Ich habe die Hypothese formuliert, dass die meisten Risikosituationen durch Akteure in spezifischen sozialen und ökonomischen Umfeldern, so genannten Soziotopen, ausgelöst werden. Es scheint Soziotope zu geben, die geeigneter sind als andere, dass sich die Individuen gegenüber Kontrollprozessen immunisieren oder diese ausser Kraft setzen können – und das ist ein substanzielles Risiko.

Der Grund dafür kann unterschiedlich sein: Erfolg, verbunden mit der Drohung, die Organisation zu verlassen; ein Guru-Effekt – einzelne Mitarbeiter gelten als unantastbar, völlig losgelöst von ihrem tatsächlichen Erfolg; Selbstbestätigungseffekte von Gruppen und andere gruppendynamisch erklärbare Phänomene. Die Soziologie kennt viel versprechende Methoden, um solche Strukturen zu erkennen.

Eine Analyse der grössten Verlustfälle im Finanzbereich zeigt die verheerende Rolle hochgejubelter «Stars». Ob beim Zusammenbruch der Baring-Bank (Nick Leeson), bei den Milliardenverlusten der Metallgesellschaft (Arthur Benson) oder der UBS im Zusammenhang mit General Equitiy Derivatives (Ramy Goldstein), dem Zusammenbruch des Junkbond-Handels bei Drexel Burnham (Michael Milken) – es waren stets Stars, die das Desaster ausgelöst haben. Im Falle des Beinahekonkurses des LTCM-Hedge-Fund waren es Superstars zuhauf (John Meriwether, Robert C. Merton, Myron Scholes, Chi-Fu Huang, David Mullins und andere), die das sich abzeichnende Desaster nicht nur nicht abzuwenden vermochten, sondern dieses auch verursacht hatten.

Eine soziologische Analyse von «Stars» fehlt weitgehend. Die wenigen Untersuchungen beschränken sich auf Stars im Showbusiness, vor allem beim Film und Fernsehen; Marshall (1997) und Dyer (1998) lieferten neuere Untersuchungen auf diesem Gebiet. Die Praxis des Risikomanagements würde substanziell von den Erkenntnissen einer sozialwissenschaftlichen Analyse von Finanzstars profitieren. Natürlich steht nicht einmal genau fest, was unter einem Star verstanden werden soll respektive was die konstituierenden Merkmale eines Stars sind.

Ist es der Erfolg oder der daraus abgeleitete Reichtum (Bill Gates), seine öffentliche Wirkung (Alan Greenspan), die Imitierbarkeit des Erfolgs im Kleinformat (Warren Buffet), das Charisma (Michael Gorbatschow) oder die Fähigkeit zur Manipulation von Massen (das Beispiel ist wohlbekannt), Visionen und unerreichbare Fähigkeiten (Albert Einstein) oder die Verkörperung eines Ideals (Claudia Schiffer), ein hoher Grad an Identifikation für ein spezifisches Zielpublikum (Boy-Groups), begleitet von Entrücktheit, Unerreichbarkeit und Exzentrik (Michael Jackson), oder eine Kombination dieser Dinge?

Es ist nicht zufällig, dass es im Finanzbereich in vielen Fällen die Stars sind, die für ein Desaster verantwortlich sind: Sie schaffen es kraft ihrer Stellung, sich systematisch gegenüber selbst elementaren Kontrollmechanismen zu immunisieren oder diese gar nicht erst entstehen zu lassen. In einem der eingangs erwähnten Fälle konnte die Bank einen Star-Trader nur gewinnen, indem sich das Management verpflichtete, seine Position nicht in die tägliche Konsolidierung des globalen Marktrisikos der Bank einzubeziehen. Der für das globale Risk-Controlling verantwortliche Manager hatte keine Chance, sich dagegen durchzusetzen. Ich würde die Fähigkeit zur Immunisierung gegenüber Kontrollmechanismen sogar als konstituierendes Merkmal eines Finanzstars bezeichnen.

Für die Zwecke des Risikomanagements wäre es darum von entscheidender Wichtigkeit, Soziotope zu identifizieren, bei denen die Voraussetzungen für das beschriebene Immunisierungsverhalten günstig sind.

Als notwendige, aber nicht unbedingt hinreichende Voraussetzungen für die Evolution eines Finanzstars dürften etwa die folgenden Faktoren in Frage kommen:
  • ein diffuser Leistungs- und Erfolgsmassstab,
  • die unzureichende und vor allem nicht innerhalb einer nützlichen Frist feststellbare Unterscheidung von Glück und Können,
  • ein Umfeld, das ausgeprägte Survivorship-Effekte zulässt – langfristig überleben nur die Gewinner, unabhängig von Glück oder Können.
In Verbindung mit der Immunisierung gegenüber Kontrollmechanismen begründen diese Faktoren nicht selten eine masslose Selbstüberschätzung der potenziellen Stars, was zu Nachlässigkeiten, Expansionswahn, Bagatellisierung von Problemen, Opportunismus bei sich abzeichnenden Gefahren und Fehlentscheidungen («post-decisional regret») und zu übermässigem Risikoengagement führt.

Hochvolatile Finanzmärkte und Instrumente, die eine Gewinn bringende Ausschöpfung dieser Volatilitäten ermöglichen (beispielsweise Derivate oder äquivalente Handelsstrategien), verbunden mit fragwürdigen, finanzmarkttheoretisch wenig fundierten Performance-Attributionsmodellen und asymmetrischen Partizipationsstrukturen (das heisst eine Erfolgsbeteiligung am Gewinn, aber nicht am Verlust), bieten so ideale Voraussetzungen für die Entstehung von Stars.

Als besonderen Typ der Stars möchte ich den Helden («hero») bezeichnen. Gegenüber dem gewöhnlichen Star unterscheidet er sich durch seine besondere Risikovorliebe, seinen öffentlich nachvollziehbaren Mut, sein Sozialprestige, und in einer Hinsicht hat er es gegenüber dem Star einfacher: Sein Erfolg kann nämlich ausnahmsweise ausbleiben – der Misserfolg macht gelegentlich den Star zum Helden. Da die meisten Helden erst postum ihren Status erlangen, stellen sie zumindest für das Risikomanagement meistens keine besondere Herausforderung dar.

Eine mögliche Schlussfolgerung könnte lauten: Wenn es sich eine Organisation leisten kann, auf Stars zu verzichten, hat sie sich bereits einer wichtigen Aufgabe des Risikomanagements entledigt.

Auszug aus der Festschrift von Prof. Dr. Heinz Zimmermann zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Matthias Haller, Mai 2001.


Zur Person
Prof. Dr. Heinz Zimmermann,
ist Professor für Finanzmarkttheorie an der Universität Basel.

Literatur
Niklas Luhmann:
«Soziologie des Risikos» deGruyter, 1991.
P. David Marshall:
«Celebrity and Power», University of Minnesota, 1997.
Richard Dyer:
«Stars», British Film Institute, bfi Publishing, 1998.
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