Die Regierung in London vermittelt auch Wochen nach der Entscheidung zum Austritt aus der EU nach Einschätzungen aus mehreren EU-Regierungen vor allem den Eindruck innerer Zerrissenheit und grosser Ratlosigkeit. Die Brexit-Anhänger bekommen aus Europa immer wieder vermittelt, dass die Forderung nach weiterem Zugang zum EU-Binnenmarkt und gleichzeitiger Einschränkung der Freizügigkeit für EU-Arbeitnehmer nicht erfüllt werde. Da wirkt das bisher öffentlich kaum diskutierte «Liechtenstein-Modell» für viele Briten attraktiv. Denn hier hat die EU genau diese Kombination von Forderungen erfüllt.

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Schweiz oder Norwegen - Modelle für das künftige Verhältnis

Bereits vor dem Referendum waren verschiedene Modelle für das künftige Verhältnis zwischen Grossbritannien und der EU diskutiert worden - sofern das Land nach einer drohenden Abspaltung Schottlands nicht ohnehin auseinanderfällt. Vor allem Norwegen galt als Vorbild, weil es das skandinavische Land als Nicht-EU-Staat dennoch vollen Zugang zum riesigen EU-Binnenmarkt hat. Das Problem: Dafür muss es als Nicht-Mitglied und ohne Mitsprache auf EU-Entscheidungen kräftig in den EU-Haushalt einzahlen und den Zuzug von EU-Arbeitnehmern akzeptieren.

Die Schweiz wiederum hat bisher ebenfalls freien Zugang, das Verhältnis zur EU ist über viele bilaterale Verträge festgelegt worden. Das Problem hier: Die Schweizer Regierung muss nach einem Referendum nun über die Begrenzung des Zuzugs für EU-Bürger verhandeln. Die EU droht im Gegenzug nun mit der Kündigung aller bilateralen Verträge - und damit dem Ende des freien Binnenmarktzugangs, was etwa für Schweizer Kreditinstitute eine Katastrophe wäre.

Der Traum vom Liechtenstein-Modell

Deshalb wirkt das Abkommens des kleinen Fürstentums Liechtenstein mit der EU so attraktiv. Denn auch der Zwergstaat und wichtige Finanzstandort besitzt vollen Zugang zum Binnenmarkt, hat aber von der EU das Recht erhalten, dennoch den Zuzug von EU-Ausländern drastisch beschränken zu dürfen.

Restriktionen gibt es seit den 1960er Jahren. Am 1. Juni 2000 wurden diese aber von der EU in einem Vertrag für die gesamte Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWR) akzeptiert, zu der neben den EU-Staaten auch Liechtenstein, Norwegen und Island gehören. Der EWR-Rat hatte bereits 1995 in einer Erklärung anerkannt, dass Liechtenstein «ein sehr kleines bewohnbares Gebiet ländlichen Charakters mit einem ungewöhnlich hohen Prozentsatz an ausländischen Gebietsansässigen und Beschäftigten» sei und deshalb Sonderrechte geniesse.

Konkret heisst dies, dass Liechtenstein 2015 nur 631 neue Aufenthaltserlaubnisse erteilt hat - inklusive der Aufnahme von Flüchtlingen. Aus allen EWR-Ländern muss das Land mit seinen nicht einmal 40'000 Einwohnern jährlich nur 40 Personen aufnehmen, aus der benachbarten Schweiz nur 19.

Einschränkung der Freizügigkeit wird nicht akzeptiert

«Aber Liechtenstein wird nicht das Modell für Grossbritannien werden», bremst die Europa-Expertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Claire Demesmay, britische Hoffnungen auf Übernahme des Modells. «Zum einen sind die Grössenverhältnis wirklich unvergleichbar, zum anderen ist dies politisch nicht akzeptabel», sagt sie.

Gerade Frankreichs Präsident Francois Hollande habe deutlich gemacht, dass er keinerlei Einschränkung der Freizügigkeit akzeptieren werde, Kanzlerin Angela Merkel ebenfalls. «Und im Präsidentschaftswahlkampf 2017 wird er diese Position eher noch verstärken.»

Schon das im Februar auf deutschen Druck erreichte Angebot an den damaligen britischen Premierminister David Cameron, dass Grossbritannien zwar nicht die Arbeitnehmerfreizügigkeit, wohl aber die Sozialleistungen für neu auf der Insel ankommende EU-Bürger einige Jahre einschränken könne, ging Frankreich und den osteuropäischen EU-Mitgliedern zu weit.

«Zu früh, zu irrelevant»

In der Bundesregierung und der EU-Kommission winkt man ohnehin ab. «Zu früh, zu irrelevant», lautet die übereinstimmende Einschätzung aus Berlin und Brüssel zur Debatte über das Liechtenstein-Modell. Der Europa-Staatsminister im Auswärtigen Amt, Michael Roth, sprach im Reuters-Interview davon, dass Grossbritannien am Ende ohnehin eine ganz eigene Konstruktion erhalten werde.

Das glaubt auch der Europa-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik, Nikolai von Ondarza. Er tippt eher auf ein Modell wie das von Kanada: Mit diesem Land hat die EU gerade ein Freihandels- und Investitionsabkommen ausgehandelt. Andere sind noch skeptischer und glauben, dass die Briten am Ende nur ein Zollabkommen wie die Türkei erhalten werden, wenn die harten Brexit-Befürworter den Machtkampf in der britischen Regierung gewinnen sollten. Denn dann werde der Kompromisswille auf EU-Seite gen Null sinken, meint ein EU-Diplomat. «Die Briten haben in jedem Fall das grössere Problem und die schlechtere Verhandlungsposition», sagte er.

Verhandlungen ausschliesslich über den Austritt

Möglicherweise werde die EU den Briten zunächst sogar jede Debatte über Modelle verweigern, glaubt DGAP-Expertin Demesmay. Denn Michel Barnier, der von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zum Kommissionsbeauftragten für die Brexit-Verhandlungen ernannt wurde, habe bereits klar gemacht, dass er mit den Briten zunächst ausschliesslich über den Austritt verhandeln wolle. Erst anschliessend solle über den künftigen Status gesprochen werden.

Setzt sich diese Haltung durch, dann müssen Unternehmen auf der Insel trotz ihrer Forderung nach einer schnellen Klärung noch einige Jahre rätseln, ob sie überhaupt noch Zugang zum Binnenmarkt behalten.

(reuters/ccr)