Die Querdenker der Wirtschaft glauben nicht etwa an Verschwörungstheorien – eher schon arbeiten sie für einen Hedgefonds, wo man sie für abgefahrene Ideen fürstlich entlöhnt. Die Skeptiker der Finanzwelt durchforsten glänzende Konzernpapiere nach Schwachpunkten, um dann als Shortseller den schnellen Dollar zu suchen. Und die Sektierer blühen auf, wenn sich die Herde wieder mal verrannt hat und eine grosse Blase platzt: Sie leisten sich dann einen neuen Maserati.

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Denn die Weisheit der Massen hat manche Grenze: Das weiss man im Wirtschaftsleben nur zu gut. Alle können gemeinsam kreuzfalsch liegen – Regierungen, Manager, Behörden, Wissenschaftler, die Medien sowieso. Es kann passieren, dass sich Tausende Finanzprofis jahrelang unterklassige Hypothekenbündel als sichere Werte aufschwatzen lassen, womit sie die Weltwirtschaft an den Rand der Katastrophe fahren. Und es ist ganz normal, dass erfahrene Manager, unterstützt von bestens geschulten Consultants, ein wunderbares Unternehmen ruinieren.

«Modelle gelten plötzlich als eine Art Vorstufe der Wahrheit. Und Thesen wirken wie Dogmen.»

Die Wirtschaft ist nämlich ein höchst komplexes und dynamisches, ein interdependentes und undurchschaubares Gebilde. Wer hier etwas Erfahrung plus etwas Demut mitbringt, der ahnt seine eigene Ignoranz und weiss um die Mängel seiner Modelle. In der Wirtschaft akzeptiert man denn auch weitgehend, dass Prognosen selten zutreffen. Eine Mehrheit der Ökonomen, Institute und Analystinnen erkennt eine Rezession nicht einmal, wenn sie an die Tür klopft: Das belegen inzwischen mehrere Studien (mehr hier, hier, hierhier).

Was wirklich geschieht, begreift man oft erst im Nachhinein. Als die Schweiz Mitte der 1990er Jahre in eine Krise des Wachstums und des Selbstvertrauens geriet, schien die Sache für fast alle Experten klar: Die Misere fusste im Nein zum EWR; und sie bewies die Erstarrung eines allzu satten Landes. Manager und Professoren verbündeten sich zu Weissbüchern und Aufrufen, um die Gesellschaft via Reformen zu beleben. Aber erst nach der Jahrtausendwende setzte sich die Einsicht durch, dass das entscheidende ökonomische Problem woanders gelegen hatte: Der fatale «Trigger» war der Immobiliencrash nach 1990.

«Wissenschaftlicher Konsens»

Expertise ist immer relativ. Im Wissen darum laufen in der Covid-19-Krise lebhafte Wirtschaftsdebatten zu Verschuldung, Inflation, Grundeinkommen, dem Nutzen und Schaden von Lockdowns oder zur optimalen Impfstrategie.

Das wirkt erfrischend im Vergleich zu dem, was in anderen Fächern und Bereichen läuft. Dort gelten Modelle jetzt offenbar als eine Art Vorstufe der Wahrheit. Thesen wirken wie Dogmen. Mehrheitsstandpunkte werden uns als «wissenschaftlicher Konsens» verkauft.

Gewiss, schuld an diesem Eindruck ist auch der Filter der Medien, welche die Spanne der akademischen Covid-19-Debatte allzu eng abbilden. Und ein Grund liegt auch in der Politik, die klare Ansagen möchte. Eine Folge: Wer jetzt die vermeintlich alternativlose Lockdown-Strategie hinterfragt, gilt als Skeptiker, als Querdenker – und plötzlich ist das nicht mehr als Kompliment gemeint.

Doch gerade die Erfahrung der Wirtschaft zeigt, wie riskant «Group Think» ist. Und sie lehrt, dass Fortschritt immer auch von Ketzerei lebt.

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