Rosa Meier, eine Berner Marktfrau, hat gut verkauft. Alle Waren sind weg, nur ein schöner, grosser Kürbis ist übrig geblieben. Da nähern sich eilig zwei Frauen dem Stand und äussern gleichzeitig den Wunsch, diesen Kürbis zu erstehen. Was soll Rosa Meier tun? Die Frucht halbieren? Eine Münze werfen? Das begehrte Objekt verschenken und die Kundinnen sich selbst überlassen? Keiner dieser Vorschläge stösst auf Gegenliebe. Die Marktfrau verwirft die Hände.
Wäre Rosa Meier Mediatorin gewesen, hätte sie die Frage gestellt, warum denn beide Frauen den ganzen Kürbis wünschten. So hätte sie erfahren, dass die eine eine Suppe kochen und die andere eine Halloween-Maske schnitzen möchte. Eine Lösung zu beider Befriedigung wäre mithin auf der Hand gelegen; zwei Gewinnerinnen hätten das Feld geräumt und die kluge Marktfrau in guter Erinnerung behalten.
Mediation ist eine Methode zur aussergerichtlichen Konfliktbewältigung, die auf Win-win-Situationen abzielt und damit lösungsorientiert, zukunftsgerichtet und pragmatisch verfährt. Selbstverständlich lassen sich nicht alle Streitigkeiten so elegant lösen wie jene um den Kürbis. Den Grundgedanken der Mediation, der die Interessen der beteiligten Parteien in den Vordergrund stellt und sie sogar mehr gewichtet als deren Rechte, veranschaulicht dieses Beispiel gleichwohl auf überzeugende Art.
In der Schweiz ist die Mediation bisher vor allem bekannt geworden als Instrument, das im Umfeld von Scheidungen zur Anwendung kommt. Seit rund fünf Jahren fasst diese Methode nun auch innerhalb der Wirtschaft und Verwaltung Fuss, zaghaft zwar, aber dort, wo sie praktiziert wird, meistens zur Zufriedenheit aller Beteiligten. Konflikte lassen sich auf diese Weise schneller und kostengünstiger lösen, als wenn der lange Gang durch die Gerichtsinstanzen beschritten wird. Statt unbeugsam und konfrontativ auf dem anwaltschaftlichen Standpunkt des «Ich habe Recht» zu beharren, streben Mediatorinnen und Mediatoren nach der optimalen Bedürfnisbefriedigung für alle und erreichen damit in der Regel auch deren Befriedung. Beziehungen haben Bestand; Probleme sind tatsächlich gelöst und nicht – wie oftmals nach einem Prozess – grösser als zuvor.
All dies hat Beatrice Gukelberger für die Mediation eingenommen. Die Berner Anwältin, die jahrelang sieben Tage pro Woche im Einsatz war und dazu verschiedene berufs-politische Gremien von der Notariatskammer bis zum Bernischen Anwaltsverband präsidierte, war schon lange auf der Suche nach einer Alternative zu ihrem aufreibenden Job. 1990 nahm sie in den USA erstmals die Mediation zur Kenntnis. Drei Jahre später war sie als Privatperson mit dem Mordfall Zwahlen konfrontiert und machte Erfahrungen mit der bernischen Justiz, die sie zutiefst enttäuschten und in ihrem beruflichen Selbstverständnis erschütterten. Gukelberger hatte in Zusammenarbeit mit der Zürcher Rechtsanwältin, Politikerin und Buchautorin Trix Ebeling Hinweise für die Schuld Zwahlens gefunden, welche die Berner Gerichte jedoch in keiner Art und Weise würdigten.
Dieses Erlebnis, sagt Gukelberger, habe ihr den «letzten Kick» zum Berufswechsel gegeben. In der Folge besuchte sie verschiedene deutsche Universitäten und nutzte deren Ausbildungsangebote zum Thema Mediation. 1998 belegte sie den eineinhalbjährigen berufsbegleitenden Nachdiplomkurs «Mediation in Wirtschaft, Umwelt und Verwaltung», den die Fachhochschule Aargau seinerzeit zum ersten Mal anbot. Inzwischen arbeitet die 59-Jährige nur noch als Rechtsberaterin und Mediatorin. Ihre Anwaltstätigkeit hat sie eingestellt; Auftritte vor Gericht gehören der Vergangenheit an. Der Wechsel von der streitbaren Anwältin zur neutralen Mediatorin habe intensive Übung erfordert. Sie habe ihre «durchtrainierte Parteilichkeit gegen Allparteilichkeit auswechseln» müssen. Gleichzeitig habe sie die anwaltliche Seite ihres Innenlebens, die ständig geurteilt, bewertet und verworfen habe, komplett stilllegen müssen, um sich der ausschliesslich an der Problemlösung orientierten Denkart der Mediation zuwenden zu können. Heute sei dieser Lernprozess vollzogen: «Ich kann jetzt sehr gut mediationsmässig denken», konstatiert Gukelberger, «eine Rückkehr zur Gerichtsjuristerei kommt für mich nicht in Frage.»
Der Zürcher Jurist Francis Jaquenod ist bewusst auf beiden Gebieten tätig. Rund 70 Prozent seines Arbeitsvolumens bestreitet er mit Anwaltsmandaten, die restlichen 30 mit Mediationsaufträgen, aber auch mit Schulung, die er zusammen mit zwei Kollegen seit 1997 anbietet. Dennoch räumt auch Jaquenod ein, dass es unmöglich sei, während eines Tages zwei Stunden lang zu mediieren und anschliessend drei Stunden vor Gericht zu prozessieren: «So schnell kann man die Hüte nicht wechseln.» Der 40-Jährige, der die Mediation Mitte der Neunzigerjahre im Lauf eines Studienaufenthalts in Australien kennen lernte, ist allerdings davon überzeugt, dass ihn seine Zusatzausbildung zum Mediator auch als Anwalt grundlegend verändert hat: «Das Laute, Aggressive, Konfrontative und stets betont Kämpferische ist in den Hintergrund getreten.»
Nicht überall kommt es zu einem solch befruchtenden Austausch. Das Verhältnis zwischen den beiden Berufsgruppen ist nach Aussagen eines Szenenkenners «weit herum ungeklärt und zwiespältig». Viele Anwälte befürchteten, dass ihr Auftragsvolumen mit der Zunahme der Mediation kleiner werden könnte. Sie weigerten sich zuzugeben, dass es zu ihrem Berufsstand überhaupt eine Alternative geben könne. Andere gehen den umgekehrten Weg und lassen sich zusätzlich zu Mediatoren ausbilden. Grosse Kanzleien stellen gar einen Mitarbeiter oder Partner für diesen Bereich frei.
Unter ehemaligen Richtern soll es etliche geben, die sich von der Fehlüberlegung leiten liessen, dass sie immer schon gerecht geurteilt, mithin mediativ gehandelt hätten und damit das beste Rüstzeug zum Mediator mitbrächten. Der Schweizerische Anwaltsverband hat den Ernst der Lage früh erkannt und sich nach Aussagen von Beatrice Gukelberger «sofort auf das Thema Mediation gestürzt». Er hat entsprechende Richtlinien erlassen und seinen Mitgliedern damit das neue Terrain zu ebnen versucht.
Doch viele Schweizer Wirtschaftsführer wissen das neue Konfliktlösungsinstrument noch gar nicht richtig zu würdigen. Während es die einen immer noch mit Meditation verwechseln, siedeln andere die Mediation wegen ihres häufigen Einsatzes in Scheidungsfällen in der Psychoecke an. Nach Einschätzung von Ulrich Egger, einem der hiesigen Mediationspioniere, sind viele Manager nach wie vor «im klassischen Sieger-Verlierer-Denken gefangen» und wollen in Konflikten «um jeden Preis Recht bekommen».
Die Vorstellung, sich im Rahmen einer Mediation in die Gegenpartei und deren Interessen hineindenken zu müssen, sei, so Egger, «solchen Alphatieren» weitgehend fremd. Es tauchten schnell Bilder von Versagen, Schwäche und Kontrollverlust auf. Dabei wäre Mediation ein Weg, um auf dieser Basis zu Verständnis, aber vor allem auch zu kreativen und überraschenden Lösungen für alle Beteiligten zu kommen. Vertraut hingegen sei der Firmenchef oder Kadermann mit Anwälten, die sich seiner Konflikte annähmen und sie stellvertretend für ihn als Gewinner zu Ende führten. Auch Berater leiste man sich heute, ja im Versteckten sogar einen Therapeuten – Hauptsache, man könne das Bild des starken Mannes, der alles im Griff habe, aufrechterhalten und müsse nicht selbst in Aktion treten. Genau darauf zielt nun aber die Mediation ab, welche die Selbstbestimmung der Parteien stärken will. Der Mediator, sagt Egger, sei nicht mehr als ein Begleiter der Verhandlungen, der für den eingeschlagenen Weg, aber nicht für dessen Ergebnisse verantwortlich sei.
Das ist manchen zu wenig. Als Egger die Stadt und den Kanton Zürich zu jenem Zeitpunkt, als der Streit zwischen ihnen über die Bau- und Zonenordnung (BZO) zu eskalieren drohte, über das Instrument der Mediation in Kenntnis setzte, wurde er mit zwei höflichen Absageschreiben bedacht. Der einen Seite mangelte es an einem konkreten Lösungsvorschlag. Die andere glaubte, so etwas nicht nötig zu haben. Der eigene Rechtsstandpunkt sei so gut, man gewinne auf jeden Fall.
Der Wirtschaftsmediation, sagt Egger, fehle es an überzeugenden Beispielen, die zur Nachahmung anregten. Nicht dass es sie nicht gebe, nein, die beteiligten Unternehmen verweigerten aber in aller Regel die Erlaubnis, ihren Fall und seine Lösung mit Nennung des Firmennamens publik zu machen. Diskretion und Vertraulichkeit gehören nun einmal zu den Vorzügen der Mediation, die anders als ein Gerichtsprozess unter Ausschluss des Publikums und vor allem der Medien stattfindet.
Umso glücklicher war Egger, als sich 1996 die Geschäftsleitung der Swissair und die Pilotenvereinigung Aeropers damit einverstanden erklärten, dass er die Geschichte des dank seiner Mediation zu Stande gekommenen Gesamtarbeitsvertrags GAV veröffentlichen durfte. Die Ausgangslage präsentierte sich seinerzeit verheerend. Die Kommunikation zwischen den Parteien hatte den Nullpunkt erreicht. Feindseligkeit und gegenseitige Schuldzuweisungen beherrschten das Klima. Die Swissair kündigte einseitig den GAV; Aeropers drohte Massnahmen an, die den Flugbetrieb massiv beeinträchtigt und Kosten in Millionenhöhe verursacht hätten. Während fünf Tagen verhandelten je vier Angehörige jeder Seite von frühmorgens bis Mitternacht und schafften dank Eggers Unterstützung das Unmögliche: Sie durchbrachen die Kommunikationsblockade und zeigten sich bereit, auch auf die Bedürfnisse der Gegenpartei einzugehen. Aeropers wurde partnerschaftlich in die neuen GAV-Verhandlungen einbezogen. Deren Mitglieder fühlten sich ernst genommen und akzeptierten den überarbeiteten Vertrag mit deutlicher Mehrheit. Dank diesem GAV liessen sich jährlich Millionen von Franken einsparen. Peter Nagl, der Präsident von Aeropers, konstatierte seinerzeit in der «Handelszeitung»: «Diesmal haben beide Seiten das Gefühl, gewonnen zu haben. Dies ist der Schlüsselpunkt, dass der Vertrag langfristig halten wird.»
Mediation, sagen die Experten, ist immer dann von grossem Nutzen, wenn die Parteien ihre Beziehung trotz Streit fortsetzen wollen oder müssen. Unter diesen Umständen kann ein Scherbenhaufen, wie ihn häufig ein Gang vor die Gerichte hinterlässt, zur unerträglichen Belastung werden. Solche Überlegungen haben mit Sicherheit auch im Fall der Swissair eine Rolle gespielt.
Mediationen haben insbesondere auch dann ihre Berechtigung, wenn die Streitmaterie hochkomplex ist und damit die Prozesskosten jeden vernünftigen Rahmen zu sprengen drohen. Genau diese Bedingungen waren erfüllt, als die Mediatorin Gabi Brugger-Mariani 1998 um ihre Vermittlung im Zusammenhang mit dem Ausbau des Heizkraftwerks Aubrugg gebeten wurde – von der Zürcher Stadträtin Kathrin Martelli, dem damaligen Baudirektor Hans Hofmann und einem Vertreter der Zürcher ETH. Der Konflikt barg Zündstoff. Die Zürcher Bevölkerung hatte mit einer 75-Prozent-Mehrheit dem Kredit von 81 Millionen Franken für den Ausbau von Aubrugg zugestimmt. Kurz darauf kündigte Stadträtin Martelli den Vertrag mit dem Kanton zur Abnahme von Wärme aus dem Heizkraftwerk und brachte Hofmann in arge Bedrängnis. Der Baudirektor sprach von «Vertragsbruch», Martelli konterte: «Spiel mit falschen Zahlen.»
Damit war Feuer unter dem Dach. Doch dank der sieben Monate währenden Mediation von Gabi Brugger-Mariani «ist der Streit um die Zukunft der Fernwärme in Zürich Nord einem breiten Konsens mit vielen kreativen Lösungen gewichen» («Tages-Anzeiger» vom 17. Oktober 1998). Der Ausbau von Aubrugg wurde sistiert; die Produktion und die Verteilung von Fernwärme wurden zur Zufriedenheit aller auf ein neues organisatorisches Fundament gestellt. Freude herrschte, und zudem betrugen die Mediationskosten nur ein Zehntel jener Summe, die der juristische Instanzenzug bis vor Bundesgericht verschlungen hätte.
Mediatoren werden je länger, je mehr auch in all jenen Branchen gebraucht, in denen Restrukturierungsmassnahmen zu Spannungen und Verunsicherungen in den Unternehmen führen. Das im Umbruch steckende Gesundheitswesen bildet ein Beispiel. Als die Post daranging, ihr Beamtenrecht in ein Angestelltenrecht umzuwandeln und ein vollständig neuer Gesamtarbeitsvertrag nötig wurde, organisierten die Verantwortlichen einen Workshop, in dem Strategien zum erfolgreichen Verhandeln erprobt werden konnten. Sie wählten mithin eine Vorstufe der Mediation.
Angesprochen auf aktuelle Beispiele, in denen eine Mediation gemäss seiner Einschätzung sinnvoll sein könnte, nennt Ulrich Egger den Streit um den Gesamtarbeitsvertrag bei der Crossair, die ungelöste Situation rings um Bauvorhaben bei der Expo.02 sowie den schwelenden Konflikt um den Fluglärm in Zürich.
Anders als die Justiz basiert die Mediation auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Die beteiligten Parteien wählen gemeinsam einen ihnen genehmen Vermittler oder eine Vermittlerin. Frei von Zwang, steht es ihnen damit auch offen, das Mediationsverfahren jederzeit abzubrechen. Kritiker der Methode führen diese Unsicherheit beziehungsweise Unverbindlichkeit gern als Gegenargument ins Feld. Erfahrene Mediatoren winken ab; höchst selten komme es tatsächlich zu einem vorzeitigen Abbruch. Wer einmal Ja sage, tue dies mit der festen Absicht, eine Lösung seiner Probleme herbeizuführen.
Es gebe allerdings Personen, die tatsächlich nicht geeignet für das Mediationsprozedere seien. Dazu gehörten jene, denen es bei einem Konflikt in erster Linie um das Ausleben von Rachegelüsten und/oder um das Rechthaben um jeden Preis gehe. Beatrice Gukelberger erinnert sich an einen Gerichtsfall, bei dem «ein Kampf bis aufs Blut um 50 000 Franken geführt wurde». Auf die Frage, was der Kläger denn mit diesem Geld vorhabe, schwieg dieser. «Das Geld an sich war ihm völlig egal», erinnert sie sich, «Hauptsache, er setzte sich durch.»
Die Mediation hat bereits eine lange Geschichte, die ihren Anfang im angelsächsischen Raum nahm. In den USA zählt sie seit mehr als 20 Jahren zu den etablierten Vermittlungsverfahren. Die Zeit raubenden Prozesse und die damit verbundenen horrenden Kosten zwingen dort immer mehr Menschen, diesen aussergerichtlichen Weg einzuschlagen. Zahlreiche Bundesstaaten haben die Mediation denn auch als obligatorisch erklärt. Erst nach deren Scheitern können die Gerichte überhaupt angerufen werden. Schon zu Beginn der Neunzigerjahre erklärte jedes fünfte US-amerikanische Unternehmen, dass bei ihm Mediation intensiv genutzt werde und dass die Zahl der Klagen vor Gericht drastisch reduziert werden konnte.
In der Schweiz ist die Mediationsszene momentan dabei, sich zu formieren. Im Mai dieses Jahres wurde der Schweizerische Dachverband für Mediation gegründet. Er sieht seine Hauptaufgabe darin, Öffentlichkeitsarbeit zu leisten und Ausbildungsstandards für einen Beruf zu setzen, der noch nicht geschützt ist. Die Spreu soll vom Weizen getrennt werden. Dieses Ziel verfolgt auch die Zürcher Mediartis, die Gesellschaft für Mediation und Konfliktmanagement in Wirtschaft und Politik, die bereits seit 1997 als Drehscheibe zwischen den bei ihr assoziierten Mediatoren und ihren Kunden dient.
Einer dieser Kunden ist sogar bereit,öffentlich über seine Erfahrungen mit dem alternativen Konfliktlösungsinstrument zu reden. Die Winterthur-Versicherungen, die seit Ende der Neunzigerjahre einen Mediations-Pilotversuch betreiben, zeigen sich angetan: «Mediation ist bei der ÐWinterthurð eine echte Alternative zum Prozess. Es ist ein geeignetes Mittel, um Feindbilder zu überbrücken. Der Anteil der Fälle, die künftig über den Mediationsweg gelöst werden können, wird sicher zunehmen.»
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