Der dynamische Schweizer Arbeitsmarkt hat die Einwanderung angetrieben. Beim Anteil der Migranten an der Bevölkerung liegt die Schweiz «in der Spitzengruppe der OECD, neben klassischen Einwanderungsländern wie Australien und Kanada», sagt Daniel Müller-Jentsch vom Think Tank Avenir Suisse, Herausgeber des Kompendiums «Die neue Zuwanderung in Zahlen». Ungewöhnlich sei die starke «Fluidität»: Nach einiger Zeit verlassen viele die Schweiz wieder. Weil aber mehr nachrücken, bleibt der Saldo positiv – die ausländische Bevölkerung wächst.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Müller-Jentsch bezeichnet die Arbeitsmarktnomaden als mehrfach mobile «Free Movers». Die meisten sind hoch qualifiziert und karrierebewusst. «Intracompany Transferees» werden vom Arbeitgeber rund um die Welt bugsiert, «Transient Settlers» lassen sich vorübergehend nieder und wechseln bisweilen auch die Firma. Hinzu addieren sich die vielen, die in der Schweiz bleiben möchten. Die meisten Zuwanderer kommen heute aus den EU-Staaten.

Die Nachbarn und nahen Verwandten sind zwar nicht immer die spannendsten – aber alle bringen ihre Kultur mit und leben sie ein Stück weiter. Zum Teil sondern sie sich bewusst ab von den Einheimischen. Wir porträtieren fünf Einwanderer unterschiedlichster Herkunft, vom «grossen Kanton» bis Japan. Während sich Deutsche im Wochentakt in wechselnden Zürcher Bars treffen und Japaner gern im «Ryokan Hasenberg» speisen, verharren Amerikaner oft in den Expatriates-Raumschiffen um ihre Konzerne. Willkommen im Einwanderungsland Schweiz!

Der Japaner

Eigentlich wollte er nur die üblichen drei, vier Jahre in der Schweiz verbringen – doch Masafumi Kurahayashi ist bis heute geblieben. 1986 von der Nomura Bank nach Zürich geschickt, erhielt der Japaner zwei Jahre später von Schweizer Geldhäusern Angebote. «Das waren die goldenen Zeiten», erinnert sich der 52-Jährige. Kurahayashi wechselte zu Julius Bär, pendelte fortan zwischen Zürich und Tokio, lernte in der alten Heimat seine Frau Yoshiko kennen und nahm sie mit in die Schweiz.

Drei Jahre später gründete er seine eigene Anlageboutique, die Centerseas Asset Management. Das Geschäft blühte, bis zur Jahrtausendwende der Niedergang der Internetwirtschaft eine Börsenbaisse einläutete. «Auch ich habe viel Geld verloren», sagt Kurahayashi. Ihn drängte es nach einer Neuorientierung, «ich wollte in der Schweiz etwas Sichtbares schaffen». 2003 kaufte das Ehepaar auf dem Hasenberg im Aargau ein Hotel mit Restaurant.

Sein Plan, dort Wohnungen zu errichten, scheiterte am Einspruch des Kantons. Kurahayashi machte aus der Not eine Tugend und baute für 6,8 Millionen ein neues Hotel mit Restaurant. Im knallgelben Haus wird feinstes Japan-Feeling geboten: Das Restaurant ist «Michelin»-besternt, im Hotel entspannt man sich in japanischen Zimmern und im Thermalbad. Das «Ryokan Hasenberg» hat die Anlaufschwierigkeiten überwunden, Kurahayashi möchte kürzer treten und mehr Zeit seiner Vermögensverwaltungsfirma widmen.

Auf dem Hasenberg lassen sich nicht nur Einheimische verwöhnen, sondern auch viele in der Schweiz lebende Japaner. Davon registriert das Bundesamt für Migration 4342, die japanische Botschaft sogar 5500. Vor 20 Jahren waren es noch viel mehr. Doch als in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in Tokio die Spekulationsblase zerbarst, verliessen viele japanische Unternehmen die Schweiz. «Damals gab es in Zürich etwa 50 japanische Firmen, heute sind es noch eine Handvoll», sagt Kyoko Ginsig, Vorstandsmitglied der Schweizerisch-Japanischen Gesellschaft.

Geblieben sind jene Japaner, die sich hier eine Existenz aufgebaut oder eine Ehe geschlossen haben. «Die Zahl jener Japaner, die Schweizer heiraten, steigt seit einigen Jahren deutlich an», beobachtet Atsushi Nojima-Aschwanden. Die Mehrheit der gemischten Ehepaare verlieben sich gemäss Nojima-Aschwanden, der Japanisch sowie Kalligrafie unterrichtet und für seine Landsleute das Magazin «Grüezi» herausgibt, in Sprachschulen.

Japaner leben sich in fremden Kulturen schnell ein. Aber sie halten Kontakt; Japanerinnen treffen sich oft privat – zum Essen und Tratschen. Gut frequentiert sind Vereine für japanische Tänze, Musik oder Ikebana. Zuspruch finden japanische Lebensmittelläden. Vor kurzem hat in Adliswil ZH die erste japanische Bäckerei ihre Backstube angeheizt.

Die Russin

In der Millionenstadt Gorki aufgewachsen, dem heutigen Nischni Nowgorod, zog Julia Feisst als Teenagerin mit ihrer Mutter, einer Ärztin, zum Stiefvater nach Liechtenstein. Hier wurde es ihr bald zu eng. In Zürich studierte sie Publizistik, Wirtschaft und Arbeitspsychologie. Als ihr Nachname aus dem Russischen transkribiert wurde, ergab das ein hässliches Wort, also übernahm sie den Namen des Stiefvaters. «Bei Bewerbungen», hat sie beobachtet, «ist die Namensendung -ov genauso ein Problem wie -ic.» Feisst arbeitet als Assistentin des Zürcher Anwalts Werner Stauffacher, Präsident des Kooperationsrats Schweiz–Russland.

Russen, sagt Feisst, schätzten an der Schweiz das sichere Rechtssystem sowie die hohen Standards in Medizin und Hochschulbildung. Ihr gefallen «die kurzen Wege in der Stadt und hinaus in die Natur». Sich abkapseln liege nicht in der Natur der Russen, «wir wollen uns integrieren, nicht als abgesonderte Gruppe gelten». Russische Restaurants gibt es nicht, lediglich im Zürcher Seefeld ein Lebensmittelgeschäft. «Auf Wodka und Kaviar verzichten wir nicht gern», sagt Feisst lachend.

Die meisten Russen bringen Universitätsabschlüsse mit. Vladimir Rychev hat einen Software-Wettbewerb gewonnen, worauf Google den heute 25-Jährigen zum Praktikum einlud und schliesslich einstellte. Seit Mai lebt er, mit Frau Yulia und dem kleinen Sohn, in Zürich Enge. Er hatte mehrere Google-Standorte gesehen und sich für Zürich beworben, «ein ideales Umfeld für eine Familie mit Kind». Im Ausgang ist der junge Vater selten zu finden, eher mit Kollegen, die er noch von der Moscow State University kennt, «bis Mitternacht am Küchentisch mit einer Flasche Wein». Hat er konkrete Fragen an Landsleute, findet er oft Hilfe in Webcommunities wie www.ruswiss.ch/club.

Ansonsten trifft man sich am russischen Markt in Zürich Wipkingen, bei Festen der Botschaft in Bern, an der Wasserweihe zu Ostern am Zürihorn. Eine echte Community hat sich um die russisch-orthodoxe Kirche am Narzissenweg im Zürcher Kreis 6 gebildet. In Diskotheken gibt es Russenpartys, und ins Hotel Gotthard lädt die Eignerfamilie Manz gelegentlich die «russische Schweiz» ein. Julia Feisst geht eher «dahin, wo auch die Schweizer sind», wie in die Bars Carlton oder Kaufleuten. Laut Werner Stauffacher mögen Russen ein schickeres und gepflegtes Umfeld.

Schätzungen zufolge leben rund 30  000 Russen in der Schweiz; die offizielle Statistik zählt nur 10  000. Erklärung für die Differenz: Zunächst waren vor allem Russinnen eingewandert, die einen Schweizer heirateten; viele dürften heute eingebürgert sein. Zudem werden nur noch Bürger Russlands als Russen gezählt – Bürger anderer Republiken der ehemaligen Sowjetunion werden getrennt erfasst: Ukrainer (5250 Personen), Kasachen (660), Weissrussen (860), Georgier (360), Letten (1250), Litauer (877).

Der Amerikaner

In der Welt von Chuck Davis geht die Sonne nie richtig unter. Der älteste Sohn ist gerade in Kenia auf Maturareise, die Zweitälteste arbeitet in einem Sozialprojekt in Rumänien, der Dritte ist auf einem Spanien-Trip. Der 53-jährige Vice President und seine Familie wohnten schon in New York, Bremen, Chicago, München und seit drei Jahren in einem Vorort von Zürich. Insgeheim hofft Davis, nach dem Zürich-Abstecher und einem zweiten Zwischenhalt in Chicago noch ein paar Jahre in Asien anhängen zu können.

Davis ist Vice President of Research, Development and Quality, also Forschungschef von Kraft Foods Europe mit Sitz in Glattbrugg bei Zürich. «Expat – das ist mein Lebensstil», sagt er. Als Expat könnte er dereinst auch in Pension gehen. Vor 17 Jahren hat die Reise angefangen, damals zügelte der Amerikaner nach Übersee. Erste Station: Bremen. Bei Kraft Foods liegt er mit seinen Expat-Ambitionen richtig. Der Nahrungsmittelkonzern hat elf Milliardenmarken im Sortiment. Zu den bekanntesten gehören Toblerone, Milka, Jacobs, Philadelphia, Trident, Stimorol und V6. Davis, Chemiker und Nahrungsmitteltechnologe, ist für die Weiterentwicklung der Brands, die Einhaltung der Lebensmittelvorschriften und Produktinnovation in Europa zuständig.

Ergo reist er viel in die Märkte, besucht die internationalen Produktions- und Forschungszentren. Dazwischen wirkt er am Europa-Hauptsitz, einem eleganten Glashaus zehn Minuten vom Flughafen Zürich-Kloten. Die Kraft-Zentrale in Glattbrugg ist eine Uno im Taschenformat: Unter den 600 Mitarbeitern sind 50 Nationalitäten versammelt. Es ist ein beständiges Kommen und Gehen, nicht erst seit der Akquisition und Integration der britischen Cadbury. Gesprochen wird überall englisch. Es ist ein sonderbares Biotop, abgekoppelt vom regionalen Arbeitsmarkt. Viele Mitarbeiter sind bloss drei, vier Jahre vor Ort, dann ziehen sie ins nächste Kraft-Epizentrum. Internationale Erfahrung ist im globalen Konsumgütergeschäft zentral. «Es geht um Sensibilität für Regionen und Länder», meint Davis.

Im Privaten dreht sich fast alles um die Zurich International School in Kilchberg. Dort trifft man sich mit anderen Familien, die für ABB, UBS, CS, Zurich, Swiss Re durch die Welt ziehen. In der Freizeit ist Davis oft mit dem Bike oder den Ski unterwegs. Seine Frau hat sich längst an den Lebensstil gewöhnt. Sie organisiert die Familie, gibt im nahen Altersheim Englisch-Unterricht, koordiniert Lehrer an der International School – Freiwilligenarbeit, wie in den USA üblich. Sie verkehrt im American Women’s Club of Zurich, der bald das 80-Jahr-Jubiläum feiert.

Die Amerikaner in der Schweiz sind traditionell gut organisiert. Wichtigste Institution ist die Swiss-American Chamber of Commerce. Demokraten wie Republikaner betreiben einen eigenen Ableger. Man trifft sich auch im American Club of Zurich.

Der Inder

Sieben Städte in zehn Jahren. Srini Ramakrishnan – Kurzname «Cheeni» – hat sich nach Stationen auf zwei Kontinenten vor 18 Monaten für einen neuen beruflichen Standort entschieden: Brandschenkestrasse 110, Zürich, Google Schweiz. Seinen aktuellen Lebensmittelpunkt wählte der indische IT-Crack aus Chennai (vormals Madras) mit Bedacht: «Ich wuchs in einer lärmigen Stadt mit fünf Millionen Einwohnern auf. Mein Wunsch war es, in einer Weltklasse-City zu leben, die in guter Nähe von Bergen und Bauernhöfen liegt. Da ist Zürich perfekt.» Was der Googler mit Wohnsitz Adliswil gerne nutzt für Wanderungen oder Power Running auf den Üetliberg. Naturnähe war an Cheenis bisherigen Stationen kein Asset. Er machte seinen Master in Computer Science in Chennai und im amerikanischen Pittsburgh. Danach war er in Bangalore und Hyderabad für Google tätig.

Indische Businessnomaden sind hierzulande wegen ihrer IT-Expertise begehrt. «Von den rund 1800 im Jahre 2009 eingereisten erwerbstätigen Inderinnen und Indern waren knapp 80 Prozent bei den grossen Informatikanbietern angestellt», heisst es beim Bundesamt für Migration. Rund 9000 Inder leben hier, doppelt so viele wie 1998. Eine kleine Community, die sich in Zürich, Genf, der Waadt, Basel-Stadt und im Aargau ballt. «Inder bringen eine hervorragende Ausbildung mit», sagt Waseem Hussain. Man besuche zwar indische Feste, bewege sich aber eher in Expat-Kreisen. Der indischstämmige Berater, der mit seiner Zürcher Firma Marwas Schweizer für den Subkontinent fit macht, nennt Kommunikation, Risikobereitschaft und Streben nach Perfektion als Stärken der Inder.

Cheeni, der Tamil spricht und mit einer Inderin verheiratet ist, lernte früh, sich durchzusetzen. Durch Diversity-Programme seien viele Studienplätze in Indien bereits vergeben, der kleine Rest ist deshalb stark begehrt: «In meinem Fall bewarben sich 100 Aspiranten für drei verfügbare Positionen.» Ein Little Bombay in der Schweiz vermisst Cheeni nicht. Was er an Zutaten für indische Gerichte brauche, finde er «zu gut 80 Prozent». Sein heissester Shopping-Tipp ist Aggarwal in Bern, Basel und Zürich. Wenn der IT-Profi nicht gerade bei Google die Ausnützung von Server- und Datenbank-Kapazitäten optimiert, zieht es ihn in die Berge. Dazu findet er sich mit Gleichgesinnten über Websites wie Meetup.com oder Hikr.org. Liebstes Nahziel? «Die Churfirsten.» Was sich aus seinem Mund schon sehr gut anhört. Cheeni möchte perfekt werden: «Das grösste und eigentlich einzige Problem hier ist die Sprachbarriere, daran arbeite ich.» Mit einem wöchentlichen Deutschkurs. Natürlich bei Google.

Seine Zukunft hat der Businessnomade nicht durchgeplant. «Die Schweiz ist prima, mein Planungsfenster nicht besonders gross. Wohin der nächste Schritt geht, weiss ich nicht. Er wird einfach passieren.»

Die Deutsche

Als ihr Arbeitgeber die Europazentrale vor zwei Jahren von Düsseldorf nach Wallisellen verlegte, bot er Spezialisten aus den verschiedensten Ländern einen Job an. Auch die Chemikerin Saskia-Marjanna Schulz wurde angefragt, ob sie zum Umzug bereit wäre. Sie war. «Zürich hat mich schon immer begeistert», sagt die 39-Jährige, die in Meersburg am Bodensee aufgewachsen ist. Für ihren Brötchengeber, den weltweit operierenden Hygienespezialisten Ecolab, hatte sie zuvor in England eine zugekaufte Firma integriert, Projekte geleitet, Marketing gemacht. Seit fast neun Jahren arbeitet sie für Ecolab, derzeit als Communications-Managerin in der Division Healthcare.

Dass viele Deutsche keine einheimischen Freunde finden, versteht Schulz nicht so recht. Sie selbst hat «kaum deutsche Freunde», sondern über ihre Hobbys – darunter Singen, Yoga und Konzertbesuche – Schweizer und Expatriates aus anderen Ländern kennen gelernt. Sie beobachtet die Businessnomaden in ihrem Multi-Nationen-Büro: «Die Woche über ist man von früh bis spät am Schreibtisch, am Wochenende fährt man in die Berge – da bleiben kaum Chancen, neue Kontakte zu knüpfen.»

Dazu kommt die Klage vieler Deutscher, die sich von ihren Gastgebern ungeliebt fühlen. Der Schreck, dass trotz mehr oder weniger gleicher Sprache die kulturellen Unterschiede so eklatant sind, fährt vielen in die Knochen. Dabei sind die Deutschen extrem integrationswillig; überall, wo Einheimische verkehren, von Langstrasse über Zürichseeufer bis zu edlen Bars wie Valzer oder Terrasse, sind sie anzutreffen. «Eigene» Restaurants oder Geschäfte haben sie nicht.

Saskia Schulz hat lange das Zürcher Café Sprüngli gemieden, weil praktisch alle deutschen Expats ihre Besucher hier durchschleusen. Teil dieser touristischen Station wollte sie nie sein – bis sie auf Anraten eines Schweizer Freundes einmal morgens zum Zeitunglesen hinging. Seitdem findet sie das Café «ganz cool».

Vor allem in Zürich ist die Schweizer Deutschen-Dependance angeschwollen – heute leben über 266  000 im Land. In einer so grossen Gruppe finden sich immer Gleichgesinnte. Wobei diejenigen, die sich absondern, dies «sicher nicht gezielt und willentlich tun», sagt Saskia Schulz – eher wohl aufgrund ihrer enttäuschten Erwartungen. Als «Fluchtweg» legen sich manche eine Zweitwohnung in der alten Heimat zu; beliebt dafür ist Berlin. Die meisten «fliehen» nur von Zeit zu Zeit in kleine Parallelwelten: «Zum Xing-Treffen gehen» ist etwa ein beliebter Afterwork-Zeitvertreib für Exildeutsche, die sich via Gruppen mit Namen wie «Deutsche in Zürich» bei Xing.com verabreden. Diese Treffen in wechselnden Lokalen haben sich zu echten Paarungsmärkten entwickelt: «Überhaupt nicht mein Ding», lacht Saskia Schulz.

Dirk Ruschmann
Dirk RuschmannMehr erfahren