Die Fotomontage ist schlecht gemacht, ja gar amateurhaft: Da steht der neu gewählte US-Präsident vor dem Hauptsitz der Lega bei Lugano Seite an Seite mit Attilio Bignasca, dem mit Photoshop ebenfalls eine Donald-Trump-Frisur übergestülpt wurde.

Der «Mattino della Domenica» hat an diesem 13. November, am Sonntag nach Trumps Wahl, allen Grund zum Jubeln: «Die Populisten haben wieder gewonnen!», titelt die Gratiszeitung der Lega auf der Front. Doch der wichtigste Satz steht am Schluss des kurzen, mit zahlreichen Ausrufezeichen versehenen Artikels: «Unser Kanton hat Schule gemacht!»

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Das Tessin als Vorbild für Trump? Ja, irgendwie schon. Hier im Lega-Land 
wird mit harten politischen Bandagen 
gekämpft, hier werden Ängste geschürt, Eliten gegeisselt. Nüchterne Zahlen und harte Fakten werden schon seit langem ignoriert – lange bevor der Begriff «postfaktisch» Einzug in die Alltagssprache gefunden hat.

Das Lachen ist vergangen

Die Lega sei eine Bewegung, der Legismus ein soziales Phänomen, das nach und nach in alle Tessiner Parteien eingedrungen sei, sagt FDP-Fraktionschef Ignazio Cassis. So lautet heute der Tenor von links bis rechts: «Das Tessin kommt immer 
zu kurz.» Und: «Wir sind in einer ganz schlimmen Situation.» Dies, obwohl das Tessin beim Wachstum durchaus mit der übrigen Schweiz mithalten kann.

Ins populistische Schema passt, dass an 
dieser auf allen Kanälen beschworenen «misslichen Lage» immer die anderen schuld sind: die Ausländer, die Grenzgänger und – ohne Zweifel – Rom. Aber auch Bern. Und natürlich Brüssel. Und «die Wirtschaft», wie Luca Albertoni ergänzt, der seit neun Jahren die Tessiner Handelskammer führt und es gewohnt ist, «Sündenbock» für alles Mögliche zu sein.

Früher wurde Albertoni, der auch den Verein der Schweizer Industrie- und Handelskammern präsidiert, von seinen Kollegen aus der Deutschschweiz und der 
Romandie immer mal wieder belächelt, wenn ein Tessiner Fait divers national für Schlagzeilen sorgte. «Doch jetzt lachen sie nicht mehr», sagt Albertoni. Denn nach und nach hätten sie 
realisiert, dass das, was im Tessin geschehe, mit Verspätung auch 
auf die nationale Agenda durchschlage: vom Inländervorrang zum Strafregisterauszug für Grenzgänger, vom Mindestlohn zum Einbruch auf dem Bankenplatz, von der Elitefeindlichkeit zum Problem des grassierenden Einkaufstourismus, den man im Süden seit den Lira-Schnäppchenfahrten in den 1960er Jahren kennt, vom Burkaverbot bis zum Aufstieg einer rechten Bewegung zur wichtigsten politischen Kraft, die alle anderen Parteien vor sich hertreibt.

Gegenseitiges Desinteresse

Das Tessin ist ein guter Seismograf für künftige Entwicklungen, ein Labor, wo Veränderungen früher sichtbar werden, und damit ein verlässliches Frühwarnsystem – wenn denn die übrige Schweiz sich die Mühe machen würde, die Entwicklungen südlich des Gotthards genauer zu beobachten.

Doch der Trend geht in die andere Richtung: Das Tessin und die Restschweiz driften immer weiter auseinander, wie die für 2019 designierte Nationalratspräsidentin Marina Carobbio festhält. Das gegenseitige Desinteresse ist gross, was sich auch bei der medialen Berichterstattung zeigt. Der «Corriere del Ticino» ist die letzte Zeitung, die sich eine Redaktorin in Bern leistet, das italienischsprachige Fernsehen RSI ist zwar noch breiter aufgestellt, konzentriert sich aber stark auf den Raum zwischen Airolo und Chiasso.

Aussenquartier von Mailand

Umgekehrt hat die «NZZ» soeben ihre Korrespondentenstelle im Südkanton gestrichen. Auch Wirtschaft und Politik schauen weg. Marina Carobbio erinnert sich gut, wie sie 2007 als frisch gewählte Nationalrätin versucht hatte, in Bern ihre Parteikollegen und auch die politischen Gegner für die Probleme zu sensibilisieren, die auf die Schweiz zukommen könnten. Doch interessiert habe das niemanden. «Ach, das Tessin», hiess es. Und damit war das Thema erledigt.

Eine Erklärung für die seismografischen Qualitäten des Tessins ist seine geografisch exponierte Lage. Kein anderer Kanton ist Teil einer europäischen Grossmetropole. Andere Grenzregionen wie Basel oder Genf stellen selbst das Zentrum, das Tessin hingegen ist Peripherie. Der Financier Tito Tettamanti, der in seiner von Franco Ponti erbauten Villa ob Lugano alle zwei Wochen für den «Corriere del Ticino» eine Kolumne schreibt, bezeichnet das Tessin mit seinen rund 350 000 Einwohnern gar als «Gartenquartier von Mailand».

Der norditalienische Ballungsraum, die Lombardei mit ihren 
zehn Millionen Einwohnern, gibt den Takt vor. Das ist eine grosse Chance, wenn der Wirtschaftsmotor Italiens brummt. Doch seit 2008 steckt das Land in einer tiefen Krise, aus der es nicht herausfindet. Die Arbeitslosigkeit ist deutlich 
angestiegen, die Zahl der Grenzgänger hat sich auf über 60 000 verdoppelt. Und da fast alle mit dem Auto kommen, geht morgens und abends gar nichts mehr auf den Strassen von Süd nach Nord.

Lohndumping ist mehr als Kampfrhetorik

Das Tessin ist zum grössten Arbeitgeber der Lombardei aufgestiegen. Einst übernahmen die Grenzgänger die Jobs, welche die Tessiner nicht machen wollten. Es war eine Art «Arrangement», das alle zufriedenstellte. Doch damit ist es vorbei. Heute drängen die Grenzgänger aus der Lombardei, wo die Erwerbslosenquote 
in den letzten Jahren stark gestiegen ist, immer stärker auch in den Dienstleistungssektor und immer weiter nach Norden und in die Städte vor. Und sie erledigen die Arbeit für deutlich tiefere 
Löhne als einheimische Konkurrenten. Lohndumping ist hier nicht nur linke Kampfrhetorik, sondern Realität. Zu gross sind die Einkommensunterschiede: Während der Medianlohn in Italien etwa 1200 Euro beträgt, sind es im Tessin rund 5000 Franken.

Auch bürgerliche Politiker räumen Probleme ein. Deshalb haben im September der CVP-Fraktionschef und Ständerat Filippo Lombardi und sein Mitstreiter im Nationalrat, Marco Romano, in Bern gegen viel Widerstand aus der SVP und der FDP die vereinfachte Verlängerung der Normalarbeitsverträge durchgeboxt. «Wir waren nicht überglücklich, denn die bestehenden flankierenden Massnahmen hätten gereicht», sagt Albertoni. «Es ist aber schon so, dass wir Missbräuche bekämpfen müssen. Sonst werden italienische Architekten oder italienische Anwälte für einen Monatslohn von 2000 Franken als Bürohilfe angestellt. Das geht natürlich nicht.»

Aber genau das geschieht. Denn die Rechnung geht für alle Beteiligten auf: für die Arbeitgeber, die ihre Lohnkosten senken können, und die italienischen Arbeitnehmer – und dies nicht nur wegen der tieferen Lebenskosten in Italien, sondern auch dank der sehr tiefen Quellensteuer und den im Vergleich zu Italien niedrigeren Sozialbeiträgen. Lombardi spricht denn auch von «staatlich gefördertem Lohndumping».

Nein, Nein und nochmals Nein

Das Tessin ist eine Welt für sich. Es ist nicht Teil der lateinischen Schweiz, falls es diese überhaupt gibt, auch nicht der Deutschschweiz, und es ist ganz sicher nicht Italien. Die Skepsis gegenüber dem südlichen Nachbarn sei immer gross gewesen, betont Tettamanti. Und weil letztlich für die Tessiner Europa gleichbedeutend sei mit Italien, hätten sie immer wieder Nein gesagt, wenn es um Europa ging: Sie sagten Nein zum EWR (61,5 Prozent), zu den Bilateralen I (57,0 Prozent), zu Schengen/Dublin (61,9 Prozent), zur Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf zehn weitere Staaten in Osteuropa (63,9 Prozent), zur sogenannten Ostmilliarde (62,9 Prozent) sowie zur Fortführung der Personenfreizügigkeit und Ausdehnung auf Rumänien und Bulgarien (66,1 Prozent).

Wer sich die Mühe gemacht hätte, das Tessiner Frühwarnsystem ernst zu nehmen, hätte einen Trend zuungunsten der Bilateralen erkennen können: Denn während das Tessin im Jahr 2000 mit seiner ablehnenden Haltung nur in Schwyz einen Verbündeten fand, gesellten sich fünf Jahre später bei der Frage nach der Ausweitung der Personenfreizügigkeit weitere fünf Deutschschweizer Kantone hinzu. Am 9. Februar 2014 gehörte das Tessin dann zu den Siegern: Die Mehrheit der Stände stimmte der SVP-Zuwanderungsinitiative zu, die den Fortbestand der Bilateralen gefährdet. Wobei das Tessin mit 68,2 Prozent den höchsten Ja-Anteil auswies.

Im Reich der «Colonnelli»

Die Ablehnung Italiens oder Europas, gekoppelt mit der zugespitzten Situation auf dem Arbeitsmarkt, war der perfekte Nährboden für den Aufstieg der Lega 
dei Ticinesi, die Giuliano Bignasca vor 
25 Jahren zusammen mit Flavio Maspoli gegründet hatte – aus Protest gegen das Machtkartell der grossen Familien, gegen das von der FDP angeführte Establishment, dem der freisinnige Bauunternehmer Bignasca selbst angehört hatte. Von Anfang an fuhr die Lega zweigleisig, sie stimmte rechts, gegen Europa, gegen Ausländer, für tiefere Steuern und mehr Strassen, aber auch links, für eine 13. AHV-Rente und für mehr Schutz für die heimischen Arbeitnehmer.

«Die Lega ist eine rechtspopulistische Bewegung mit Sensibilität für soziale 
Anliegen», sagt Michele Foletti, Finanzdirektor der Stadt Lugano und Legist der ersten Stunde. Und die Partei hatte auch immer anarchische Züge: Unvergessen etwa die «Freiheitskarawane» gegen Tempolimiten, als Bignasca mit Sympathisanten auf der A2 spazierte – und zwischen Airolo und Chiasso ein Verkehrschaos verursachte.

Heute gehört die Lega selbst zum Establishment. Im Kantonsrat ist ihr Wähleranteil fast so hoch wie jener des einst so mächtigen Freisinns, und bei der Besetzung der Exekutiven hat sie diesen sogar überflügelt: Die Lega stellt zwei von fünf Regierungsräten und in Lugano drei von sieben Mitgliedern der Stadtregierung. «Damit steht die Lega in der Verantwortung», sagt Foletti. Doch das sehen nicht alle so in der Partei. Die Frage ist, wer sich durchsetzt: «die Lega 2.0», also die gestaltungs- und lösungsorientierte Kraft, zu der sich Foletti zählt, oder «der Geist der Lega als Oppositionsbewegung»? Oder können beide nebeneinander weiterbestehen, wie derzeit beim Gezerre rund um die Einführung der Kehrichtsackgebühr, einer Vorlage des Lega-
Regierungsrats Claudio Zali, die von seiner eigenen Partei per Referendum bekämpft wird? Egal, wie der Streit ausgeht: Die Lega gewinnt.

Die Nachfolger von Bignasca

Viele hatten der Lega das Ende prophezeit, sollte Übervater Giuliano Bignasca einmal nicht mehr da sein. Doch es kam anders: Nach dessen Tod im Frühjahr 2013 ist die Partei nur noch stärker geworden – aber auch unberechenbarer: Bignasca, der in der Deutschschweiz vor allem wegen der langen Haare und seines Kokainkonsums von sich reden machte, war ein Kämpfer für seinen Kanton, und er hatte, so bestätigen das viele im Tessin, ein Herz für die Benachteiligten der Gesellschaft, für die Arbeitslosen, denen er persönlich einen Job vermittelte oder auch einmal ein paar Geldnoten in die Hand drückte.

Bignasca war «Show und Substanz», wie es einer formuliert, der ihn gut gekannt und mit ihm auch viel gestritten hat. Heute sei nicht klar, wer in der Riege der sogenannten «Colonnelli» das Sagen habe. Zu den Lega-Obersten gehören die Familienmitglieder: Giulianos Bruder Attilio und dessen Tochter Antonella sowie Giulianos Sohn Boris, aber auch die wichtigsten Amtsträger, die Regierungsräte Zali und Norman Gobbi, der Bürgermeister von Lugano, Marco Borradori, sowie dessen Mitstreiter in der Stadtregierung, Foletti und Lorenzo Quadri. Dieser ist nebenbei Chefredaktor des «Mattino della Domenica» und fährt darin jeden Sonntag scharfes Geschütz auf. Obendrein ist Quadri der bestgewählte Nationalrat der Tessiner Deputation in Bern, wo er allerdings nicht viel zu melden hat.

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Möglicher Nachfolger von Bundesrat Burkhalter

Doch geringe Bedeutung in Bern hat der Politkarriere eines Tessiners noch nie 
geschadet. Viel gefährlicher ist es, wenn einer es wagt, auszuscheren und über den kantonalen Tellerrand zu blicken. Der Erste, der dies erfahren musste, war Stefano Franscini. Der freisinnige Statistiker und Regierungsrat gehörte ab 1848 – nach der Gründung des Bundesstaats – der ersten Generation Bundesräte an. Als solcher war er federführend an der Gründung des Polytechnikums in Zürich, der späteren ETH, beteiligt. Für die Wiederwahl mussten die Bundesräte damals zusätzlich alle drei Jahre als Nationalräte bestätigt werden. 1851 schaffte Franscini die Hürde, 1854 hingegen verweigerten ihm die Tessiner ihre Unterstützung – worauf Franscini kurzentschlossen in einem anderen Kanton zur Wahl antrat und dann als Schaffhauser Nationalrat seinen Sitz in der Landesregierung behalten konnte.

2011 war es der damalige FDP-Präsident Fulvio Pelli, der zittern musste: Nur gerade 58 Stimmen sicherten ihm die Wiederwahl nach Bern. Und jetzt ist FDP-Fraktionschef Cassis an der Reihe: Bei den Nationalratswahlen 2015 hat er gegenüber 2011 bereits über 1800 Stimmen verloren. Cassis’ Popularitätswerte sinken, weil er zu viel in Bern ist. Und weil die von ihm vertretene, mehr wettbewerbsorientierte Gesundheitspolitik zu Hause gar nicht gut ankommt. Ebenso wenig wie sein Job als Präsident des Krankenkassenverbandes Curafutura. Verächtlich nennt man ihn auch «Cassis malati» oder «Krankencassis», obwohl dem Freisinnigen derzeit die besten Chancen eingeräumt werden, als potenzieller Nachfolger von Didier Burkhalter für das Tessin einen Bundesratssitz zu erobern. Seit dem Rücktritt von Flavio Cotti 1999 ist der Südkanton nicht mehr in der Landesregierung vertreten.

Runder Tisch als Gegenmittel

Charakteristisch für den Tessiner Legismus ist nicht nur die Opposition gegen alles, das Wettern gegen die andern, die «unfähigen Italiener» und die «Vögte aus Bern», sondern auch ein ungebremster Aktivismus bei der Lancierung neuer Gesetzesideen, ganz egal, ob diese mit dem geltenden Recht im Widerspruch stehen oder nicht. Der Stapel mit den unumsetzbaren Vorlagen wird immer höher. Neuste Zugänge: «Prima i nostri», die Tessiner Variante des Inländervorrangs, die nicht mit den Bilateralen vereinbar ist, das Gewerbegesetz, das gemäss Wettbewerbskommission gegen das Binnenmarktgesetz verstösst, oder die Parkplatzgebühr, die ebenso vor Bundesgericht hängig ist wie die Einführung des Mindestlohns.

In diesem aufgeheizten Klima versucht der freisinnige Regierungsrat Christian Vitta, verantwortlich für Wirtschaft und Finanzen, die Streithähne an runden Tischen zu gemeinsamen Lösungen zu bewegen. Kritiker monieren, dass es sich dabei nur um Alibiübungen handle, andere nehmen die Aufgabe ernst, wie etwa Sergio Ermotti, UBS-Konzernchef und für viele so etwas wie der Übertessiner. Bis anhin allerdings mit bescheidenem Resultat.

Das Tessin war lange eine arme Region. So arm, dass sich die Deutschschweizer schockiert zeigten bei ihren ersten Besuchen im Südkanton nach der Einweihung des Gotthardtunnels 1882. Die Situation verbesserte sich mit dem einsetzenden Tourismus und vor allem mit dem Aufstieg des Bankenplatzes Lugano nach dem Zweiten Weltkrieg. Finanzhäuser schossen wie Pilze aus dem Boden. 78 Stück waren es in der Blütezeit – und sie haben das Tessin reich gemacht. Die Italiener versteckten – auch aus Angst vor den Kommunisten – ihr Geld schwarz in der Schweiz, sparten so Steuern und schützten sich gleichzeitig vor dem Zerfall der Lira. Die Finanzhäuser heuerten immer mehr Leute an und holten die Bauern direkt «vom Acker» an den Bankschalter.

Sparprogramm für Lugano

Doch diese Zeiten sind vorbei. Heute zählt das Tessin nur noch 48 Banken, weitere werden schliessen, wie der Direktor der Bankiervereinigung, Franco Citterio, unterstreicht. Die Zahl der Bankangestellten ist von 7600 auf rund 6000 gesunken. Und der Abbau geht weiter, auch bei der einstigen Nummer eins auf dem Platz Lugano, der Banca della Svizzera Italiana (BSI), die von der EFG übernommen wurde. Das 1873 gegründete Traditionshaus wird nun von Zürich aus gelenkt. «Das ist ein herber Verlust für den Bankenplatz Lugano, für das Know-how vor Ort und für das Tessin generell», sagt Citterio. Denn die BSI sei mehr gewesen als nur eine attraktive Arbeitgeberin. «Sie ist auch ein Wahrzeichen für das Tessin» und etwa als Stifterin des Schweizer Architekturpreises eine grosszügige Unterstützerin der Kultur.

Wegen seiner starken Abhängigkeit von einem einzigen Markt – Italien – war der Tessiner Bankenplatz der erste, der vom Ende des Bankgeheimnisses betroffen war, wie Foletti betont. «Vielleicht war das auch eine Chance, denn er war gezwungen, als erster zu reagieren und nach neuen Rezepten zu suchen.» Einfach werde das nicht, «denn es ist schwieriger, mit Weissgeld zu arbeiten als mit Schwarzgeld». Der Einbruch hatte auch gravierende Folgen für Folettis Staatskasse: 2005 lieferten die Banken 55 Millionen Franken an Steuern ab, jetzt sind es noch 
12 Millionen Franken. Wobei die Einwohnerzahl von Lugano – vor allem aufgrund von Eingemeindungen – im gleichen Zeitraum um über 50 Prozent auf 67 000 zugenommen hat.

Die stolze Stadt ging fast pleite, die Banken wollten ihr keine Kredite mehr geben, und Foletti wusste oft nicht, wie er Ende Monat die Löhne der Stadtangestellten bezahlen sollte. Mit Borradori hat er das Ruder herumgerissen und der Stadt ein rigides Sparprogramm auferlegt. «Unnötige» Aufgaben wurden gestrichen, der Personaletat drastisch 
reduziert – von 2400 auf 1900 Vollzeitstellen. Der Schuldenberg allerdings beträgt noch immer fast 
eine Milliarde Franken.

Von Stahl bis Mode

Die beiden früher dominierenden Branchen – der Finanzplatz und der Tourismus – sind in den letzten Jahren geschrumpft. Böse Zungen behaupten, dass das letztlich nicht erstaune. Schliesslich habe sich das Tessin in diesen Bereichen nie anstrengen müssen. Die entscheidenden Erfolgsfaktoren waren extern gegeben: das Bankgeheimnis, die italienischen Kommunisten und die Sonne. Jetzt, wo das Schwarzgeldmodell tot ist und die Leute auch um den halben Globus an die Wärme fliegen können, wird plötzlich offensichtlich, dass viel zu wenig in die touristische Infrastruktur investiert wurde. Nun sind neue Ideen gefragt. Vitta und sein Team fördern deshalb «Innovationen», versprechen, bis in zehn Jahren 85 Prozent des Kantons mit Glasfasern auszulegen – und sprechen von «Diversifizierung».

Andere Branchen müssen her – respektive ausgebaut werden. Der Rohstoffhandel etwa, immerhin hat mit Duferco die weltweite Nummer eins im Stahlhandel ihren Sitz in Lugano. Als «Schlüsselbranche» betitelt wird auch das sogenannte «Fashion Valley». Mittlerweile haben sich rund 60 internationale Modefirmen im Tessin niedergelassen, die meisten im Mendrisiotto, also ganz im Süden, nahe an der Grenze zu Italien, in der flachen Industriezone zwischen Stabio, Mendrisio und Chiasso.

Es sind vor allem Logistikzentren, aber auch Designabteilungen und Labors für Produktentwickung. Produzieren tun hier die wenigsten, Ausnahmen sind etwa Ermenegildo Zegna oder Akris, bekannt als Lieblingskleidermarke von Bundesrätin Doris Leuthard. Immer wichtiger wird auch die Life-Sciences-Sparte mit Pharmafirmen wie Helsinn, dem Herzzentrum in Lugano, der weltweit anerkannten Onkologieklinik bei Bellinzona und dem neuen Masterstudiengang für Medizin, den die Universität ab 2020 anbieten wird.

Das Erbe von Borromini

Die junge Università della Svizzera italiana, gegründet vor zwanzig Jahren, ist so etwas wie ein Fremdkörper in der jüngsten Tessiner Geschichte. Ein Symbol für Öffnung in einer Gesellschaft, die sich immer stärker um sich selbst dreht. 
65 Prozent der Studenten kommen aus dem Ausland, aus über 100 Ländern. «Wir sind nach der ETH Lausanne die internationalste Universität der Schweiz», sagt der neue Rektor Boas Erez nicht ohne Stolz. Er selbst ist Tessiner, war aber lange weg, fürs Studium in Genf und ab 1993 in Bordeaux als Mathematik-Professor. Dementsprechend ist er in Lugano noch relativ unbekannt und kein «richtiger Tessiner» mehr. Und er wird Zeit brauchen, es wieder zu werden.

Die Universität soll Menschen aus der ganzen Welt anlocken. «Denn wo die 
Intelligenz ist, ist die Zukunft», betont Tettamanti. Dabei haben Universität und Fachhochschulen ein paar überzeugende Trümpfe: die Life-Sciences-Forschung etwa, das weltweit anerkannte Labor für künstliche Intelligenz oder den Supercomputer der ETH, den schnellsten Rechner Europas, der aktuell von rund 600 Forschern aus dem In- und Ausland genutzt und dank eines ausgeklügelten und energieeffizienten Systems mit dem Wasser aus dem Lago di Lugano gekühlt wird. Und natürlich die Accademia 
di architettura in Mendrisio, wo dank Mario Botta nicht nur 800 Studenten aus über 40 Ländern lernen, sondern auch renommierte Architekten lehren – und das Erbe Francesco Borrominis hochhalten, des Tessiner Architekten aus dem 17. Jahrhundert.

Die eigene Universität hat aber auch eine Kehrseite. Früher mussten die Tessiner zum Studieren raus aus ihrem Kanton, in die Deutschschweiz oder in die Romandie. Jetzt können sie zu Hause bleiben, müssen nicht mehr Deutsch oder Französisch lernen – was das Auseinanderdriften der Landesteile noch verstärkt. Tettamanti, der für sein Jus-Studium nach Bern ging, hat hierzu eine dezidierte Meinung: «Die Università della Svizzera italiana ist nicht für die Tessiner. Diese sollen nach Zürich gehen. Denn dort müssen sie ja dann auch einen Job finden.»

Greater Zurich Area als Ziel

Die Hoffnung ist begründet, dass wenigstens der soeben eröffnete Gotthard-Basistunnel den Kitt zwischen den Landesteilen verstärkt. Immerhin verkürzt er die Reisezeit zwischen Zürich und Bellinzona um über 30 Minuten auf rund eindreiviertel Stunden.

Das Potenzial für den Tourismus ist gross. Der Bahnhof von Bellinzona wurde rundum erneuert, jener von Lugano fristgerecht zum Fahrplanwechsel eingeweiht, und für den Bahnhof von Locarno liegt aus Mario Bottas Feder immerhin schon ein Projekt vor. Ticino-Turismo-Direktor Elia Frapolli hat zudem mit den Regierungsräten Vitta und Zali sowie den SBB das «Ticino Ticket» lanciert: Jeder Hotel-, Jugendherberge- und Campingplatz-Gast bekommt 2017 für die Zeit seines Aufenthalts eine Art Generalabonnement für den ganzen öffentlichen Verkehr im Tessin.

Noch wichtiger für den Lebensraum dürfte aber die Eröffnung des Ceneri-Basistunnels werden: Nicht nur, weil mit dem gut 15 Kilometer langen Basistunnel wenigstens die geografische Grenze zwischen dem Sopraceneri und dem Sottoceneri faktisch aufgehoben wird, sondern vor allem, weil damit die Reisezeiten zwischen Lugano und Locarno auf 22 Minuten, zwischen Lugano und Bellinzona gar auf 
12 Minuten verkürzt werden. Frapolli spricht deshalb von der «Città Ticino», von der Stadt Tessin. Das Tessin wird zu einem urbanen Kanton mit drei Polen: Lugano, Bellinzona und Locarno. Und die Hoffnung von Verkehrsminister Zali ist, dass dann der eine oder andere 
autoverliebte Tessiner sein Gefährt zu Hause lässt. Und vor allem: Dass die Grenzgänger – wenigstens innerhalb des Tessins – auf den öffentlichen Verkehr umsteigen.

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Die neuen Eisenbahntunnel haben auch Einfluss auf den Wirtschaftsstandort Tessin, wie Vitta betont. Deshalb will er jetzt mit seinem Kanton der Promotionsagentur Greater Zurich Area beitreten. «Das Tessin wäre dann das Fenster zum Süden.» Die Verhandlungen seien im Gang. Denn eines will Vitta vermeiden: Dass das Tessin einfach zur Transitzone wird.

Botta baut für Ambrì-Piotta

Mit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels definitiv ins Abseits zu geraten droht die Leventina, jenes Tal, das die Deutschschweizer höchstens wegen des Eishockeyclubs Ambrì-Piotta kennen. Saison für Saison kämpfen dessen Spieler für den Ligaerhalt und gemeinsam mit ihrem Präsidenten Filippo Lombardi ums Überleben. Jetzt hat der Politiker und Medienunternehmer soeben die Baubewilligung für das neue, von Mario Botta entworfene Stadion erhalten. Ein erster Schritt, nun muss er noch das restliche Geld auftreiben. Botta, der derzeit vor allem in China arbeitet und unter anderem eine Riesenbaustelle mit 10 000 Mitarbeitern für einen Campus in Shenyang überwacht, backt hier kleinere Brötchen. Doch das neue Stadion, verspricht der umtriebige Architekt, solle zur «Kathedrale für die Leventina» werden.

Der HC Ambrì-Piotta ist für die Leventina nicht nur einfach ein Sportclub, sondern – nach dem Stahlbauer Tenconi in Airolo – der zweitgrösste Arbeitgeber im Tal. Ansonsten gibt es noch etwas Agrarwirtschaft und gemäss Frapolli ein Potenzial für Feriengäste auf der Suche nach «Authentizität». «Doch ein Potenzial allein ist noch kein touristisches Produkt.» Man müsse etwas daraus machen. Die grösste Touristenattraktion im Tessin ist heute jedoch nicht die abgelegene Tallandschaft, sondern das Shoppingparadies FoxTown mit über 200 Outlet-Läden.

Trendumkehr in Sicht

Elia Frapolli gibt sich überzeugt, dass sich in den nächsten Jahren im Tessin viel tun werde. Für seine Zuversicht nennt er mehrere Gründe: die Zahl der Logiernächte, die 2016 erstmals seit langem wieder angestiegen ist, neue Attraktionen wie etwa das im Herbst 2015 eingeweihte Kulturzentrum LAC an der Promenade von Lugano und die junge Generation 
von Hotelbetreibern, die wieder mehr investieren wolle. «Ohne gutes Produkt hilft auch das beste Marketing nichts», sagt Frapolli.

Weniger optimistisch eingestellt ist CVP-Fraktionschef Lombardi, nicht nur in Bezug auf das Tessin, sondern für die Schweiz als Ganzes. Grund ist die faktische Nicht-Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative durch das Parlament. «Wir verärgern das Volk und werden dafür einen hohen Preis zahlen», sagt Lombardi. «Die SVP könnte dann ihre nächste Selbstbestimmungsinitiative nicht nur knapp gewinnen, sondern vielleicht sogar mit 55 Prozent», befürchtet der Ständerat. Und Lombardi muss es wissen, denn anders als seine Deutschschweizer Kollegen kann er die Zeichen des Frühwarnsystems Tessin lesen.