BILANZ: Als Chefarzt behandeln Sie Sterbende. Als Extrembergsteiger begeben Sie sich freiwillig in Todesgefahr. Der Tod ist Ihnen allgegenwärtig.
Oswald Oelz:
Ich begegne jeden Tag sterbenden Patienten jeder Altersklasse. Der Tod kann ein sanfter, ersehnter Freund sein, wenn man ein erfülltes Leben gehabt hat und müde geworden ist. Stirbt eine junge Mutter an einer Tumorkrankheit, ist der Tod schrecklich. Aber wenn man sich mit dem unentrinnbaren Schicksal, das uns allen blüht, etwas beschäftigt hat, kann der Tod auch für jüngere Menschen sanft sein, obwohl er nicht willkommen ist. Denn heutzutage muss Sterben nicht mehr mit Schmerzen verbunden sein. Wir können jedem Patienten mit Medikamenten helfen.

Bergsteiger preisen mitunter die Todesnähe; sie gibt dem Alpinisten den letzten Kick.
Das Lobpreisen des Bergtodes ist romantischer Kitsch aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts: «Unlöschbar ist der Durst nach Todesgefahr» – das ist Unsinn. Wir steigen nicht auf die Berge, um zu sterben, sondern um intensiv zu leben. Aber die Nähe des Todes macht das Leben intensiv, dies ist eine eigenartige Erfahrung. Wenn man um das Leben kämpfen muss, lebt man viel intensiver, weil man so viele Energien und Substanzen mobilisiert, die zu einem endogenen High führen. Die grössten Kicks für die Kletterer sind die Free-solo-Begehungen: 200 Meter über dem Boden ungesichert und frei klettern. Doch das ist mir zu riskant, und ich kann das auch gar nicht, ich bin nicht gut genug.

Sie sagen, Sie hätten drei oder vier Ihrer sieben Leben verbraucht.
Das ist ein lockerer Spruch, doch ich bin tatsächlich ein paar Mal relativ knapp davongekommen. Ich habe es durchgestanden, weil ich keinen Millimeter nachgegeben habe in meinem absoluten Kampf zu überleben. Einmal habe ich beim Abstieg von einem Siebentausender an einem Hirnödem gelitten; wegen der Halluzinationen habe ich den falschen Weg erwischt. Dann bin ich blind geworden, habe auf einem Eisbalkon ohne Biwakausrüstung bei minus 35 Grad übernachtet. Am nächsten Tag musste ich ein Eiscouloir unter Lawinengefahr passieren. Ich habe mir gesagt, lieber stürze ich ab, als sitzen zu bleiben und so zu sterben. Tatsächlich bin ich von der Lawine mehrere Hundert Meter mitgerissen worden, aber ich habe überlebt. Der fürchterlichste Absturz ist mit angenehmen Gefühlen verbunden. Man nimmt das ganz gelassen.

Schon Dürrenmatt hat gesagt, man müsse das Leben vom Tod her begreifen.
Ja, man verdrängt den Tod, doch er ist unsere einzige Gewissheit.

Was suchen Leute, die freiwillig in diesen Grenzbereich vorstossen?
Früher riskierten die Menschen das Leben für etwas, was ihnen sinnvoll erschien: den Krieg, den Raub von Frauen, den Kampf mit dem Bären oder die Erforschung der Antarktis. Damals lebten wir in einer feindlich gesinnten Natur. Heute haben wir uns von der Natur isoliert. Wir leben unsere Hormone und Reflexe, die zum Überleben da sind, nicht mehr aus. Deshalb kehren wir dahin zurück, wo sich unsere Evolution vollzogen hat. Je gefährlicher ein Abenteuer ist, desto mehr mobilisieren wir unsere Energien; die Nähe des Todes macht ein Erlebnis sexy.

Der Mensch ist also doch ein triebgesteuertes Wesen.
Die einen Menschen brauchen einen Ersatzkampf, andere nicht; jene, die den Kampf brauchen, können trotzdem friedlich sein. Manche würden ihn brauchen und sind deshalb unausstehlich. Ich bin ein friedfertiger Mensch, doch wenn ich zu lange nichts körperlich Anspruchsvolles getan habe, werde ich unausstehlich. Wenn ich am El Kapitan in Kalifornien eine Wand erklimme oder in der Antarktis eine Eiswüste durchquere, wird meine Seele innert kurzer Zeit ruhig. Man konzentriert sich auf die wenigen wirklich wichtigen Dinge: warme Kleidung, einen sicheren Platz für das Zelt. Man ist am Abend glücklich, wenn der Kocher funktioniert. Jene Topmanager, die in den Alpen ein Überlebenstraining absolvieren, sind wahrscheinlich nachher in ihrem Betrieb wieder viel besser auszuhalten.

Manager suchen den ultimativen Kick eher im Cockpit des Privatflugzeugs – manche bezahlen ihre Leidenschaft mit dem Tod, wie letztes Jahr die Banker Müller-Möhl und Michell.
Für diese Herren ist das sexy, weil Fliegen als gefährlich gilt und gefährlich ist. Offensichtlich ist beim Fliegen wie beim Bergsteigen eine gewisse Selbstüberschätzung dabei.

Bergsteiger sind Experten im Risikomanagement. Sie gehen messerscharf an die Grenze des Möglichen.
Viele meiner Freunde sind tot; männiglich ist überrascht, dass ich noch am Leben bin. Ich bin glücklich, dass ich noch lebe. Wenn ich jetzt stürbe, so hätte ich allerdings in meinen 57 Jahren mehr erlebt als die meisten, die hundert werden.

Haben Sie den Willen, so alt zu werden?
Sagen wir einmal 90 Jahre. Ich werde alles versuchen, dies zu erreichen. Doch wenn es passiert, passiert es. Da hilft kein Arzt mehr und auch kein Geistheiler. Ich bin sehr realistisch, weil ich die menschliche Hinfälligkeit täglich erlebe. Der Leitspruch «Ich werde älter und immer besser» ist nur eine fromme Lebenslüge.

Aber unsere Gesellschaft verdrängt den Tod.
Ja. Ich aber lese täglich die Todesanzeigen. Da sieht man doch, wie die Jahrgänge vor einem und hinter einem wie im Schützengraben fallen. 30-Jährige sterben an plötzlichem Herztod, es sterben 57-jährige Manager wie unlängst David de Pury. Vielleicht habe ich schon ein Bauchspeicheldrüsenkarzinom, von dem ich nichts weiss. Denn man spürt anfänglich sehr wenig bis nichts davon, obwohl es schon weit fortgeschritten sein kann. Das ist ein absolutes Todesurteil; statistisch lebt man noch sechs Monate.

Ihr Lebensmotto?
Es wird schon gut gehen, ich mache es aus Lust und Freude. Als Bergsteiger müssen Sie eine positive Einstellung haben. Wenn Sie unter einer Wand stehen und sich sagen, da komme ich nicht hinauf, steigen Sie gar nicht ein. Ich habe auch in der Medizin nach diesem Motto gelebt. Für mich als «Papierlischwiizer» wäre es eine Illusion gewesen zu glauben, jemals Chefarzt am Triemlispital zu werden …

… und doch wurden Sie Nachfolger des legendären Urs Hämmerli.
Ich war der erklärte Nichtkandidat meines Vorgängers. Ich habe auch nicht geplant, Uni-Professor zu werden.

Zuversicht ist gut und recht, doch als Devise im Berufsalltag wenig tauglich.
Wenn ich weiss, dass es in einer Wand zu einer bestimmten Zeit extrem viel Steinschlag gibt, dann steige ich eben vorher oder nachher ein. Früher hat man für die Eigernordwand drei bis sieben Tage gebraucht, heute hat man gelernt, gefährliche Zonen so schnell wie möglich zu passieren – Risikominimierung durch kurze Gefahrenexposition. Wenn man sich ein Ziel vorgenommen hat, darf man nicht herumtrödeln. 1978 sind wir in sechseinhalb Stunden vom Südsattel auf den Gipfel des Mount Everest gestiegen, heute brauchen manche 17 Stunden. Da haben wir alle unsere Triebsätze aktiviert; mit der Restenergie sind wir sicher zurückgekehrt. So war das Steigen in der Todeszone eine relativ sichere Angelegenheit. 1976 habe ich mit Reinhold Messner eine Erstbegehung am Mount McKinley in Alaska, dem kältesten Berg der Welt, gemacht. Wir hatten nichts zu essen, nichts zu trinken und keine Biwakausrüstung dabei, denn wir wollten die 2000 Meter in einem Zug überwinden. Nach zehn Stunden waren wir um Mitternacht auf dem Gipfel, morgens um vier Uhr wieder unten. Das ist Risikominimierung: Wir befanden uns in keinem Moment in Gefahr.

Wir leben im Zeitalter der Beschleunigung. Die Führungskräfte stehen unter immensem Druck und Stress. Wie bringen Sie Job und Spitzensport unter einen Hut?
Eine Vorbemerkung: Wer glaubt, er sei nicht ersetzbar, hat ein Problem. Manche Manager und Bundesräte reden sich das nur ein, um ihr geringes Selbstwertgefühl zu kaschieren. Zur Zeiteinteilung: Das Stadtspital Triemli ist ein sehr hohes Gebäude. Wenn ich, statt den Lift zu nehmen, die Treppe hinaufsteige, so habe ich drei Minuten Gratistraining pro Stationsbesuch absolviert. Morgens um sechs Uhr gehe ich ins Fitnessstudio, um vorab Lauf- und Krafttraining zu machen. Am Abend nehme ich mir ein- oder zweimal pro Woche die Freiheit, im Kletterzentrum Schlieren zwei Stunden intensiv zu klettern. Danach ist der Geist völlig ausgelüftet, und ich kann gut schlafen.

Schlafen Sie denn genug?
Am liebsten würde ich neun Stunden schlafen, doch mit sechs bis sieben Stunden komme ich aus; acht Stunden sind Luxus. Gewisse Dinge muss man sich halt abschminken. Ich sehe meine berufstätige Frau gelegentlich, vor allem am Wochenende, wir haben keine Kinder. Wir gehen nicht auf Partys, und im Kino war ich schon seit fünf Jahren nicht mehr. Wer seine gesamte Zeit ins Management investiert, ist entweder total süchtig oder hat ein Egoproblem.

Als Mediziner erleben Sie die tägliche Erfolglosigkeit.
Das muss man akzeptieren. Man muss die Zeit, die einem Kranken noch bleibt, so gut wie möglich gestalten. Wenn ich eine alte Frau trösten kann, hat sie für eine gewisse Zeit wieder ein Wohlgefühl, und das ist auch ein Erfolg. Wenn ich einem Schwerkranken die Atemnot nehmen kann, stirbt er zwar trotzdem, aber er fühlt sich erleichtert. Letzten Endes verlieren wir aber immer.

Die moderne Medizin weckt in uns den Traum vom ewigen Leben und vom gesunden Sterben.
Ewiges Leben wäre eine schreckliche Perspektive, doch man kann getrost sagen: Der Zelltod wird nicht überwunden werden können. Realistisch ist, bei möglichst guter Gesundheit 90 Jahre alt zu werden. Die hohe Zahl der Demenzkranken ist darauf zurückzuführen, dass die Leute heute dank den modernen Behandlungsmethoden weniger häufig an Krebs, Arteriosklerose oder Infektionskrankheiten sterben. Das empfindlichste Organ ist das Gehirn; irgendwann ist es aufgebraucht, und der Zeitpunkt des Todes ist gekommen. Dies ist der Preis der modernen Medizin: Manche dämmern in einem langsamen Siechtum bis zum Tod dahin. Der Wunsch, schnell zu sterben, ist einfühlbar, solange man gesund ist. Doch die Perspektiven ändern sich, der Sterbewunsch wird bei Krankheit relativiert. Alte Leute bringen sich um, weil sich niemand um sie kümmert oder weil sie fürchten, jemandem zur Last zu fallen.

Lassen Sie denn Sterbehilfe in Ihren Räumlichkeiten zu?
Absolut nicht.

Aktive Sterbehilfe, wie sie Exit betreibt, lehnen Sie ab?
Unbedingt. Es handelt sich dabei um eine Organisation, deren Mitglieder schon rechtskräftig wegen solcher Aktivitäten verurteilt worden sind. Das sind Leute, die sich ihren Kick holen, indem sie Kranken das Gift reichen und beim Sterben zuschauen – also sadistische Triebbefriedigung. Wer sich wegen Schmerzen umbringen will, ist medizinisch schlecht behandelt worden.

Wenn alle Ärzte die richtige Schmerztherapie anwendeten, wäre Exit folglich überflüssig.
Das ist richtig. Die Ärzte sind in letzter Zeit allmählich besser geworden; es gibt aber immer noch zu viele schlechte. Ich bin auch deshalb radikal gegen aktive Sterbehilfe, weil solche Sterbehilfeorganisationen auf Mitpatienten und Mitpensionäre Druck ausüben und sie den Eindruck erhalten, nur noch da zu sein, um entsorgt zu werden. Statt den alten Menschen mehr Pflege und Zuneigung zu geben, offeriert man ihnen Exit. Das ist furchtbar.

Wird die Lebenserwartung dank der medizinischen Forschung auf 100 Jahre steigen?
Ich habe in meinen fast 40 Jahren seit meinem Studienbeginn eine fantastische Entwicklung der Forschung erlebt. Doch der Grenznutzen wird immer kleiner. Die Lebensverlängerung wird nur noch geringfügig steigen, und die Gesundheit im Alter wird nur noch leicht besser werden.

Wie viel Zeit ist Ihnen noch beschieden, um die höchsten Gipfel zu erklimmen?
Bergsteigen ist eine mentale Sache. Die nächsten zehn Jahre werde ich noch besser werden. Ich habe meine Leistung dank gezieltem Training noch steigern können. Allerdings wird jetzt der Trainingsaufwand grösser, um meinen Level zu halten. Da ich als Beamter der Stadt Zürich mit 63 Jahren pensioniert werde, habe ich in fünf Jahren mehr Zeit zu trainieren. Letzten Endes wird eben doch alles schwerer, und die Berge werden höher. Mit 90 wird der Üetliberg zur Referenzgrösse.
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