Mit der Südwestwand der Schijenfluh verbindet mich eine problematische Liebesbeziehung. Sie steht als ein zu Stein gewordenes Unmöglich hoch über Partnun im Prättigau. Erstmals erblickte ich sie während der Hormonstürme meiner Pubertät, ihre glatten, abweisenden Überhänge schienen mir so aussichtslos wie die Möglichkeit, mit Marilyn Monroe ins Bett zu gehen. Einige Jahre später machte ich einen zögerlichen Versuch, die Unnahbare zu erklettern, nach zwei Seillängen war Schluss. Ich schob eine Verbrennung am Unterschenkel als Folge eines Motorradunfalls vor, in Wirklichkeit aber beherrschten mich Versagensängste. Später kehrte ich an einem heissen Sommertag um, verdursten wollte ich an meiner Angebeteten nicht. Die Krächzerei von Bob Dylan, «there’s no success like failure», tröstete mich.

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Im reiferen Mannesalter fühlte ich mich stark genug für die Umworbene, aber ich fand den richtigen Ort nicht mehr, wir kletterten in hoffnungslos vergrastem und brüchigem senkrechtem Schotter. Das nächste Mal hatten wir die passenden technischen Geräte im Auto vergessen, sogenannte Friends, die zur Sicherung in die Felsspalten geklemmt werden. Bei zwei weiteren Terminen betrachtete ich von weit her begehrlich die Wand, die Risse waren allerdings wegen des Schmelzwassers zu nass.

So warte ich noch immer auf diesen Höhepunkt und frage mich, wann ich für eine anständige Performance wohl zu alt sein werde. Tröstlich erscheint mir, dass jene Erfolge, die leicht von der Hand gehen, weniger wertvoll sind als die erlittenen – eine Erfahrung, die jeder Marathonläufer und jeder Liebende macht. Dreimal musste ich mich um eine Chefarztstelle bewerben und schied als hochgepriesener, sehr geschätzter Kandidat aus. Im vierten Anlauf erreichte ich einen Lebenshöhepunkt, besser hätte es nicht mehr werden können.

Das Höhenbergsteigen, das Spiel mit dem Leiden, steht besonders exemplarisch für so frustrierendes, erfüllendes Scheitern. Raymond Lambert, der Genfer Ausnahmebergsteiger, schaffte vor 60 Jahren fast die Sensation, den Mount Everest noch vor den Briten zu besteigen. Eine falsche Beratung Lamberts bezüglich der Sauerstoffgeräte durch Zürcher Wissenschaftler verhinderte schliesslich das Fiasko für Britannien. Das Vereinigte Königreich wäre sonst nach Nord- und Südpol auch am dritten Pol zweiter Sieger gewesen. Trotzdem wurde Lambert ein Held, wenn auch ein unbekannter. Über zwanzig Versuche machte Reinhold Messner, um schliesslich die Gipfel aller vierzehn Achttausender zu bezwingen. Gerlinde Kaltenbrunner schaffte ihren letzten, den K2, erst im fünften Anlauf. Und bei den Versuchen, die Achttausender im Winter zu besteigen, «der ultimativen Kunst des Leidens», sieht die Bilanz noch viel düsterer aus.

Da sind die Anläufe der Bundesratskandidatinnen oder der Bewerber für die amerikanische Präsidentschaft geradezu Spaziergänge, umso mehr, als Sinkflüge in diesem Metier sowieso als beneidenswerter Erfolg zu verbuchen wären.

Solchem Trost zum Trotz bin ich noch immer nicht durch die Schluchten und Risse der Schijenfluh-Wand gestiegen, und letztlich weiss auch der Barde aller Barden: «Failure’s no success at all.» Darum werde ich diesen Sommer wieder zur Angebeteten pilgern, vielleicht ist sie diesmal willig.

Prof. Dr. med. Oswald Oelz war bis Ende Juli 2006 Chefarzt für Innere Medizin am Triemli-Spital Zürich. Der Bergsteiger und Buchautor liess sich mit 63 Jahren pensionieren.