Als Joe Biden im letzten TV-Duell mit Donald Trump Ende Oktober gefragt wird, was er bei seiner Amtseinführung zu denen sagen würde, die er bei der Präsidentenwahl nicht für sich gewinnen konnte, antwortet er: «Ich werde sagen: Ich bin ein amerikanischer Präsident. Ich repräsentiere euch alle, ob ihr nun für mich gestimmt habt oder gegen mich.»

Es sind Sätze wie diese, die ausdrücken, auf welche Botschaft Biden in Krisenzeiten besonders setzt: Er präsentiert sich als volksnaher Brückenbauer, der die tiefen Gräben zwischen Demokraten und Republikanern, zwischen Armen und Reichen, zwischen Schwarzen und Weißen schliessen will, um ein gespaltenes Land wieder zu einen. «Wir befinden uns in einer Schlacht um die Seele dieser Nation», sagt der schlanke, etwa 1,83 Meter grosse Mann mit dem weissen Haar, der am 20. November 78 Jahre alt wird.

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Wenn Biden als 46. Präsident der USA bestätigt wird und er im Januar ins Weisse Haus einzieht, ist er nicht nur der älteste Präsident aller Zeiten. Er steht auch auf dem Gipfel einer politischen Karriere, die vor einem halben Jahrhundert ihren Ausgang nahm. 1972 setzt er sich mit noch nicht einmal 30 Jahren bei der Senatswahl in Delaware durch. Er vertritt den Bundesstaat im Kongress bis Anfang 2009, dann übernimmt er für acht Jahre den Posten des Vizepräsidenten unter Barack Obama.

Während der junge Obama als erster schwarzer US-Präsident und Hoffnungsträger im Rampenlicht steht, soll der in Washington über Parteigrenzen hinweg gut vernetzte und respektierte Biden im Hintergrund für den nötigen Rückhalt bei Abgeordneten und Senatoren sorgen, das Regierungsprogramm zur Bewältigung der globalen Finanzkrise koordinieren, und seine Erfahrung als Außenpolitiker einbringen.

Biden, der Anti-Trump

Doch selbst in vorderster Reihe zu stehen und das höchste politische Amt der USA auszufüllen, wollen ihm viele auch in der eigenen Partei lange nicht so recht zutrauen. Erst im dritten Anlauf nach 1988 und 2008 gelingt es ihm im Frühjahr 2020, die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten zu holen. Aber auch dann bleiben Zweifel, ob Biden der Richtige ist, um es mit dem rüpelhaften Politik-Quereinsteiger Donald Trump aufzunehmen.

Zu alt, zu fahrig und zu träge finden ihn die einen. Für andere ist er schon zu oft in Fettnäpfchen getreten. Sie erinnern sich an manche verbale Entgleisung und sehen ihn zu sehr in der alten Garde der Demokraten verwurzelt, die sich schwertut mit dem Linksruck, der immer grössere Teile der Partei erfasst. Das Beste an Biden sei, dass er eben nicht Trump sei, sondern ein Anti-Trump, heisst es. Manche halten das für zu wenig. Andere aber meinen, genau das ist es, was die USA nach vier Jahren Trump jetzt brauchen.

Der Republikaner Trump zeigt sich zunächst wenig beeindruckt von seinem Rivalen. Er verspottet ihn als «Sleepy Joe» - verschlafener Joe. Dann aber breitet sich die Coronavirus-Pandemie immer rasanter aus. Die USA stürzen in die schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten, Millionen verlieren ihre Jobs. Gleichzeitig rollt eine Protestwelle gegen Rassismus und Polizeigewalt durch das Land, als im Mai ein weißer Polizist den Schwarzen George Floyd bei einem Einsatz in Minneapolis tötet und die Tat mit einer Handykamera festgehalten wird. Viele Demonstrationen werden begleitet von Unruhen und Ausschreitungen, immer mehr Rechtsextreme mischen mit.

Trump ist so gefordert wie noch nie seit er im Weissen Haus den Ton angibt. Seine Reaktion: Er spielt die Pandemie herunter, verhöhnt Maskenträger, zieht als Verfechter von «Law and Order» mit Gewaltdrohungen gegen angebliche Antifa-Linksextremisten und illegale Einwanderer zu Felde, und sieht als Ursache für die schweren Waldbrände an der Westküste nicht den Klimawandel, sondern eine schlecht organisierte Forstverwaltung - alles Steilvorlagen für Biden. Konsequent tritt der Demokrat in der Öffentlichkeit mit Mund- und Nasenschutz auf, gibt sich zurückhaltend und besonnen, wirft Trump miserables Krisenmanagement vor und beschuldigt ihn, mit einer aggressiven Rhetorik die USA noch mehr zu entzweien.

Vor allem aber zeigt Biden Mitgefühl mit denen, die unter der Pandemie, der Existenzangst und der Gewalt leiden. Er mag nicht über das Charisma Obamas verfügen, aber er beherrscht den Spagat zwischen der Rolle des Staatsmanns und der des nahbaren Mannes aus dem Volk, der weiß, wie man Trost spendet. Glaubwürdig ist er auch deshalb, weil sich durch seine eigene Biografie eine Reihe von Schicksalsschlägen zieht.

Todesfälle in der Familie

Geboren 1942 in Scranton in Pennsylvania als erstes von vier Geschwisterkindern einer katholischen Arbeiterfamilie bringt Biden sich noch als Junge bei, sein Stottern weitgehend in den Griff zu bekommen. Er rezitiert dazu vor dem Spiegel Gedichte. Nach dem Studium fängt er im Bundesstaat Delaware an, als Anwalt zu arbeiten und sich in der Lokalpolitik zu engagieren.

Ungewöhnlich rasch folgt der Sprung in den Senat, doch noch vor seinem Debüt in Washington wird der politische Erfolg überschattet von einem Autounfall, bei dem seine Frau Neilia und seine 13-monatige Tochter Naomi sterben. Seine beiden Söhne Beau und Hunter überleben schwer verletzt. Biden erwägt seinen Rückzug aus der Politik, legt dann aber doch am Krankenbett seiner Kinder den Amtseid ab.

Seit 1977 ist Biden mit der Lehrerin Jill verheiratet, mit der er eine gemeinsame Tochter hat. 2015 stirbt sein Sohn Beau, ein Irak-Veteran und Generalstaatsanwalt von Delaware, mit 46 Jahren an einem Hirntumor. Sein Sohn Hunter kämpft als Erwachsener mit Drogenproblemen. Biden selbst muss 1988 wegen zwei Hirn-Aneurysmen operiert werden. Die amerikanische Öffentlichkeit ist tief beeindruckt davon, wie Biden trotz der tragischen Rückschläge immer wieder aufsteht und daraus auch Kraft schöpft.

Mehrfach in der Kritik

Doch im Laufe seiner langen Laufbahn gerät Biden auch mehrfach in die Kritik. 1988 endet seine Kandidatur-Bewerbung abrupt, weil er Teile einer Rede des damaligen britischen Labour-Chefs Neil Kinnock abgekupfert haben soll, ohne dies kenntlich zu machen. 1991 wirft man ihm zu passives Verhalten als Vorsitzender des Justizausschusses vor, als es in einer Anhörung des späteren Verfassungsrichters Clarence Thomas um Vorwürfe sexueller Belästigung geht.

2020 sieht Biden sich selbst mit Vorwürfen konfrontiert, er habe 1993 eine Frau sexuell genötigt. Biden, der als Senator federführend ein Gesetz zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen durchsetzte, weist dies zurück. Viele nehmen ihm auch übel, dass er 2003 für den umstrittenen Irak-Einsatz stimmte.

Vertraute und Weggefährten betonen jedoch durchgängig positive Charaktereigenschaften Bidens. Worte wie «aufrichtig» und «zuverlässig» fallen. In Europa hofft man auf versöhnlichere Töne, nachdem die Beziehungen unter Trump auf einen Tiefpunkt gefallen sind. Biden will zurück in internationale Abkommen, die Trump einseitig aufgekündigt hat, und verspricht mehr Einsatz für den Klimaschutz.

Als sich die Auszählung der Stimmen bei der Präsidentenwahl über Tage hinzieht und Trump immer lauter angeblichen Wahlbetrug anprangert, mahnt Biden zu Ruhe. Sein Angebot: Hoffnung statt Angst, Wissenschaft statt Fiktion, Wahrheit statt Lügen, Einheit statt Spaltung: «Ich werde ein Verbündeter des Lichts sein, nicht der Dunkelheit.»

Als Biden sich schliesslich am Samstag den Sieg sichert, sagt er als erstes, es sei an der Zeit, dass die Amerikaner als Nation wieder zusammenkommen. Es gehe jetzt darum, das Land zu heilen. Ob er damit die Millionen von enttäuschten und wütenden Trump-Wähler erreicht, wird sich zeigen müssen.

(reuters/dhü)