Der Optimismus strahlt schon von der Wand. «Gib jedem Tag die Chance, ein guter zu sein», steht in dicken Buchstaben über dem Schreibtisch von Eike Keimer. Die 31-Jährige arbeitet im Qualitätsmanagement der Guetsli-Fabrikantin Kambly. Sie sorgt dafür, dass die Leckereien des traditionsreichen Familienunternehmens einwandfrei daherkommen, indem sie die Rohstoffe kontrolliert und das firmeninterne Sensorikpanel leitet.

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Wer hier arbeitet, müsste etwas wissen über Glück. Immerhin wird im bernischen Trubschachen in dritter Generation Feingebäck hergestellt, das Pausen versüsst, Freude bereitet, Behaglichkeit schafft. Was ist Glück, Eike Keimer? «Wenn ich frei von existenziellen Sorgen bin, geachtet und geliebt werde und Erfolg haben darf, macht mich das glücklich», sagt die Feingebäck-Fachfrau. Für den VR-Präsidenten Oscar A. Kambly heisst Glück: «Ein gutes Gewissen zu haben, zu einem sinnvollen, grösseren Ganzen beitragen und anderen eine Freude bereiten zu können.»

Glück: ein grosses Wort, das unterschiedlich interpretiert wird. Esoteriker, Astrologen, Lebensberater, Psychologen – sie alle leben von der Sehnsucht der Menschen nach dem Glück. Seit einiger Zeit interessieren sich auch die Ökonomen brennend für das Thema. Hintergrund ist die wachsende Kritik am Bruttoinlandprodukt (BIP), jener Grösse, die als Taktmesserin jeder Volkswirtschaft gilt. Ob und wie die Volkswirtschaft eines Landes brummt, ob eine Rezession im Anzug ist, welches Land pro Kopf produktiver ist als ein anderes: Das Monster BIP, das Milliarden aggregiert, gibt Auskunft. Dabei blendet der Index einiges aus. Wie gehen wir mit den Ressourcen um? Wie gerecht ist das BIP in der Bevölkerung verteilt? Wer profitiert vom Wachstum, wer nicht? Und wie – so lautet die Kardinalfrage vieler aktuellen Forschungen – steht es dabei um das Wohlergehen und das Glück des Einzelnen? Dazu sagt das BIP nämlich nichts aus.

Wohlbefinden ausgeklammert. «Das BIP misst die Produktions- und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes. Mehr nicht», sagt zwar Jürg Marti, Direktor des Bundesamtes für Statistik. Und doch wird der Index immer wieder herangezogen, wenn gezeigt werden soll, wie gut es der Bevölkerung eines bestimmten Landes geht. «Das Problem ist, dass das BIP in den letzten Jahrzehnten zu mehr gemacht wurde, als es eigentlich ist», sagt Stefan Bergheim, Gründer des Zentrums für gesellschaftlichen Fortschritt in Frankfurt. Für den Ökonomen ist klar: Das Bruttoinlandprodukt – der Gesamtwert aller Güter, Waren und Dienstleistungen, die in einer Volkswirtschaft innerhalb eines Jahres hergestellt werden – ist ein Leistungsmesser, ein internationales Vergleichsinstrument für ökonomische Potenz. «Aber es darf nicht als Wohlfahrtsmass interpretiert werden, wie das immer wieder gemacht wird», so Bergheim. Otto Normalverbraucher geht es nicht unbedingt besser, wenn das BIP wieder einmal um 0,9 Prozent gestiegen ist. Es sei an der Zeit, so Bergheim, das BIP «von seinem Thron zu holen». Der Volkswirtschaftler hat einen eigenen Index entwickelt, um Wohlergehen, Zufriedenheit und Glück eines Landes aufzuzeigen: den Fortschrittsindex (siehe «Welche Alternativen zum BIP es bereits gibt» unter 'Nebenartikel').

Bergheim ist mit seinen Bemühungen nicht allein. In Frankreich zeigten die Nobelpreisträger Joseph Stiglitz und Amartya Sen zusammen mit dem Ökonomen Jean-Paul Fitoussi auf: Das BIP taugt nicht als Aussage über das Wohlbefinden des Volkes. Das liegt auf der Linie von Präsident Nicolas Sarkozy. Auch der britische Premier David Cameron will die Vorherrschaft des BIP brechen: Ende 2010 verkündete er, man arbeite daran, das subjektive Wohlergehen des Volkes zu messen. Motto: «GDP and beyond», über das Gross Domestic Product, das Bruttoinlandprodukt, hinaus. Im Deutschen Bundestag bildete sich zu Jahresbeginn die Enquête-Kommission «Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität», welche die Rolle von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft untersucht.

Neu ist die Kritik am Bruttoinlandprodukt nicht. Schon immer wurde argumentiert, dass nackte Zahlen allein nichts über das Wohlergehen realer Menschen aussagen könnten. 1974 stellte der amerikanische Wirtschaftsprofessor Richard Easterlin fest, dass die Amerikaner in der Nachkriegszeit trotz langer Boomphase und starkem Einkommenszuwachs nicht glücklicher geworden waren. Was als «Easterlin-Paradox» in die Wirtschaftsgeschichtsbücher einging, wurde zwar immer wieder aufgegriffen. Man nahm auch Notiz davon, dass das Königreich Bhutan 1972 einen Index für das «Bruttonationalglück» einführte – doch die harte Währung für den Wirtschaftspuls der industrialisierten Welt blieb das BIP. Auch wenn es mitunter von Faktoren profitiert, die Fauna und Flora schaden.

Mitten im Chaos um die havarierte Ölplattform im Golf von Mexiko meinte im Frühjahr 2010 ein Analyst von J.P. Morgan, der Unfall werde gute Auswirkungen auf das BIP haben, weil durch die Aufräumarbeiten ein positiver Effekt erzielt werde. Für verseuchte Strände und vergiftete Tiere gibt es im BIP keine Kostenstelle. Unfälle wirken sich in der Regel günstig aufs BIP aus. Die Reparaturkosten tragen zum Aufschwung bei. Umgekehrt kann das BIP eines Landes sinken, während sich die Lebensbedingungen verbessern. Das wird derzeit in einigen Volkswirtschaften Afrikas beobachtet.
 

Mär vom Mehr. Seit den Schlachtrufen von Sarkozy und Cameron ist es salonfähig, das BIP zu hinterfragen, die «alte Mär vom Mehr» («Süddeutsche») auf den Prüfstand zu stellen. Früher, sagt Marco Mira d’Ercole, «war die Diskussion rein akademisch. Heute steht sie auf der politischen Agenda.» Der Senior Economist der OECD glaubt, dass die Finanzmarktkrise Einfluss gehabt und als Weckruf gedient habe. «Weil sie das Vertrauen in Märkte und deren Bewertungen erschüttert hat – darauf haben Regierungen reagiert.» Doch wann auf die schönen Worte Taten folgen, ist nicht absehbar. Auch unter den Experten divergieren die Meinungen. Wie soll man Wohlstand abseits der erhältlichen harten Daten zuerst definieren und dann erheben? Können solche Messungen international überhaupt vergleichbar gemacht werden? Und wie soll ein so ungenauer Begriff wie «Glück» in Skalen gepresst und entsprechend gemessen werden?

In England hat Camerons Weckruf die Statistiker aktiviert. 200 000 Einwohner sollen ab diesem Monat jährlich befragt werden über ihre Wahrnehmung des flüchtigen Gutes. Dazu haben Vertreter der «Happynomics» vier Fragen fürs Volk parat: Wie glücklich waren Sie gestern? Wie besorgt waren Sie gestern? Wie zufrieden sind Sie derzeit mit Ihrem Leben? Wie lohnenswert sind die Dinge, die Sie in Ihrem täglichen Leben verrichten? Die so befragten Bürger können ihre Ansichten auf einer zehnteiligen Skala eintragen. Wobei eine Naturkatastrophe oder der Meisterschaftsgewinn des Lieblingsteams das kollektive Glücksgefühl sofort komplett verändern kann, was zu sehr volatiler Datenqualität führt. «Ausschliesslich von den Resultaten solcher Befragungen auszugehen, ist heikel. Man hat rasch Ungenauigkeiten», sagt Mathias Binswanger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Kommt dazu, dass der Mensch sein Glücksgefühl aus Vergleichen ableitet. Ein armer Brasilianer, der wie alle seine Mitbürger immer in Flip-Flops unterwegs ist, ist wahrscheinlich glücklicher als ein mittelständischer Kalifornier, der in seinem verbeulten Ford von ganz vielen Cadillacs umzingelt ist.

Dass die Menschen ihr Glücksgefühl immer in Beziehung zu den anderen setzen, weiss Juan Humberto Young nur zu gut. Der ehemalige Banker und MBA-Absolvent berät mit seiner Firma Podag in Zürich seit vielen Jahren Firmen auf der Suche nach einer besseren Performance. Er arbeitet dabei mit dem Ansatz der Positiven Psychologie. Sein Fazit: «Voraussetzung und Nährboden für nachhaltige Spitzenleistung sind positive Emotionen, denn Negativität untergräbt konstruktive Energie. Dabei wird das Glück von den Mitarbeitern häufig im Vergleich mit den anderen gesucht. Hat der eine mehr Lohn, fühlt sich der andere sofort unglücklicher. Das lähmt die Firmen mehr, als man meinen würde», so der Unternehmer und HSG-Dozent. Young staunt auch, wie wenig Ahnung die Menschen vom Glück haben. «Die meisten Leute glauben, dass es vom Himmel fällt. Doch das Glück ist eine Eigenschaft, die erlernt werden muss. Es ist harte Arbeit.»

Zurück auf die Weltwirtschaftsbühne: Aus der Schweiz waren bisher eher leise Rufe nach Alternativen zum altehrwürdigen BIP zu hören. Der Eindruck täuscht allerdings. «Für uns ist es wichtig, zusätzliche Indikatoren zu finden. Dabei arbeiten wir an Messgrössen, welche die Bereiche Soziales, Ökonomie und die Ökologie abdecken sollen», bemerkt Jürg Marti. Doch der BfS-Chef hält nichts von nationalen Alleingängen. «Das alles muss letztlich auf internationaler Ebene konkretisiert werden.» In der Schweiz gelangt das BIP seit 70 Jahren zur Anwendung.

Der Nutzen nimmt ab. Glücksforscher weisen schon lange darauf hin, dass das nackte «Mehr» keine Maxime sein kann, um das Glück der Menschen auszudrücken. «Höheres Einkommen bedeutet höhere Lebenszufriedenheit», schreibt zwar die Schweizer Wirtschafts- und Glücks-Eminenz Bruno S. Frey im Buch «Glück, die Sicht der Ökonomie». Um allerdings gleich zu relativieren: «aber nicht endlos und nicht in jeder Situation». Wer monatlich schon 50 000 Franken einstreicht, den macht ein zusätzlicher Hunderter nicht glücklicher. Anders gesagt: «Die Beziehung zwischen Einkommen und Glück ist nicht linear; es besteht ein abnehmender Grenznutzen», so Bruno S. Frey.

Eine grosse Gesetzmässigkeit scheint es beim Glücksempfinden immerhin zu geben. Das zeigen Ergebnisse an der Schnittstelle von Ökonomie und Glücksforschung. Mit dem Alter nehme das allgemeine Glücksgefühl zu, obwohl jenseits der Lebensmitte die Verluste von lieben Menschen zunehmen, sich Gebresten mehren und die Leistungsfähigkeit abnimmt. «Manchmal wird dies als Paradox des Alterns bezeichnet», schreibt die amerikanische Psychologieprofessorin Margie Lachman im dieser Tage erschienenen «World Book of Happiness», das die Erkenntnisse von über hundert Glücksforschern aus aller Welt zusammenfasst. Lachmans These: «Mit dem Alter und der Erfahrung kommt die Weisheit zu wissen, dass es unabhängig von der eigenen Lage möglich ist, zufrieden zu sein.» Der Befund, wird von Wissenschaftlern gestützt. Etwa von Andrew Oswald, Ökonom an der englischen Warwick University, der mit seinem amerikanischen Kollegen David Blanchflower vom Dartmouth College in der Studie «International Happiness» die jüngere Glücks-Literatur systematisch ausgewertet hat. Ihre Schlussfolgerung wurde vom «Economist» in eine Titelzeile gegossen, die jedem, der sich in der Lebensmitte befindet, als verbales Happiness-Viagra dient: «Life begins at 46.»

Tatsächlich, sagt Oswald, hätten Befragungen in über 50 Ländern ergeben, dass das persönliche Glücksgefühl ungefähr zur Lebensmitte auf den Tiefpunkt sinke – und dann wieder stark ansteige. Zwar träten dabei Länderschwankungen auf – Schweizer fühlten sich mit 35 am miserabelsten, Deutsche mit 47 und Ukrainer erst mit 62 – doch der Mechanismus sei immer derselbe. Der Glücksverlauf im Leben gleiche einer U-förmigen Kurve, die nach Erreichen des 20. Lebensjahres absinke und erst vor 50 wieder ansteige (siehe Grafik auf Seite 64). Was macht es aus, dieses späte Glück, das sich trotz grassierendem Jugendkult jenseits der 50 einstellt? Während viele Fachleute davon ausgehen, dass der späte Glücksschub mit dem Ausfliegen der Kinder und dem Erreichen von finanzieller Stabilität zu tun hat, sieht Oswald einen anderen Midlife-Happiness-Treiber: «Ab Mitte 40 verliert man die jugendlichen Ambitionen, die einen in einer Mischung aus Optimismus und unmöglichen Träumen oft unglücklich gemacht haben.» Man schätze sich selber und seine eigenen Möglichkeiten realistischer ein.

Solche Zusammenhänge, sagt Oswald, müssten mittels zusätzlicher Indizes stärker in Politik und Wirtschaft einfliessen: Neue Messinstrumente könnten Regierungen helfen, besser abzuwägen, was für die Menschen wirklich zählt. «Künftig könnte den Leuten saubere Luft wichtiger sein als ein noch schnelleres Auto.»

OECD-Statistiker Marco Mira d’Ercole nimmt das Bild des Personenwagens, um den Nutzen von alternativen Indizes zu illustrieren: «Auf einem Auto-Armaturenbrett braucht es verschiedene Anzeigen wie Geschwindigkeit, Temperatur, Öl- und Wasserstand, um den Wagen auf Kurs zu halten.» Wer wirtschaftliche Leistung ausschliesslich per BIP messe, sei quasi nur mit dem Tachometer unterwegs. Mira d’Ercole konkretisiert am Pariser OECD-Hauptsitz die Vorschläge der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission. Der Senior Economist, der den Bereich Haushaltstatistik und Fortschrittsmessung leitet, arbeitet an einem grossen Daten-Cockpit. Immerhin acht nicht-materielle Dimensionen hat die Kommission zur Messung angeregt, nämlich Gesundheit, Bildung, persönliche Aktivitäten, Erwerbstätigkeit, politische Partizipation und Rechte, soziale Beziehungen, Umweltbedingungen sowie existenzielle und wirtschaftliche Unsicherheiten. Alle diese Bereiche in verschiedenen Ländern so zu erheben, dass Vergleichbarkeit hergestellt werden kann, bedeutet eine Monsterarbeit.

Aus der Schweiz erhält die OECD Sukkurs. Urs Müller, Direktor BAK Basel Economics: «Das BIP zu ersetzen, wäre unsinnig. Aber weil es nicht die ganze wirtschaftliche Realität oder die Wohlfahrt erfassen kann, brauchen wir zusätzliche Indikatoren, welche die Einkommensverteilung, die Gesundheit, die Bildung oder Umweltaspekte abbilden.» BfS-Marti: «Es geht nicht darum, einen Mega-Indikator zu schaffen. Das Ziel besteht darin, dass man sich im internationalen Rahmen auf ein Armaturenbrett einigt, das auf den Pfeilern Wirtschaft, Soziales und Umwelt beruht.» Die Bundesstatistiker arbeiten in verschiedenen internationalen «Follow-up-Gruppen» mit, die sich nach dem ersten grossen Auftritt der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission gebildet hätten.

Bis die Arbeit fruchtet, wird es noch Jahre dauern. Ob schliesslich das Glück der Menschen wirklich in einer oder mehreren Zahlen eingefangen wird, ist ungewiss. Oder, wie Volkswirtschaftsprofessor Mathias Binswanger es ausdrückt: «Alles, was wirklich wichtig ist, ist eben nicht exakt messbar.»