Die Stille. Sie fällt zuerst auf, da ist kein Studentengewusel, kein Krisengeheul. Ruhe liegt über dem Campus wie ein feines Seidentuch, nur unterbrochen von scharfen Kommandos auf den Ruder-Achtern, die über den Charles River gleiten. Die Studenten der Harvard Business School (HBS) sitzen in ihren Kursen, einige sonnen sich, Neuengland-Architektur verbreitet eine Aura beruhigender Gepflegtheit. Relax, scheinen Stille, Sonne und Architektur zu flüstern, alles ist wie immer: gut.

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Eine Idylle in seltsamem Kontrast steht zu dem Brief, den die gut 70  000 HBS-Alumni Ende Februar in ihrem E-Mail-Eingang fanden und der an Klarheit nichts zu wünschen übrig liess. Die Wirtschaft: unsicher. Das Spendenaufkommen: stark rückläufig. Die Jobaussichten für Absolventen: ernüchternd. «Business as usual», so HBS-Chef Jay Light (67) bündig, könne man für die nächsten Jahre vergessen.

Kein halbes Jahr war da vergangen, seit die Managerschmiede ihren 100. Geburtstag mit Champagner, klassischer Musik und Hymnen auf Tradition und Exzellenz begangen hatte. Beinahe bot der Festakt nicht ausreichend Raum, um zu würdigen, was 1908 als «heikles Experiment» begonnen hatte: Die HBS gilt heute als Synonym für Elite, ihre finanzielle Ausstattung als so legendär wie üppig.

Elite. Ihre Fallstudienmethode prägt die gesamte Business-School-Pädagogik, vier von fünf aller weltweit verwendeten Cases werden hier verfasst. Die Alumni-Liste strotzt vor klangvollen Namen, darunter General-Electric-Vorsteher Jeffrey Immelt, die frühere eBay-Chefin Meg Whitman sowie Hank Paulson, Ex-Goldman-CEO und Ex-US-Finanzminister. Zu den Schweizer Absolventen zählen so illustre Namen wie Martin Bisang, Hansjörg Wyss oder Daniel Vasella. Das Einstiegsgrundgehalt der Absolventen, die hier den Master of Business Administration (MBA) machen, liegt im Mittel bei gut 120  000 Dollar. Ein Spitzenwert.

Die Harvard Business School, das ist ihr Selbstverständnis, ist der Olymp der Managerausbildung. Ein Mythos mit breitschultrigem Führungsanspruch, getreu dem Schulmotto: «We educate leaders to make a difference in the world.»

Doch der Mythos ist angekratzt. Mit den Topmanagern, die für die Krise verantwortlich sind, gerieten auch die Institute, die sie ausgebildet haben, unter Generalverdacht. Und die HBS, MBA-Erfinderin und Gralshüterin der reinen Lehre, ist genau ins Fadenkreuz der Kritiker geraten. Denn der «Unterschied», den viele Harvard-MBA-Absolventen in der Welt machten, erwies sich als eher unglücklich: Die Reihen der Alumni sind gespickt mit Skandalmanagern wie Stanley O’Neal, dem ehemaligen obersten Wertevernichter von Merrill Lynch, oder Ex-Enron-Chef Jeffrey Skilling.

Ethik. Plötzlich steht das ganze Denkmodell der Business Schools unter Beschuss: zu mechanisch, zu viel kurzfristige Gewinnmaximierung, zu wenig Ethik und Nachhaltigkeit. Einförmige, nur auf den eigenen Vorteil bedachte Stromlinienmanager produziere der MBA, schimpfen Kritiker. Als «Masters of Business Apocalypse» werden MBAler verspottet. Sogar am heiligen Schulmotto wird gekrittelt: Statt «in the world» sollten die MBAler besser mal einen Unterschied «for the world» machen, merkte Drew Faust süffisant an, die Präsidentin der Harvard University.

Als wäre das noch nicht genug, bröckelt auch das Image als Einfallstor in die ökonomische Topetage. Trotz ihrem Nimbus ist die HBS nicht mehr unbestritten die beste Business School. In den US-Rankings erreicht sie zwar oft Platz eins; in den massgeblichen internationalen Listen – etwa der wichtigsten in der «Financial Times» – rangiert sie dagegen meist auf Platz drei bis fünf. Europäische und asiatische Schulen haben mit ihrer stärker international ausgerichteten Perspektive in den vergangenen Jahren aufgeholt und machen den amerikanischen Schulen ernsthafte Konkurrenz. Und in der Krise passiert das Undenkbare: Die HBS-Absolventen müssen plötzlich um Jobs bangen, denn der Finanzsektor als Top-MBA-Arbeitgeber fällt nahezu aus.

Tradition. Der Ethikdebatte müssen sich alle Business Schools stellen. Doch die HBS trifft sie mit besonderer Wucht. «Mehr als andere lebt Harvard vor allem von ihrem Wert als Marke», sagt Detlev Kran, Verfasser des Standardwerks «MBA-Guide». «Wird das Image beschädigt, leidet das ganze Geschäftsmodell.»

Wer über das 16 Hektar grosse Areal auf ehemaligem Sumpfland flaniert, vorbei an roten, neogeorgianischen Backsteinhäusern mit weissen Fensterrahmen und pittoresken Glockentürmchen, über akkurat gestutzte Rasenflächen und den weiss-schwarzen Marmor der Baker Library, der spürt: Wandel fällt schwer, wenn Tradition so schwer wiegt. Etwa das enge Verhältnis zur Wall Street: Namensgeber und Stifter der Bibliothek ist George F. Baker, Teilhaber der First National Bank, aus der später die Citibank wurde, die sich zuletzt nicht mit Ruhm bekleckert hat.

Tradition kann auch eine Last sein – dennoch zeigt sich Harvard «sehr zögerlich mit Änderungen am Lehrplan», sagt Rich Leimsider, Direktor am Center for Business Education des renommierten Aspen Institute. Seit 1998 bewertet der Think Tank in einem alternativen MBA-Ranking die Integration von Ethik-, Sozial- und Umweltaspekten in den Business Schools. Anfangs nahm die HBS an den Umfragen teil, doch nach 2003 stoppte sie die Kooperation. «Sie wissen, dass sie nicht in der Spitze landen würden, und wollen wohl ihr Image nicht schädigen», sagt Leimsider.

Jetzt ist, bislang diskret versteckt hinter Backsteinmauern und in akademischen Papieren, an der HBS eine Debatte entflammt. Es geht, konkret, um Änderungen am Curriculum, um mehr Ethik, mehr soziale Verantwortung. Es geht aber auch, ganz prinzipiell, um die Frage, ob die Krise nur ein kleines Zwischentief ist, wie Dotcom, oder eine Wasserscheide, jenseits deren die Managerausbildung eine völlig andere sein wird. Kurz: Es geht ums Selbstverständnis.

Wandel. Schon im Herbst 2008 kamen die HBS-Professoren David Garvin und Srikant Datar in einer Analyse zu dem ungewohnt selbstkritischen Schluss, MBA-Programme seien im Niedergang begriffen, weil sie in der Wirtschaft «als nicht mehr relevant» gälten. Ihre Befunde: Zu viel Analyse, zu wenig Praxis und Führungstraining, kein echtes Verständnis von Globalisierung werde vermittelt. Schleichend verlieren US-Schulen mit ihrer nationalen Nabelschau an Attraktivität. «Die Gefahr besteht, dass internationale Institutionen erfolgreich mit der HBS um MBA-Studenten konkurrieren», so Garvin.

Das Problem ist also erkannt, doch der Wandel kommt nur in homöopathischen Dosen. Eine Arbeitsgruppe der Fakultät soll Vorschläge für einen neuen Lehrplan erarbeiten. Mehr Kurse zu Risikomanagement und Soft Skills werde es wohl geben, kündigt der stellvertretende Dekan Carl Kester an, wahrscheinlich auch zum Thema Vergütung und Bonussystem.

Eine Revolution indes ist nicht zu erwarten; auch an den oft geschmähten Fallstudien, quasi dem Gencode der HBS, will diese festhalten. «Wir verbessern beständig, aber behutsam», sagt Kester, «vor allem, indem wir jedes Jahr bis zu 20 Prozent der Cases austauschen.» Die Case Study, in der die Royal Bank of Scotland über den grünen Klee gelobt wurde, flog raus, ähnlich wie vor einigen Jahren die, welche Enron als Vorbild für Strategie feierte – kurz bevor der Konzern der Bilanzfälschung überführt wurde und pleite ging. «Business Schools haben die bemerkenswerte Fähigkeit, ökonomische Katastrophen zu ignorieren, die sich vor ihren Augen entwickeln», meint Philip Delves Broughton, der 2006 einen MBA in Harvard erwarb und darüber ein viel beachtetes Buch geschrieben hat.

Als Antwort auf die Krise gibt es an der HBS jetzt Cases über Bear Stearns oder den Subprime-Zusammenbruch sowie ab Herbst neue Kurse wie «Managing the modern financial corporation». Zudem unterhält die Schule weltweit sechs Forschungszentren, und ein Drittel der Studenten kommt nicht aus den USA. Doch immer noch behandeln drei von vier Cases US-Firmen, und das «aus der Perspektive eines amerikanischen CEO, der in John-Wayne-Manier einsam entscheidet», wie Rolf Cremer sagt, Dekan an der chinesischen Business School CEIBS. «In anderen Kulturen sind Entscheidungsprozesse aber meist komplexer.»

Rendite. Dem aktuell brisantesten Vorwurf, zu Gier und Verbrechertum im Namen der Rendite zu erziehen, begegnet die HBS hingegen mit gusseisernem Selbstbewusstsein. Bei 900 MBA-Absolventen pro Jahr sei es schon statistisch wahrscheinlich, dass sich darunter das eine oder andere schwarze Schaf befinde. Kein Schuldeingeständnis verlautete offiziell aus den ehrwürdigen Mauern; stattdessen Verweise auf die «Social Enterprise»-Initiative, das Center for Entrepreneurship, den Kurs «The Moral Leader» und, immer wieder, auf den Pflichtkurs «Leadership and Corporate Accountability» (LCA). Eingeführt 2004 als leicht verspätete Reaktion auf den Enron-Skandal, sollen sensible Managemententscheidungen aus ökonomischer, rechtlicher und ethischer Sicht analysiert werden.

Tatsächlich illustriert LCA auch die Nachteile der Case-Methode. An diesem Morgen diskutieren die Studenten über eine Biotech-Firma, die ein Medikament gegen multiple Sklerose entwickelt hat. Die Schüler tragen Jeans und Polohemd, manche Shorts und Flip-Flops, es riecht nach Take-away-Kaffee, eine Debatte entwickelt sich. Doch die Fragen sind ernst: Wartet man alle Tests ab (Ethik), oder geht man möglichst schnell auf den Markt (Profit)? Und wenn Todesfälle auftreten, wie soll die Firma agieren?

Wie bei jedem der bis zu 800 Fälle, die MBAler binnen zweier Jahre bearbeiten, gibt es kein Richtig oder Falsch: Managen im Graubereich. Klar ist, wie ein Student sagt, «dass wir den Fall anders diskutieren würden, wenn wir im Entrepreneur-Kurs sässen». Nämlich stärker renditeorientiert. Dumm nur, dass sich die Realität später nicht in ein Kursschema pressen lässt. Und dass die meisten hier in der Hoffnung sitzen, später ein Gehaltsplus zu erzielen – und nicht, um ein besserer Mensch zu werden. «Führung und moralisches Handeln lernt man eben nicht im Klassenraum», sagt der Professor und MBA-Kritiker Henry Mintzberg.

Die Debatte um Skandal und Moral liesse sich notfalls aussitzen. Das viel grössere Problem aber hat auch mit der Finanzkrise zu tun, es ist erst in Umrissen erkennbar und liegt auf dem Schreibtisch von Kristen Fitzpatrick. Es dreht sich um das implizite Versprechen der Business Schools, Zugang zu grosszügig bezahlten Spitzenjobs zu bieten. Letztlich also um die Frage, welche Rendite die hohen Gebühren für einen MBA in Harvard bringen.

Auch in diesem Punkt ist die HBS länger schon nicht mehr Spitzenreiter, Konkurrenten wie Wharton oder Stanford glänzen oft mit höheren Einstiegsgehältern oder stärkeren Post-MBA-Gehaltszuwächsen. Doch Fitzpatrick wäre froh, wenn das ihre einzige Sorge wäre. Als Director Employer Relations hat sie derzeit alle Hände voll zu tun, die Absolventen der Class of 2009 überhaupt unterzubringen. Rund 80 Prozent von ihnen haben ein Angebot, was gut klingt, doch normal wären deutlich über 90 Prozent.

Konkurrenz. «Die Konkurrenz um Stellen ist härter geworden», sagt Patrick Simon (28), ein schlaksiger Typ mit grünblauen Augen und ansteckend guter Laune, der zwei Jahre bei einer internationalen Unternehmensberatung arbeitete, bevor er zur HBS kam. «Statt entspannt aus vier oder fünf Topjobs auszuwählen, müssen sich viele erstmals richtig anstrengen.» Simon wird erst 2010 graduieren, er kann die Lage noch recht gelassen betrachten. Und die stellt sich so dar: 2008 gingen 45 Prozent der Absolventen in den Finanzsektor, 2009 sind die Angebote in diesem Bereich um 50 Prozent eingebrochen. «Nun sind auch der Nonprofitsektor und die klassische Industrie wieder interessant», sagt Fitzpatrick. Dort sind allerdings die Gehälter niedriger, und mit saftigen Sign-on-Boni können nur noch wenige rechnen.

Mehr als 40 Karrierecoachs kümmern sich im Career Service um Auftritt, Netzwerk und Verhandlungsstrategien der Absolventen – 2002 gab es noch keinen einzigen. Fitzpatrick und ihr Team laden rund um den Erdball Personalleiter ein und preisen unermüdlich ihre HBSler an. In ihrem Büro steht ein Flipchart mit einer Liste, wo ihre Leute überall noch hinmüssen. Die Liste ist lang, der Career Service legt sich mächtig ins Zeug.

Die 900 Studenten in Patrick Simons Klasse werden wohl als erste nach neuen Regeln spielen. Weniger Geld und Prestige, mehr Kontrolle und Ethik. «Egal, was kommt», sagt Simon, «hier treffe ich spannende Menschen und lerne extrem viel, das macht einfach Spass.»

Das wäre dann mal eine Form der Rendite, die unter HBS-Absolventen bislang nicht sehr weit oben auf der Wunschliste stand.