Jennifer Wu, ESG ist tot? Warum eigentlich?

Oh, wie können Sie so etwas sagen?! Ich glaube nicht, dass ESG jemals sterben wird. ESG ist ein Ausdruck dessen, was tatsächlich in der Welt passiert. Was in der Welt passieren muss, ändert sich nicht. Aber Sie haben recht, der ESG-Hype ist vorbei. Ich bin froh, dass wir uns nun auf die wirklichen Probleme der Welt konzentrieren und in deren Lösung investieren können.

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ESG ist also doch tot?

Ich hoffe, der Fokus liegt auf den wirklichen Problemen und darauf, wie diese Probleme im Hinblick auf den Klimawandel oder die Geopolitik in vielen Unternehmen angegangen werden. Meiner Meinung nach hat dies Auswirkungen auf die Investitionen. Und darauf sollten wir uns konzentrieren. Es spielt keine Rolle, wie wir es nennen. So sehe ich das.

Ulrik Fugmann von BNP Paribas Asset Management sagte mir, dass er nicht mehr über den Klimawandel rede, weil niemand mehr davon hören wolle. Er sagt, wir sollten uns mehr auf die wirtschaftlichen Auswirkungen von Investitionen konzentrieren als auf irgendwelche Etiketten. Sein Argument: Erneuerbare Energie sei viel günstiger als Kohle, Gas und Erdöl. Stimmen Sie dem zu?

Ich denke, wir wissen genug über den Klimawandel. Wir haben hier und da genug Nachrichten über Katastrophen und extreme Wetterereignisse gelesen. Im Sommer ist es zu heiss. Im Winter liegt kein Schnee. Ich denke, die Herausforderung, der wir uns jetzt stellen müssen, besteht – und da stimme ich Ulrik Fugmann zu – darin, wie wir das gesamte Know-how in wirtschaftliches Handeln umsetzen. Die Wissenschaft zeichnet ein sehr ernstes Bild. Es besteht eine Diskrepanz zwischen der Wirtschaftsanalyse und dem, was uns die Wissenschaft sagt. Ich denke, das ist Teil des Problems, auf das wir uns konzentrieren müssen.

Was ist der Grund für diese Diskrepanz?

Wirtschaftsmodelle sind auf eine kürzere Zeit ausgelegt. Wirtschaftsmodelle basieren auf vielen verschiedenen Annahmen, von denen jede einen erheblichen Einfluss auf das Ergebnis haben könnte. Der Klimawandel ist jedoch ein langfristiges Phänomen und mit einem hohen Mass an Unsicherheit bezüglich des genauen Zeitpunkts und des Ausmasses extremer Ereignisse verbunden.

Was bedeutet das für die Wirtschaft?

Es ist sehr schwierig, diese Fakten auf die unmittelbare Zukunft zu übertragen, wenn ich nur Prognosen für die nächsten fünf Jahre mache. Sollte ich Schwellenländer übergewichten? Sollte ich Schwellenländer allein aus der Perspektive einer Klimakatastrophe untergewichten? Ich weiss es nicht. Das aktuelle Wirtschaftsmodell, das die Marktaussichten für Schwellenländer prognostiziert, liefert keine Antwort. Es besteht also die Gefahr, dass wir das Risiko ernsthaft unterschätzen. Daher denke ich, dass Ökonomen und Wissenschaftler enger zusammenarbeiten müssen. Das ist der erste Punkt.

Und der zweite?

Aus Investitionssicht sollten wir uns auf Dekarbonisierungslösungen für die Wirtschaft konzentrieren. Das ist es, was wir heute tun können. Und die Technologie existiert bereits. Und es braucht auch Kapital für Technologien, die sich noch in der Entwicklung befinden.

Um Netto-Null bis 2050 zu erreichen, sind laut einer Studie von McKinsey (Great Banking Transition) allein in der Schweiz 800 Milliarden Schweizer Franken erforderlich, um die lokale Wirtschaft umweltfreundlicher zu machen. Diese Summe entspricht dem jährlichen BIP der Schweiz. Das ist eine riesige Menge Geld. Woher kommt es?

Ich denke, dass die Banken bei der Finanzierung eine sehr grosse Rolle spielen. Aber ich denke auch, dass man dafür das gesamte System braucht, nicht nur die Finanzwelt. Denn es gibt zwei Stakeholder, die mächtiger sind, die Entscheidungsbefugnis haben und entscheiden können, wohin Kapital fliesst: Einerseits sind das die politischen Entscheidungsträger. Denn Politik, grüne Politik, wird Anreize schaffen. Eine Politik, die die Emissionsstandards erhöht, wird Unternehmen daran hindern, das zu tun, was sie derzeit tun.

Und der zweite Akteur?

Der andere wichtige Akteur, der ebenfalls zu Wort kommt, sind die Verbraucherinnen und Verbraucher. Bei JP Morgan Asset Management investieren wir in Unternehmen. Wenn die Kunden und Kundinnen dieser Unternehmen sagen, dass sie ihr Produkt, wenn es nicht umweltfreundlich ist, nicht kaufen, dann ist das die Konsequenz. Aber wenn die Regierung weder Auflagen vorgibt noch die Verbraucher Druck ausüben, warum sollten sich Unternehmen dann ändern?

Also müssen sowohl politische Entscheidungsträger wie auch Verbraucher den Druck erhöhen?

Die Bank, der Investmentmanager, wir können so viel wie möglich tun. Aber wenn diese beiden Akteure, politische Entscheidungsträger und Verbraucher, nicht koordiniert werden, ist es sehr schwierig, ein Ergebnis zu erzielen. Das ist meine Ansicht.

Und wie lässt sich das global koordinieren?

Letztendlich bin ich optimistisch. Wir treten in eine Phase ein, in der die Koordinierung noch schwieriger werden könnte, da jedes Land einen anderen Weg eingeschlagen hat, um sein Netto-Null-Ziel zu erreichen. Obwohl wir uns alle dem Pariser Abkommen verpflichtet fühlen, wollen wir die Ziele auf unterschiedliche Weise erreichen.

Gibt es eine Möglichkeit, eine gemeinsame Basis für die Zusammenarbeit zu finden?

Dafür sind mehrere COPs erforderlich, nicht nur eine COP 27, 28 oder 29. Ich denke, die COP muss fortgesetzt werden. Und wir brauchen wirklich, dass die Regierungen weiterhin miteinander reden. Ich hoffe, dass wir nicht zu lange warten müssen, bis die Regierungen erkennen, dass sie ernsthafter zusammenarbeiten müssen, denn die Eindämmung des Klimawandels ist bereits zu teuer. Ich bin hoffnungsvoll und denke, dass das kommen wird. Doch es werden noch viele weitere dieser globalen Diskussionen nötig sein.

Die Taxonomie nachhaltiger Investitionen wird in jedem Land unterschiedlich gehandhabt. In Europa gibt es Artikel 9. Gemäss diesem strengeren Artikel 9 nach EU-Taxonomie gibt es bisher nicht viele Investitionsmöglichkeiten. Stimmen Sie dem zu?

Um festzustellen, ob ein Unternehmen wirklich nachhaltig ist und die Kriterien des Artikels 9 erfüllt sind, muss das Unternehmen eine Reihe von Informationen offenlegen. Jetzt, da die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) – CSR, die Corporate Disclosure Regulation – endlich in Kraft tritt, denke ich, dass die Unternehmensberichterstattung besser wird und uns dabei helfen wird zu sagen: «Okay, jetzt kann ich sicher sein, dass dieses Unternehmen nachhaltig ist.»

Fördert dies den strengen ESG-Artikel 9?

CSRD wird das Wachstum der Artikel-9-Fonds vorantreiben. Denn derzeit liegt die Hürde für Artikel 9 extrem hoch. Man muss sehr sicher sein, ob das Unternehmen wirklich grün ist. Andernfalls möchten Sie nicht in dieses Unternehmen investieren. Das ist ein wichtiger Punkt. Der andere Teil ist, dass Artikel 9 derzeit hauptsächlich Umweltfonds umfasst. Denn die SFDR-Verordnung enthält ganz klare Vorgaben für Artikel-9-Umweltfonds – etwa, welche Umweltziele man verfolgen kann und was man investieren muss. Dies ist bei Sozialrichtlinien nicht der Fall.

Wir sollten uns mehr auf die Wirkung konzentrieren, nicht auf die Etiketten, oder?

Ja absolut. Das Gütesiegel ist zumindest für Kleinanlegerinnen und -anleger eine gute Möglichkeit, zu verstehen, dass es unterschiedliche Anlagemöglichkeiten gibt. Aber selbst mit einem Label wie Artikel 9 oder Artikel 8 müssen Sie immer noch entscheiden, wer besser abschneidet oder Ihre Anlageziele erreicht. Aber meiner Meinung nach hilft es zumindest, die Dinge in Kategorien einzuteilen, und macht es den Anlegerinnen und Anlegern einfacher. Ansonsten ist die Auswahl recht schwierig, da es eine Vielzahl an ESG-Produkten gibt.