Regenwolken hängen über der Eingangspforte zum Silicon Valley. San Francisco im Norden von Kalifornien zeigt sich nass und unfreundlich. Ken nimmt es gelassen, nippt an seinem Bier und ist zufrieden mit sich und der Welt. «Es wird schon besser werden», sagt der 26-jährige arbeitslose Informatiker und meint damit nicht nur das schlechte Wetter. Vor einem Jahr herrschte dank dem Internet noch ausgelassene Fetenstimmung im Valley. Für eine Start-up-Party wurde locker mal eine halbe Million Dollar hingeblättert, Stars wie Arnold Schwarzenegger oder Meg Ryan waren gern gesehene Gäste an den Dotcom-Launches.

Scharenweise strömten junge «Webbies» ins Silicon Valley, was den Wohnungsmarkt in San Franciscos Bay Area innert kurzer Zeit austrocknete. Der Quadratfusspreis schoss auf 90 Dollar hoch. Für eine karge Einzimmerwohnung mussten schnell mal bis zu 1500 Dollar Monatsmiete hingeblättert werden. Bürgeraktivisten und Politiker verlangten höhere Steuern und Mieten für die «Techies». Unbekannte führten ihren privaten Kleinkrieg gegen die «Dotcommies» sogar im Internet. Mit Websites wie www.BlowTheDotOutYourAss.com oder www.ButIDon’tNeedMyToothpasteDelivered.com haben sie auf den Überdruss der Bevölkerung aufmerksam gemacht.

Es wimmelte von Jungunternehmern, die mit grossartigen Geschäftsmodellen wie einem Onlineshop für Zahncrème oder Hundefutter die Welt verändern wollten. Von der Hausfrau bis zum Gärtner durften alle am Funky Business teilhaben. Geschäfte wurden nicht mehr in Anzug und Krawatte abgewickelt, sondern in Latexhose und T-Shirt. Silicon Valley wollte zeigen, dass es auch anders geht.

Eine Zeit lang hat es auch funktioniert. Die Wirtschaft des Sonnenstaates an der Westküste der USA wuchs während beinahe eines Jahrzehnts kontinuierlich, die Arbeitslosenrate sank auf den tiefsten Wert seit 25 Jahren, und die Zahl neu geschaffener Stellen war so hoch wie nirgendwo sonst in den Vereinigten Staaten. Im März 2000 durchbrach der Nasdaq die magische Grenze von 5000 Punkten. Kalifornien boomte. Wahrlich, vor Jahresfrist gab es hier keinen Platz für Defätisten.

Heute liegt der Nasdaq auf 1785 Punkten. Mehr als drei Billionen Dollar Papiervermögen landeten innerhalb der letzten 52 Wochen im Reisswolf. 332 Dotcoms zogen in diesem Zeitraum ihren Laden von der Steckdose. Waren es vor einem Jahr noch 131 Firmen, die im ersten Quartal 2000 den Schritt an die Börsen wagten, sind es im ersten Quartal 2001 nur noch deren 9.

Die Katerstimmung nahm schneller überhand, als manchem lieb war. George Shaheen zum Beispiel, CEO des Internetkrämers Webvan, hätte sich in seinen schrecklichsten Albträumen wohl kaum vorstellen können, wie dramatisch der Wert seiner Firma in den Keller rasseln würde, als er seine lukrative Stellung als Partner bei der Beraterfirma Arthur Andersen im Herbst 1999 verliess und sein Jahresgehalt von über einer halben Million Dollar gegen Optionen auf Webvan-Aktien eintauschte. Beim IPO im Dezember 1999 löste der Titel des Webladens 35 Dollar. Heute wird die Aktie noch für 13 Cent gehandelt. Fachleute sehen in diesem Unternehmen, das derzeit noch 950 Mitarbeiter zählt, die nächste der Dotcom-Pleiten, die im «San Francisco Chronicle» in ganzseitigen Inseraten ihr letztes Hab und Gut liquidieren müssen, wie dies Pets.com bereits im März vorgemacht hat.

Im Silicon Valley hat aber nicht nur ein Massensterben unter den Dotcom-Leichtgewichten eingesetzt. Selbst die solidesten Vertreter der New Economy sind nicht mehr immun: Überraschend warf Yahoo-Chef Timothy Koogle Anfang März das Handtuch und reichte als Abschiedsgeschenk gleich eine Gewinnwarnung nach. Keiner will mehr auf Portalen Werbung schalten – für ein Portal, dessen Einkünfte zu 90 Prozent von Werbebannern abhängen, eine fatale Entwicklung: Der Aktienkurs sackte auf 15 Dollar ab.

Das Vertrauen der Finanzmärkte in Internetfirmen sei sehr gering, sagt McKinsey-Mitarbeiter Marcel Braun. Die Marktkorrektur entwickelt sich deshalb zu einer Überkorrektur. Selbst solide Geschäftsideen haben kaum noch Chancen, an Kapital zu kommen. Innerhalb von wenigen Wochen würden Firmen geschlossen und ganze Belegschaften auf die Strasse gestellt, beschreibt der Unternehmensberater, der ein Jahr lang Dotcom-Start-ups im Silicon Valley betreute, die dortige wirtschaftliche Lage.

Längst konzentriert sich die desolate Stimmung nicht nur auf Dotcoms: Vorbei sind die Zeiten, als Cisco-Chef John Chambers seine Belegschaft zum US-Open-Golfturnier lud und der CEO von Sun Microsystems, Scott McNealy, als Batman verkleidet und an Seilen aufgehängt, durch die Lüfte flog, um in einer Sportarena vor Tausenden von Mitarbeitern Rekordzahlen zu verkünden. Mittlerweile entlässt Chambers einen Fünftel seiner Angestellten, und die Einzigen, die derzeit bei Sun noch Aussicht aufs Fliegen haben, sind die Mitarbeiter.

Der geplatzte Traum von Wachstum und Reichtum ohne Ende hat einen massiven Abwärtstrend eingeleitet, der alles in die Tiefe reisst: Erstmals in ihrer Geschichte müssen selbst standhafte Technologiekonzerne wie Hewlett-Packard, Intel, Cisco oder Oracle einen Wertverlust in der Höhe von mehreren Hundert Milliarden Dollar an der Börse hinnehmen – ein x-faches des Kapitals, das im vergangenen Jahr in Neuemissionen von Internetfirmen gesteckt wurde.

Dotcoms waren bisher beliebte Abnehmer von Computern, Software und Netzwerksystemen und fallen infolge der Massenpleite als Kunden weg. Schlimmer noch: Die aus Konkursmassen gelösten Geräte finden durch gewitzte Geschäftemacher oft noch in der Originalverpackung den Weg in den boomenden Secondhandmarkt, was das Auftragsvolumen der Hardwarefirmen noch weiter nach unten treibt.

«Keiner will mehr etwas mit Dotcoms zu tun haben», bringt es Tim Craycroft, CEO von I-Drive, auf den Punkt. I-Drive, eine Firma, die Speichersoftware herstellt, gibt sich denn auch alle Mühe, ihr Dotcom-Image loszuwerden: Vor kurzem hatte die Firma ihren eigenen Gründer und Firmenchef Jeffrey Bonforte abgesetzt. Bonforte konnte mit seinen quirligen Ideen und seinem vollmundigen Auftreten keine Investoren mehr begeistern, was ihm übrigens vor zwei Jahren noch problemlos gelungen war.

Heute ist eben alles ein bisschen anders: Eine Firma muss in erster Linie beweisen, dass sie nachhaltig wirtschaften und ihre Rechnungen bezahlen kann. Businessmodelle, die zwar keine Gewinne, dafür ungeahntes Wachstum prophezeien, gehören der Vergangenheit an. «Sie können nicht auf einer Website Zehndollarscheine für fünf Dollar anpreisen und für diese Geschäftsidee noch eine Finanzierung erwarten», beschreibt Risikokapitalgeber Danny Rimer die goldenen Neunzigerjahre im Silicon Valley. Im «Bucks» hatten Wagniskapitalgeber in dieser Zeit schnell einmal Checks in Millionenhöhe für lustige Geschäftsideen auf den Tisch gelegt. Das «Bucks», eine unscheinbare Imbissbude, liegt in Woodside, eine Autostunde südlich von San Francisco unweit von Menlo Park und Sand Hill Road. Die Kneipe hat sich mittlerweile regelrecht zu einer Tourismusattraktion und einer Kultstätte des Internetkapitalismus gewandelt.

Die Euphorie verstieg sich derart, dass Rekordsummen in Dotcoms flossen. Wagniskapitalgeber waren gar nicht in der Lage, Gelder so schnell zu investieren, wie ihnen neue Mittel zuflossen, um Internetfirmen an die Börse zu jagen. Praktisch jede Geschäftsidee kam so zu Kapital. Über 102 Milliarden Dollar haben Investoren innerhalb von zwei Jahren in 882 IPOs an der Nasdaq gepumpt. Investmentbanken und Risikokapitalgeber verdienten dabei kräftig mit. Ein Klima des Aufbruchs in eine neue Wirtschaft – in der Wertschöpfungsketten scheinbar anderen Gesetzmässigkeiten unterliegen – bewogen immer mehr Leute, im Internet eine Marktlücke zu suchen. Viele Profiteure der ganzen Internethysterie können nur mit Mühe den Absturz der Technologiebörse überhaupt fassen. Sie bemühen sich, mit schönfärberischen Phrasen die saftigen Gewinne der letzten Jahre zurückzuzaubern und die Anleger zu weiteren Investitionen zu überreden. So sieht Ted Tobiason, Chef der Emissionsabteilung der Investment Bank Robertson Stephens, nach wie vor Potenzial für Investitionen: Der B2C-Bereich (Business to Consumer) sei allerdings zurzeit kein Thema. Alle warten auf die Breitbandtechnologie. Biotechnologie und Medizinaltechnik würden sehr bald den nächsten Boom bringen. Die Finanzmärkte hätten aber jetzt die Spreu vom Weizen getrennt, glaubt Tobiason. Deshalb wiesen momentane Börsengänge auch im Technologiebereich hohes Gewinnpotenzial auf. Denn: «Wer sich in einem solchen Bärenmarkt an die Börse wagt, muss ganz einfach Substanz haben.»

Diese Einschätzung des Investmentbankers teilen indes nicht alle. Die gegenwärtige Aussicht auf eine Rezession in den USA hält viele davon ab, in Produkte von Softwarefirmen oder Internettechnologien zu investieren. Da kaum mehr einer einfach so mehrere Millionen Dollar in dubiose Start-ups oder Risikofonds steckt, leiden vor allem die Wagniskapitalgeber unter dem Zusammenbruch des Internetbooms. Die Lage sei dramatisch, mindestens die Hälfte aller Risikokapitalgeber in den USA verschwänden noch in diesem Jahr vom Markt, schätzt Peter C. Wendell, General Partner bei Sierra Venture und Verwalter von Fonds in der Höhe von drei Milliarden Dollar.

Risikokapitalgeber werden nicht die Einzigen sein, denen der Markt zusetzt, denn Dotcoms gehen nicht gerade zimperlich mit ihren Angestellten um, wie CEO David Powell von David Powell Inc., einer renommierten Headhunter-Firma inmitten des Silicon Valley, erklärt. Entlassungen innert Stunden seien an der Tagesordnung.

Die Situation der Dotcom-Arbeitnehmer war zeitweise so schlecht, dass sich die Gewerkschaft CWA (Communications Workers of America) einschaltete, um die Angestellten zu organisieren. Der Versuch bei Etown.com – einer Plattform, die Preise von Produkten vergleicht –, die Belegschaft zu organisieren, schlug allerdings fehl. «Die meisten Arbeitnehmer waren sich ihrer misslichen Lage gar nicht bewusst. Geblendet vom Glauben an hohe Gewinne und lukrative Gehälter, sahen viele davon ab, einer Gewerkschaft beizutreten. Doch die Leute landen schneller auf der Strasse, als sie glauben», sagt CWA-Gewerkschafter Bill Wyland. Dies kann auch Sue Bernt bestätigen, die für ein Start-up als Progammiererin arbeitete. Gerade mal zehn Monate war sie angestellt, als ihr per E-Mail mitgeteilt wurde, sie habe ihr Büro noch am selben Tag zu räumen.

Leute wie Sue besuchen dann so genannte Pink-Slip-Partys – benannt nach den rosaroten Kündigungsschreiben –, um eine neue Arbeitsstelle zu finden. Arbeitssuchende treffen dort Leute, die Jobs anbieten, bei Salzgebäck und Bier und entspannter Atmosphäre. Die Pink-Slip-Partys sind vor allem für die Rekrutierung neuer Mitarbeiter in der IT-Branche gedacht. Die Idee entstand aus dem plötzlichen Überangebot an sonst so raren Softwaretechnikern beziehungsweise Netzwerkspezialisten, welche die Pleiten der amerikanischen Dotcoms im letzten Halbjahr freisetzten. Die ersten drei dieser Partys in San Francisco, die jeden Monat an einem anderen Ort in der Stadt abgingen, waren so erfolgreich, dass die Veranstalter sie nun wöchentlich planen. Das Interesse ist enorm: Schon um fünf Uhr nachmittags stehen Jobsuchende vor der Sound Factory an der Ecke 525 Harrison und 1st Street Schlange, während drinnen Techno- und House-Musik aufgelegt wird.

Kaum sind die Tore offen, drängeln sich die Ersten an den Bodyguards vorbei in den abgedunkelten Raum zur Empfangsdame hinter dem Tresen. Diese teilt die Gäste in Jobsuchende, Jobanbieter und Gäste ein und verteilt entsprechende Sticker – grüne für Suchende, rote für Anbieter und den Stern für Gäste. Kathrin hat sich gerade eine Cola bestellt. Die Sticker an ihrer Jacke verraten, dass sie sowohl einen Job sucht als auch einen zu vergeben hat. «Jobs gibt es genug», sagt sie, «nur die passenden Leute nicht.» Der Arbeitsmarkt befinde sich in einer Übergangsphase. Noch sei nicht alles am Boden, erklärt die 24-jährige Internetmarketing-Spezialistin, die gerne beim Fernsehen arbeiten würde. Zurzeit herrsche ein Überangebot an Webdesignern, Werbe- und Marketingfachleuten. Programmierer und Neztwerktechniker seien nach wie vor schwer zu finden. Noch vor einem halben Jahr hätten viele Leute das Gefühl gehabt, sie müssten nur die Strasse wechseln – und schon hätten sie einen neuen Job. «Das hat sich definitiv geändert, doch dramatisch ist die Situation auch wieder nicht, you know.»
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