Alle Unternehmen brauchen in Zukunft einen sogenannten Chief Remote Officer (CRO): einen Vorstand, der nur dafür zuständig ist, dass die Arbeit im Homeoffice funktioniert. Mit dieser Idee sorgt das niederländische Beratungsunternehmen IG&H aus Utrecht derzeit für Furore.

«Es geht darum, sicherzustellen, dass das Remote-Arbeiten nicht auf Kosten der Produktivität geht», erklärt Beraterin Evelien van Tuijl, die im Internet ein Plädoyer für den Chief Remote Officer verfasst hat. Bei IG&H gibt es bereits einen solche Homeoffice-Vorstand. Doch ist diese Position überhaupt sinnvoll? Und was sind die Aufgaben eines CRO?

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Remote wird zum Thema für alle

Bei IG&H (275 Mitarbeitende) kümmert sich der Chief Remote Office vor allem um ganz handfeste Belange: Er erklärt den Mitarbeitenden, wie sie per Videokonferenz mehr erledigen und die bekannte Bildschirmmüdigkeit (Zoom-Fatigue genannt) verhindern. Ausserdem sorgt der CRO dafür, dass alle in Kontakt bleiben. Er erinnert die Kolleginnen und Kollegen zum Beispiel daran, ab und zu vor dem Bildschirm gemeinsam einen Kaffee zu trinken und sich gegenseitig zu motivieren.

Eine besonders charmante Massnahme: IG&H-Angestellte können über eine Internetseite den Kollegen und Kolleginnen eine Dankeschönkarte zukommen lassen. Name und Adresse eingeben reicht – und schon ist eine Karte mit einem Aufdruck wie «Du bist toll» auf dem Postweg. Daneben kümmert sich der Chief Remote Officer um die Gestaltung der Heimarbeitsplätze: Er sorgt dafür, dass die Ergonomie stimmt und Mitarbeitende mental wie physisch gesund bleiben.

Bislang steht die niederländische Firma mit ihrem Telearbeitsbeauftragten ziemlich alleine da. Das Karrierenetzwerk Linkedin kennt weltweit nur zwei (!) Personen, die den Titel eines Chief Remote Officers tragen – eine in Deutschland, eine in Japan. Daneben nutzen einige US-Berater den Titel, aber offensichtlich nur aus Marketinggründen.

1200 Angestellte im Homeoffice

Kein einziges grosses Unternehmen weltweit hat dieses Vorstandsressort bisher offiziell eingerichtet. Faktisch jedoch gibt es einige Vorstände, die sich ausschliesslich mit Telearbeit beschäftigen. Das derzeit beste Beispiel dürfte Sid Sijbrandij sein, Chef des US-Softwareunternehmens Gitlab. Dessen 1200 Angestellte arbeiten alle im Homeoffice, verteilt über 65 Länder. Sijbrandijs Hauptaufgabe besteht darin, diese nur digital verbundene Gruppe zu einem produktiven Unternehmen zu formen. Eine zentrale Rolle spielt dabei ein Handbuch, in dem jeder Ablauf genau beschrieben ist. Eine Grundregel bei Gitlab lautet zum Beispiel: «Freundlichkeit geht vor. Wenn immer möglich sollte man sich bedanken oder die Leistung anderer loben.»

Chef Sijbrandij predigt diese Regeln mit religiösem Eifer und hat sich mittlerweile als weltweit führender Experte für verteiltes Arbeiten etabliert. Dennoch trägt er weiterhin den klassischen Titel eines Chief Executive Officers.

Zurzeit gibt es viele Aufgaben für einen CRO

Dass sich die Wirtschaft künftig mehr mit dem Thema Remote beschäftigen muss, ist unumstritten. «Das dezentrale Arbeiten wandelt sich von der Ausnahme zur neuen Normalität», sagt Karin Frick vom Gottlieb Duttweiler Institute in Rüschlikon ZH. Das sei eine grosse Herausforderung. «Die Unternehmen müssen quasi auf ein neues Betriebssystem umstellen», so die Zukunftsforscherin. Aufgaben für einen Chief Remote Officer gebe es in dieser Übergangsphase einige: Er oder sie muss zum Beispiel herausfinden, wie sich soziale Isolation verhindern lässt oder wie man Zusammenhalt in einer Gemeinschaft erzeugt, deren Mitglieder sich nicht persönlich sehen.

Allerdings steuere die Wirtschaft nicht auf «100 Prozent remote» zu, betont Frick. «Es werden Hybridmodelle entstehen, bei denen die Menschen zum Teil zu Hause arbeiten, zum Teil im Betrieb.» Eine Hauptaufgabe des CRO wäre, herauszufinden, wofür noch Anwesenheit nötig ist. Von der Idee, einen neuen Vorstand ausschliesslich für Telearbeit zu schaffen, hält die Zukunftsforscherin allerdings wenig. Der Übergang zur hybriden Arbeitswelt stelle ein Projekt dar, das auch irgendwann abgeschlossen sei.

«Der CRO sollte nur eine Übergangsfigur sein», findet Frick. Auf Dauer ein Vorstandsressort nur für Homeoffice-Arbeitende zu schaffen, sei nicht sinnvoll. Die Trendforscherin zieht die Parallele zum Handel: Online-Shop und Ladengeschäft getrennt voneinander zu betrachten, ergebe auch keinen Sinn mehr, so Frick. Das Gleiche gelte für die Büro- und die Heimarbeit. «Hier zu trennen, verhindert Fortschritt.»

Parallelen zum Digital Officer

Ähnlich sehen es Topmanagementexperten. «Das Thema Remote sollte nicht an eine Person wegdelegiert werden», findet Christian Wohlgensinger von der CEO-Vermittlungsfirma Egon Zehnder in Zürich. Er war sechs Jahre bei Google tätig und weiss, was es bedeutet, mit Kollegen und Kolleginnen auf anderen Kontinenten zusammenzuarbeiten. «Das gehört in Zukunft einfach zum Repertoire jeder Führungskraft.» Viele Arbeitgeber scheinen das realisiert zu haben.

«Bei der Besetzung von Toppositionen, gerade im internationalen Bereich, wird mehr auf Remote-Leadership-Erfahrung geachtet», so Berater Wohlgensinger. Gleichzeitig fordern immer mehr Talente die Option Telearbeit ein. «Ich hatte letztens mit einer extrem gut qualifizierten Kandidatin zu tun, die eine Position nur antreten wollte, wenn man ihr komplette räumliche Flexibilität einräumt.» Unternehmen seien gut beraten, solche Optionen anzubieten, betont Wohlgensinger. «Remote ist eine enorme Chance, um Talente zu gewinnen und zu halten, unter anderem in Verbindung mit Teilzeitangeboten.»

Braucht es den CDO noch?

Aber braucht es wirklich eine neue Führungsfigur, um all das voranzutreiben? Wenn jetzt der Chief Remote Officer gefordert wird, dürfte das einige an den Chief Digital Officer (CDO) erinnern. Dieses Vorstandsressort einzuführen, ist schon seit einigen Jahren im Gespräch.

Die jeweilige Person soll ausschliesslich für den digitalen Umbau des Unternehmens zuständig sein. Jedes dritte Schweizer Unternehmen hat mittlerweile denn auch einen CDO ernannt, ergab eine Studie des Beratungsunternehmens Strategy&. Insgesamt jedoch hält sich die Begeisterung für den Digitalvorstand in Grenzen; weltweit stieg der Anteil der Unternehmen mit CDO zuletzt nur noch leicht von 19 auf 21 Prozent an.

Der Grund ist simpel: «Alles ist digital, die Abgrenzung zu den anderen Vorstandsressorts wird immer schwieriger», so Zukunftsforscherin Frick. Ähnliche Probleme könnte es auch mit dem Chief Remote Officer geben. «Die meisten seiner Aufgaben könnte auch ein CHRO (Personalvorstand, Anm. d. Red.) übernehmen», meint Personalberater Wohlgensinger.

So klappt Homeoffice für alle

Die Softwarefirma Gitlab gilt als grösstes virtuelles Unternehmen der Welt. Alle 1200 Angestellten arbeiten im Homeoffice. Dafür, dass die Zusammenarbeit klappt, sorgen strenge Regeln. Hier einige Beispiele:

▶︎ Regeln: Alles wird aufgeschrieben. Unausgesprochene Gepflogenheiten («Das macht man bei uns so») darf es nicht geben. Alle Abläufe müssen in einem zentralen Handbuch hinterlegt werden. So wird niemand ausgeschlossen und neue Mitarbeitende können sich schneller einarbeiten.

▶︎ Gespräche: Chat und E-Mail haben Vorrang. Möglichst viel wird über diese Medien geregelt. Mündliche Eins-zu-eins-Kommunikation gilt es zu vermeiden. Meetings werden nur anberaumt, wenn sich ein Problem nicht anders lösen lässt.

▶︎ Protokoll: Jedes Meeting bekommt eine klare Agenda. Die Teilnehmenden protokollieren die besprochenen Punkte in einem gemeinsamen Dokument. Brainstormings finden ebenfalls schriftlich statt; das zwingt dazu, Ideen besser zu artikulieren.

▶︎ Probleme: Selbstbedienung geht vor. Wer Fragen hat, schaut zuerst im Handbuch nach. Findet sich dort keine Antwort, recherchiert man sie selbst und trägt sie im Handbuch ein. Mit der Zeit der Kolleginnen und Kollegen geht man sparsam um. Nachrichten werden kurz und präzise verfasst.