Vor ein paar Tagen traf ich Dr. Straumann. Ich traf ihn an der Bar eines Gartenrestaurants.

Es war ein bisschen peinlich, denn ich erkannte ihn zuerst nicht. Peinlich war dies darum, weil Dr. Straumann und ich mehrmals gemeinsam in Verwaltungsräten und Berufsorganisationen gesessen hatten. Manchmal sassen wir nebeneinander. Wir sind per Du.

Ich erkannte ihn nicht, weil Dr. Straumann anders aussah als sonst. Ich hatte ihn jahrelang immer nur in seinem dunklen Anzug mit dunkler Krawatte und weissem Hemd erlebt. Er sah genauso aus wie wir anderen im Raum, die alle einen dunklen Anzug mit dunkler Krawatte und weissem Hemd trugen.

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Diesmal aber trug Dr. Straumann ausgewaschene Jeans, ein farbiges Poloshirt und eine Wildlederjacke. Er sah nicht mehr zum Verwechseln ähnlich aus. Ich erkannte ihn darum nicht.

Warum sehen wir im Geschäftsleben alle gleich aus? Warum tragen wir stets dunkle Anzüge mit dunklen Krawatten? Soziologisch ist das schnell erklärt. Es geht um Kodex, um Konvention und Konformismus.

Trick bei Insekten und Reptilien

Interessanter ist die biologische Erklärung. Man schützt sich selber, wenn man aussieht wie die anderen. Vor allem die schwächeren und erfolglosen Tiere schützen sich, indem sie daherkommen wie die starken und erfolgreichen Viecher.

Mimikry sagt man dem. Besonders verbreitet ist der Trick bei Insekten und Reptilien. Die völlig harmlosen Schwebefliegen etwa ahmen in ihrem Aussehen die aggressiven Wespen nach und bringen sich dadurch vor ihren Fressfeinden in Sicherheit. Der Glasflügler, ein bescheidener Schmetterling, ist an Grösse und Färbung nicht von der gefürchteten Hornisse zu unterscheiden. Ungefährliche Nattern wiederum verkleiden sich als hochgiftige Korallenschlangen – sie heissen darum Trugnattern.

Oft kopieren die Nachahmer nicht nur das Äussere, sondern auch das Verhalten der Vorbilder. Die sanften Fliegen bewegen sich wie angriffige Wespen, als ob auch sie einen Stachel hätten.

Es genügt also doch nicht ganz, so lernen wir, sich in einen dunklen Anzug mit dunkler Krawatte zu stecken, um sofort für einen dyna-mischen Turbomanager gehalten zu werden. Auch im Verhalten sollte man Opportunismus demonstrieren. Man sollte auch im Büro so tun, als ob man einen Stachel hätte, auch wenn es nur ein Stilo oder ein Stabilo Boss ist.

Chamäleon als Meister in der Disziplin

Der Meister in der Disziplin der Anpassung ist bekanntlich das Chamäleon. Die Chamäleons sind eine kleinere Leguan-Art. Sie können ihre Farbe dem Hintergrund anpassen, etwa den Bäumen, auf denen sie leben. Chamäleons schützen sich dadurch, dass sie sich farblich und formal in Äste und Blätter verwandeln. Wenn sie sich als Blätter ausgeben, dann schaukeln sie im Wind rhythmisch hin und her.

Das hat den Vorteil, dass ihre Feinde wie ihre Opfer die Chamäleons nicht erkennen. Die Chamäleons selber aber können sehr gut zwischen einem Chamäleon und einem Blatt im Wind unterscheiden. Das sehen sie sofort.

Damit wären wir zurück bei Dr. Straumann. Als ich ihn an der Bar des Gartenrestaurants traf, kam ich gerade von einem Vortrag. Ich trug einen dunklen Anzug, eine dunkle Krawatte und ein weisses Hemd.

Dr. Straumann erkannte mich sofort.

Kurt W. Zimmermann ist Verlagsunternehmer. Er ist Kolumnist und Buchautor zu den Themen Medien und Outdoor-Sport. Zudem studiert er Biologie.