwendigen kritischen Distanz zu den Ostindien- oder Westindien-Kompanie-Aktivitäten, früh Gestaltung als essentiellen Faktor für interkulturelle Kommunikation identifizierte. In der Folge steckte sie weniger Denk-Kapazität in ingeneurige Scheinriesen-Grosstaten.

Natürlich gibt es heute wie in allen kapitalistisch geprägten Gesellschaften eine Pinstripe-Expertise für die Betonung ökonomischer Wachsturmskurven, aber der Mut zu niederländischer Extravaganz ist geblieben. Wo sonst würde zum Beispiel ein Grafikbüro namens Studio Dumbar den Auftrag bekommen, das Corporate Design der Polizei samt Logo zu erstellen ohne zwischen German Angst und Apparatischiks zum weichgespülten Mittelmass zu geraten? So schafft eine Gesellschaft das Substrat für gute Gestaltung und nur so konnten Gestalterpersönlichkeiten wachsen die wie zum Beispiel Wim Crouwel bis heute mit einer virtuosen Typedesign-Melange aus Reduktion und Verrücktheit Massstäbe setzen. 

Experimental Jetset

Womit wir schon bei meiner ersten Station, Experimental Jetset, angekommen wären, die Crouwels typografische Eucharistie trotz aller Säkularisierung noch immer beiwohnen und bei der gestalterischen Konsekration fleissig mitklingeln. Ein Büro, dass ein Konsistenz-Portfolio vor sich herschiebt, dessen Konzeptionsstärke schnell den komplett falschen Verdacht nahe legt, man hätte es mit einem totalitären Helvetica-Arirang-Festival zu tun. Schon die Klingelschildkonstellation ist ein typografisches Festmahl.

Diese ureigene Mischung aus unzulänglicher Befestigung und gestalterischer Perfektion können nur Niederländer, sorry Deutschland. Denn der baumarktgetriebene Akkuschrauber-Poweruser würde am liebsten gleich Edelstahl-Torxschrauben mit Linsenkopf applizieren und die Keule der technischen Perfektion schwingen, aber dann würde dieses sensible gestalterische Konstrukt scheitern und zerstört werden.

Experimental Jetset weiss intuitiv die Balance zu finden für das, was heute an Stringenz möglich ist, weshalb Institutionen wie das Mesh in Tokyo oder das Whitney Museum in New York darauf vertrauen. Da die Jobliste von Experimental Jetset so dicht bevölkert ist, wie Macau, erwarte ich, dass Marieke, Erwin und Danny von einem Bienenschwarm fleissiger und grafikwilliger Aktivisten umschwärmt werden. Aber die Realität liegt anders, hier arbeiten wirklich nur diese Drei. Ich bin überrascht von so viel Produktivität. 

Bescheidenheit ist Programm

Trotzdem, die Bescheidenheit ist hier Programm: schlichtes Regal, Dreiertisch, exquisite grafische Experimente an der Wand und eine allgegenwärtige entspannte Souveränität. Hier bekommt man vorgelebt, dass ein kleines Büroformat funktioniert und diese dezentralen Einheiten dem Big-Brother-Zeitgeist Paroli bieten. Wir reden über die 1968er, die politische Dimension des gegenwärtigen Grafikdesigns und die Frage nach einer neuen Authentizität der Kommunikation. Alles Facetten, die im bundesdeutschen Aldi-Land der Dienstleistung des Öfteren auf dem Altar der schwarzen Zahl geopfert werden.

Als ich mich abends auf den Rückweg ins Hotel aufmache, bin ich hochzufrieden. Wieder einmal habe ich Typografie-Croupiers getroffen, die gestalterische Überzeugungstäter sind und nicht nach jedem Finanz- oder Reputationsköder am Roulettetisch des Kapitalismus schnappen. Dass ich dann noch das Glück habe, am Daalder vorbeizulaufen und mir noch einen erstklassigen Mittagstisch fernab von Sättigungsbeilagen einzuverleiben, macht die Sache noch besser. Ich freue mich auf den nächsten Tag, da steht ein Besuch bei Erik Kessels an. Also rauf auf das abgetakelte Hollandrad mit abgerissenem Frontscheinwerfer und diesem geräuschvoll-blechernem Schaben der Tretkurbel am Kettenschutz - irgendwie ein rollender Produktdesign-Hilfeschrei auf zwei Rädern.

KesselsKramer in einem Kirchenschiff

Der kalte Regenpeitscht mir ins Gesicht; eine eisige Kasteiung, die mich auf den vor mir liegenden sinnlichen Overkill vorbereitet. Durchnässt stehe ich vor einem dieser schwarz gestrichenen, dekorativen Ziegelsteinhäusern in der Lauriergracht, mit adrett arrangierten pastelligen Jesusfiguren im Schaufenster und Hufeisen-Emblem samt Pferdekopf an der Tür.

Einmal eingetreten bekommt die holländische Säkularisierungsproblematik eine ganz andere Dimension, KesselsKramer hat sich nämlich seine exzentrische Ideenarche in einem Kirchenschiff eingerichtet. Die aerophone Empore protzt mit einem umfangreichen Orgelpfeifenbündel und opulenter Schnitzerei samt geköpfter Dalmatiner-Skulptur. Die Atmosphäre ist weniger von Esoterik geflutet, als vom wohligen Leuchten der gestalterisch getriebenen Bildschirme. Es riecht nach digitalem Weyrauch mit Jobs´schen OSX als Psalm-141,2-Ersatz. In der Mitte reckt sich ein real umgesetztes Playmobil Ensemble – Typ Grosses Western-Fort, Produktnr.: 6427 – in die Höhe. Dort residiert Erik Kessels und wacht über seine Gedankengänge. Als Kanzel dient ein montiertes schwimmbadtaugliches Sprungbrett.

Was da genau verkündet wird, weiss ich nicht, wohl aber, dass in diesem Fort Ideen entstehen, die an Relevanz, positiver Ironie und Skurrilität kaum zu überbieten sind. Besonders produktive Mitarbeiter werden dann schon mal, als Kreativ-Incentive zum Arbeiten auf dem Altar platziert – verspiegelte Bar, Airhockeyspiel und Laufband inklusive. 

Schätze des fotografischen Scheiterns

Deshalb gibt es hier, ähnlich wie bei Experimental Jetset, diesen erstaunlichen Output. Ein seit Jahren anwachsendes Buch-Portfolio weitab opportuner Kundenkommunikation namens «useful Photography» oder «in almost every picture»  sind die Belege dieses gestalterischen Workouts. Kessels betreibt einen sehenswerten Abgesang auf die endlose Bilderflut einer visuell geprägten Gesellschaft.

Wie ein Trüffelsucher findet er in den Katakomben privater Bildarchive oder Social-Media-Datenbanken wahre Schätze des fotografischen Scheiterns oder Sammlungen nonkonformistischer Bildwelten. Da gibt es den über Jahrzehnte praktizierten Fetisch, die Ehefrau im Wasser stehend zu fotografieren. Egal ob Pumps, Handtasche oder teures Kleid dabei draufgehen, das Bild muss sein. Oder ein ganzes Heft voller Zeigefinger, die in freudiger Erwartung der Betätigung des Auslösers durchs Bild huschen. Alles kleine Tragödien des Profanen, die unsere eingenordete Wahrnehmung eine neue Unzulänglichkeit lehren und der Realität das Individuelle schenken.

Seltsam werbekompatibel

Diese Auseinandersetzung von KesselsKramer macht die Ideenwelten seltsam werbekompatibel. Weniger im hochstrategischen Sinne eines Guido Heffels, der mit seinem Büro «Heimat» den Nonkonformismus predigt und eine streitbare Rückkehr der kommerzialisierten Ironie in die Kommunikationswelt betreibt. Sondern in einer fast schon experimentellen Art und Weise, die auf traditionelle Methoden des Verstehens pfeift. Beispielsweise entzieht sich die Kampagne für Hans Brinkers Budget Hotel jedwelcher werblichen Sinnfälligkeit und erzeugt mit einer gekonnten Trashästhetik Dejavus, die einem das Lachen im Hals stecken lassen oder zur konvulsivischen Irritation geraten.

Ich fühle mich nach drei Stunden wie Zizka im Wunderland und muss zugeben, dass ich dieses Bürosoziotop ein klein wenig beneide für den Mut und die Selbstdistanz die es braucht um eine solche Gestaltungsthese zu leben. 

Danach geht’s zum Kroketten essen um die Ecke, eine in Format und Aussehen standardisierte Ernährungsform, die dem Allesesser mit der Vielfalt in Geschmack und Konsistenz Rätsel aufgibt. Da ist sie wieder, die oranje Schizophrenie: Kroketten im Land mit der besten Ernährung weltweit, gestalterische Individualität im Kontext kaum existierender Privatsphäre und zwei Designbüros die verschiedener nicht sein könnten - Amsterdam ich mag dich.

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