«An der ETH habe ich denken und in Stanford reden gelernt»

Sie haben Maschinenbau studiert – wie sind Sie zu dieser Studienwahl gekommen? Das Interesse für Naturwissenschaften habe ich in meiner Kindheit durch mein Elternhaus vermittelt bekommen. Wir wuchsen im Herzen von Südamerika in Bolivien auf und waren in den meisten Ferien im Jeep durch die Anden oder das tropische Tiefland Richtung Brasilien unterwegs. Da steckt man auch das eine oder andere Mal mit dem Auto irgendwo fest. Meine Schwester und ich konnten meinem Vater nicht nur einfach zusehen, wie er das Auto reparierte – er hatte auch grossen Spass daran, uns zu erklären, was eine Fata Morgana ist oder wie der Motor funktioniert. Bildung outdoor? Richtig. So konnte ich bereits früh eine Nähe zu Natur und Technik aufbauen. Und, «fast forward», viele Jahre später habe ich dann tatsächlich Maschinenbau an der ETH Zürich studiert. Sie sind früh in die USA. Was hat Sie nach Stanford gebracht? Während des Studiums an der ETH Zürich hatte ich grosse Freude an der Produktentwicklung und Innovation gefunden. Ich wollte daher meinen Master an der Schnittstelle von Maschinenbau und Wirtschaft machen. Und weshalb gerade Stanford? Ich fand die Nähe zum Silicon Valley attraktiv, Stanford bietet eine exzellente Ausbildung, ist sehr international – und das sonnige Wetter in Kalifornien gefällt mir ebenfalls. Das Wichtigste, was Sie in Ihren Studien gelernt haben? Überspitzt gesagt habe ich an der ETH denken und in Stanford sprechen gelernt. An der ETH waren wir gefordert, Gedanken tiefgründig zu durchdringen, in Stanford, Gedanken zu formulieren. Die ETH ist eine der Topinstitutionen weltweit hinsichtlich Ingenieurdisziplinen – sie ist anspruchsvoll und ausgezeichnet. Stanford hatte ein anderes Setting: Alle hatten ein Namensschild und Mikrofon vor sich – da wurde erwartet, dass man kritisch reflektiert, Stellung bezieht und eine zielführende Diskussion führt. Ihre Netzwerke aus der Studienzeit – sind sie heute noch wichtig? Auf dem Stanford-Campus war quasi die ganze Welt abgebildet. Ich war von Japanern über Inderinnen bis hin zu Franzosen und Brasilianerinnen umgeben. Andere Herangehensweisen und Verständnisse kennenzulernen, erlebte ich als Bereicherung – und diese Begegnungen haben mich berührt. Ich bin bis heute noch mit vielen rund um den Globus in Kontakt. So wie ich damals auf dem Stanford-Campus die Internationalität geschätzt habe, genauso schätze ich sie heute bei Google und bei Bossard. Hier im Zürcher Google-Büro kommen wir aus rund 85 verschiedenen Ländern, Bossard ist in über 30 Ländern aktiv. Stichwort lebenslanges Lernen. In welchen Bereichen vertiefen Sie Ihr Wissen? Was mich dieses Jahr fasziniert hat, ist Frédéric Laloux’ «Reinventing Organizations». Ein Werk, das ich als wegweisend erachte, weil bei vielen Firmen gerade ein Kulturwandel ansteht und es Aufschluss darüber gibt, wohin die Reise gehen könnte. Laloux erklärt, dass die Einstellung zu den Mitarbeitenden im Wandel ist. Wo gehts hin? Weg vom Glaubenssatz, dass Mitarbeitende faul seien und man sie darum kontrollieren müsse, hin zum Glauben an das Gute im Menschen und damit verbunden an Gestaltungsfreiräume, die es Mitarbeitenden erlauben, ihr Potenzial vollumfänglich zu entfalten. Damit bewegen wir uns weg vom Beruf, hin zur Berufung. Während Startups die Chance haben, Unternehmenskultur völlig neu zu definieren, wissen etablierte Firmen, dass permanenter Wandel ihre Existenz sichert. Oder wie es Alexander Birken, CEO der Otto Group, treffend sagt: «Der Kulturwandel ist der Umsatz der Zukunft. Die Alternative ist die Insolvenz.» Wir sollten also keine Angst haben vor dem Wandel, sondern Angst davor, ihn nicht zu wagen. Haben Sie ein Beispiel für Organisationen, die den Kulturwandel bereits hinter sich haben? Ein Beispiel aus Laloux’ Werk ist Buurtzorg in den Niederlanden, heute 15 Jahre alt und inzwischen 10 000 Mitarbeitende gross. Sie kümmern sich um ambulante Krankenpflege. Ein herkömmliches Organigramm mit Reporting-Lines kennt das Unternehmen nicht, denn es besteht aus Teams aus mit jeweils zehn bis zwölf Pflegefachkräften, die selbst bestimmen, welche Prioritäten sie setzen, wer welchen Patienten oder Patientinnen betreut, wie häufig sie Sitzungen abhalten. Bei 10 000 Mitarbeitenden! Und wie gehts denen? Die Firma geniesst eine sehr hohe Mitarbeiterzufriedenheit. Und sie agiert so effizient, dass sie dem niederländischen Gesundheitssystem über 40 Prozent an Kosten eingespart hat und das World Economic Forum sogar über sie berichtet. Ist es bloss ein Vorurteil, oder sind amerikanische Firmen innovativer als Schweizer Firmen? Wenn wir uns das Ranking der World Intellectual Property Organization anschauen, dann nimmt die Schweiz auch im Jahr 2021 hinsichtlich Innovation das fünfte Jahr in Folge den ersten Platz aus 130 evaluierten Ländern ein. Die Firmen, die hierzulande innovativ sind, mögen vielleicht nicht so bekannt sein wie Silicon-Valley-Tech-Konzerne, aber sie sind agil, vorausschauend und mutig. Sie sind Verwaltungsrätin bei der börsenkotierten Schweizer Firma Bossard. Was fasziniert Sie daran? Als Maschinenbauingenieurin und als Googlerin möchte ich einen Beitrag dazu leisten, die physische Welt mit der digitalen Welt zusammenzuführen. Bossard ist physisch, Google digital? Das wäre falsch. Bossard kombiniert beide Welten: Die Firma bietet nicht nur Verbindungstechnologien an, sondern auch intelligente Montage und Logistikdienstleistungen. Jedes Mal, wenn ich bei Bossard bin, spüre ich so viel Energie. Es geht nämlich nicht nur auf technologischer, sondern auch auf kultureller Ebene viel. Bossard wird in 10 Jahren 200 Jahre alt und arbeitet daran, eine Kultur zu implementieren, die man sonst eher in einem Startup verorten würde. Als Millennial spricht mir das aus dem Herzen. «Together We Create» ist das Leitmotiv und eine menschenzentrierte Kultur ihr Herzstück. Sie arbeiten bei Google für Augmented Reality (AR). Was macht AR für den Menschen relevant? Es gibt Arbeiten von Tor Nørretranders, die zeigen, dass unser Sehsinn die schnellste Form der Informationsverarbeitung ermöglicht. Deshalb scheint es besonders interessant, den Menschen hier mit neuer Technologie zu unterstützen. Harvard-Professor Michael Porter hat die Vorzüge von AR sehr schön auf den Punkt gebracht: «AI makes devices smarter, AR people.» Was sind die Bereiche von AR, wo Sie in naher Zukunft die grösste Entwicklung sehen? Karten? Sprache? Virtuelle Meetings? Ich kann mir vorstellen, dass Gaming, E-Commerce oder Kartendienste in naher Zukunft vielen Menschen den Bereich AR noch näherbringen können. Bezüglich Gaming hat «Pokémon Go» seit Spiel-Launch im Jahr 2016 über 5 Milliarden Dollar Umsatz erbracht. Bezüglich E-Commerce hat Snap seinen Umsatz im selben Zeitraum vervierzigfacht, von 60 Millionen Dollar auf über 2,5 Milliarden Dollar. Und bezüglich Kartendiensten ist Google Maps eine von mehreren Google-Produktplattformen, die heute über eine Milliarde aktive Nutzerinnen und Nutzer zählt. Vor zwei Jahren haben wir unsere AR-Navigation namens Live View gelauncht, die Sie überall auf der Welt benutzen können, um wie Ortskundige ans Ziel zu gelangen. Vorbei ist die Zeit, in der Sie zuerst ein paar Häuserzeilen in die falsche Richtung laufen. Und jetzt bringen wir Live View auch in Flughäfen, Bahnhöfe und Shopping Malls; unter anderem war der Flughafen Zürich der erste Flughafen weltweit, an dem wir Indoor Live View gelauncht haben. Was denken Sie, wie sich das Internet und die Möglichkeiten von AR in den nächsten zwanzig Jahren entwickeln wird? Schwer zu sagen, was genau in zwanzig Jahren sein wird. Was ich mir aber vorstellen kann, ist, dass wir in zwanzig Jahren über uns schmunzeln werden, wie wir damals krumm gebeugt an Smartphones hingen und uns durch die kleinen Screens schier kurzsichtig gemacht haben. Vielleicht gibt es mehr Platz als 16:9 auf ein paar läppischen Inches Screenbreite und Screenhöhe.