Joe Biden ist mit 78 Jahren älter als alle anderen US-Präsidenten beim Amtsantritt vor ihm. Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht?
Anne Jansen:
Natürlich halten sich Stereotype bezüglich der Leistungsfähigkeit älterer Menschen hartnäckig. Eine schlechte Nachricht ist das daher per se nicht. Was wir heute feststellen: Oft sind die Unterschiede bezüglich körperlicher und geistiger Fitness innerhalb der Altersgruppen sehr viel grösser als zwischen den Altersgruppen. Die steigende Lebenserwartung führt dazu, dass viele Menschen heute mit über 70 an einem ganz anderen Ort stehen als früher.

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75 ist das neue 65?
Sagen wir es einmal so: 70 ist das neue 66. Der neue US-Präsident kann mit seinem Alter auch als Rollenmodell dienen. Immerhin zeigt er seiner Generation, wie viel sie noch zustande bringen kann. Bezüglich Seniorität kommt bei Joe Biden hinzu, dass er mit Kamala Harris, 56, eine relativ junge Vizepräsidentin im Team hat.

Kann ein Gentleman, der mit Schreibmaschine und Filofax-Agenda ins Berufsleben eingestiegen ist, sein Volk glaubwürdig durch die digitale Transformation führen?
Generell spricht nichts dagegen. Biden selber hat ja alle Phasen der Neuerungen durchlebt und mitgemacht; somit weiss er um Kraft und Schnelligkeit der Transformation. Kommt dazu: Ein Ausdruck wie «je älter, desto weniger digitalaffin» ist eher Klischee als Realität. Aber natürlich ist es auch hier entscheidend, mit welchen kompetenten Köpfen Biden sein Kabinett besetzen wird.

Wo liegen die Risiken, wenn der mächtigste Mann der Welt hart an der 80 kratzt?
Möglicherweise erholt sich ein solcher Mensch weniger schnell von Erkrankungen. Wobei dieses Risiko bei 50-Jährigen genauso bestehen kann.

Die Liste von über 75-Jährigen, die immer noch jeden Tag im Geschäftsleben stehen, ist lang. Was treibt diese Leute an?
Das hat wohl einerseits mit einem Gefühl der Wertschätzung und Kompetenz zu tun. Also ein Antrieb, der im Merksatz «Ich kann es noch» liegt. Wenn jemand auch über 75 noch viel zu sagen und zu geben hat, sehe ich nichts Verkehrtes darin, das auch tatsächlich auszuleben.

Sind das Menschen, die nichts aus ihrem Pensionärleben zu machen wissen und einfach nicht loslassen können?
Das kann natürlich schon eines der Persönlichkeitsmerkmale sein. Auf jeden Fall ist es mit steigendem Alter immer eine gute Idee, rechtzeitig Nachfolgerinnen und Nachfolger aufzubauen.

In der Regel heisst es, dass Frauen ihr Leben in mehreren Dimensionen leben könnten und dass der Businesstunnelblick eher eine männliche Sache sei. Richtig?
So würde ich das nicht verallgemeinern. Aber klar: Wenn ein beruflich sehr aktiver Mann als Vater aufgrund der damals herrschenden Rollenverteilung nicht sehr stark nach seinen Kindern gesehen hat, kann es sein, dass er auch als Grossvater nicht ständig Zeit mit den Enkeln verbringen mag.

Warum kennen wir kaum prominente Geschäftsfrauen, die über 75 noch volle Berufs-Power entwickeln?
Das hat wohl auch damit zu tun, dass die Rollenmodelle früher viel klarer und einseitiger gebaut waren. Aber wenn wir noch einmal nach Washington, D.C., blicken, fällt immerhin die 80-jährige Nancy Pelosi, Sprecherin des Repräsentantenhauses, auf.

Ist das Pensionierungsalter 65 eine überholte Sache?
Das muss man differenziert anschauen. Für Berufsleute mit kurzer Ausbildungszeit, die ihr Leben lang harte physische Arbeit geleistet haben, kann das Pensionierungsalter 65 auch heute noch Sinn machen. Für Menschen aber, die erst nach langer Ausbildungszeit ins Berufsleben kamen und dieses eher als «Brainworker» absolvieren, könnten gestaffelte Prozesse mit flexibleren Altersgrenzen passender sein. Die gedankliche Schranke, dass mit 65 für alle Schluss sein soll, halte ich für nicht mehr zeitgemäss.

Dann würde Ihnen auch ein Präsident mit Antrittsalter 95 keine Sorgen machen?
Ein US-Präsident mit 95 – warum nicht? Jede Person für ein solches Amt sollte man zunächst an ihrer physischen und psychischen Fitness festmachen. Nicht am Alter.

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Andreas Güntert
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