Für sein politisches Coming-out wählte der ungarische Ministerpräsident das rumänische Städtchen Baile Tusnad. Dort, im östlichen Siebenbürgen, zählt die Mehrheit der Bürger zur ungarischen Minderheit Rumäniens. 2014, an der jährlichen Sommerakademie, verkündete Viktor Orban mit einer Grundsatzrede die «Neuorganisation des Staates».

Die 
liberale Demokratie erklärte er für beendet: «Der neue Staat, den wir in Ungarn bauen, ist kein liberaler Staat, sondern ein illiberaler Staat.» Freiheit und weitere liberale Grundwerte stünden künftig nicht mehr im Zentrum, stattdessen der «nationale Denkansatz».

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Im Juli 2016 kam Orban wieder an 
die Sommerakademie nach Siebenbürgen – für einen Lobgesang auf den US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump. Seine Reden lassen keine Zweifel offen: Es geht ihm um die radikale Systemrevolution.

Demokratie mit Zusatz

Orban hat der rechtsnationalen Revolution einen Namen gegeben. Es ist das Modell der «illiberalen Demokratie», 
basierend auf einem Begriff, den der 
amerikanische Publizist und Politikwissenschaftler Fareed Zakaria 1997 als warnendes Beispiel prägte. Gemeint ist eine «defekte Demokratie», eine Staatsform, die letztlich in einer uneingeschränkten Herrschaft mündet, frei von den institutionellen Gegengewichten eines liberalen Rechtsstaates, frei von einer korrigierenden Justiz, frei von freien Medien und frei von einer Opposition, die diesen Namen verdient.

Wahlen und Abstimmungen wandeln sich in diesem autokratischen Regierungsmodell allmählich in Instrumente der Akklamation der Herrschaft. In diesen hybriden Regimen gibt es Demokratie nur noch nominal, als Window Dressing. Das Wort «Republik» wurde aus dem Staatsnamen entfernt, in der Präambel der ungarischen Verfassung werden die neuen Werte verkündet: Gott, Stephanskrone und Vaterland, Christentum, Familie und Nationalstolz.

Reale Bedrohung

Ungarns Präsident ist als Umstürzler nicht allein. In Russland spricht Wladimir Putin von der «souveränen Demokratie», in der Türkei ruft Recep Tayyip Erdogan nach dem gescheiterten Putsch die «fortgeschrittene Demokratie» aus. In Polen baut Jaroslaw Kaczynski das System nach Orbans Modell um. Und in den USA greift mit Donald Trump ein Mann nach der Macht, der sich offen und bewusst auf den Machismo des italienischen Diktators Benito Mussolini beruft.

Wenn sie sich durchsetzen, können ihre Konzepte Weltfrieden und Weltwirtschaft gefährden. Es geht um mehr als um die Unruhe, welche Protestgruppen mit ihren beachtlichen, aber doch begrenzten Erfolgen im etablierten Parteiengefüge stiften. Es geht um die Bedrohung des demokratischen Modells.

Illiberale Haltung nimmt zu

Das «Journal of Democracy», ein vom US-Kongress finanziertes Fachblatt, publizierte erschreckende Studienergebnisse über die Radikalisierung in den USA und grossen westeuropäischen Industrieländern im Verlauf von drei Jahrzehnten.

Demnach ist der Anteil junger Amerikaner, die eine Machtübernahme durch das Militär für eine «gute» oder «sehr gute» Idee halten, stark gestiegen. Jeder sechste Befragte stimmt inzwischen dieser untrüglich antidemokratischen Haltung zu. Illiberale Einstellungen wüchsen auch unter jungen, wohlhabenden und privilegierten Bürgern. Geht die Ära der liberalen Demokratien mit ihnen zu Ende?

Die Mitstreiter stehen bereit

Der Systemfeind macht Tempo. «Die Zeichen der Zeit scheinen günstig», sagt Orban. Beflügelt durch die Brexit-Abstimmung, erklärte er am 7. September: «Wir erleben einen historisch-kulturellen Moment. Es gibt jetzt die Möglichkeit für eine kulturelle Konterrevolution.»

Und seine rechtsnationalen Mitstreiter stehen parat: Marine Le Pen in Frankreich, Geert Wilders in Holland, Nigel Farage in England, Beppe Grillo in Italien, Frauke Petry von der Alternative für Deutschland (AfD) und FPÖ-Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer in Österreich, der im Zweifel vom Recht des Bundespräsidenten Gebrauch machen will, die Regierung abzusetzen.

Einreisestopp für Orbans Beamte

Die «rote Linie» sei längst überschritten, schrieb der rumänische Politikprofessor Dan Dungaciu für den US-Think-Tank Stratfor. «Europa braucht keine Konterrevolution», schrieb die «Financial Times». «Die Maske ist gefallen», erklärte US-Politikwissenschaftler Charles Gati von der Johns Hopkins University über Orbans Politik.

Ein interessantes Urteil: Gati war einmal Orbans Lehrmeister. «Alles, was ich über zeitgenössische Politik und Geschichte weiss, habe ich von Professor Gati gelernt», erzählte Orban einmal. Inzwischen hat das US-Aussenministerium einen Einreisestopp gegen sechs ungarische Regierungsbeamte verhängt, nachdem Budapest Putins Annexion der Krim insgeheim unterstützt hatte.

Selbst Konservative warnen

Aber was passiert, wenn das Weisse Haus in die Hände des völkisch denkenden Hitzkopfes Donald Trump fällt? Wenn der «Unwählbare», wie sogar stramm rechte Republikaner ihn nennen, doch gewählt wird? Noch werden seine Gewinnchancen von der «New York Times» auf der Basis einer ständig aktualisierten Meta-Analyse zahlreicher Umfragen nur mit 26 Prozent geschätzt. Doch in Umfragen legt er zu.

«So kommt der Faschismus nach Amerika», schrieb der neokonservative Vordenker Robert Kagan in der «Washington Post». Sicherheitsberater Bruce Riedel warnte, nachdem Trump wiederholt gefordert hatte, die USA sollten als Kriegsbeute irakisches Öl konfiszieren: «Wenn Sie permanenten Krieg im Nahen Osten und einen titanischen Kulturkampf zwischen dem Islam und Amerika haben wollen, dann ist dies Ihre beste Wette.»

Prohibitive Steuern und künstlich niedriger Frankenkurs

Das antiliberale Wirtschaftsmodell erscheint abstrus, irrsinnig, widersprüchlich. Orban hat bereits vorgemacht, wie es funktioniert. Mit einer rückwirkenden Sondersteuer für die Banken entschärfte er die Finanzkrise, die sich durch exorbitante Vergaben von Hypotheken in Frankenwährung aufgebaut und eine Million Kreditnehmer in Existenznot gebracht hatte.

Den Staatshaushalt reformierte er, indem er Pensionskassen verstaatlichte. Ausländisch beherrschte, kritische Medien domestizierte er mit prohibitiven Steuern. Und die Aktionäre einer Auslandsbank durften ihre kalte Enteignung erleben: «Der ungarische Staat kauft eine Bank zurück, die nie hätte an Ausländer verkauft werden dürfen, und damit sind über 50 Prozent des Bankensystems in ungarischem nationalem Besitz», erklärte Orban.

Per Gesetz wurden zudem notleidende Fremdwährungskredite kurzerhand und kollektiv zu einem Frankenkurs unter dem Marktwert getilgt. Den Schuldnern wurde erlaubt, fünf Jahre lang ihre Raten auf dem künstlich niedrigen Frankenkurs zu zahlen. Damit wurde der Frankenwert durch Staatseingriff auf rund 60 Rappen reduziert.

Eine halbe Million ist ausgewandert

So geht das im Staate Orban. Noch ist das ungarische Wirtschaftswachstum passabel. Es wird vor allem von Produktionsstätten ausländischer Automobilkonzerne getragen. Doch die Jugendarbeitslosigkeit hat die höchste Quote der osteuropäischen EU-Staaten, und die Beschäftigungsquote junger Mütter ist mit nur rund 10 Prozent weit herum die niedrigste – der Staat hat schliesslich eine klare Vorstellung von der Bestimmung der Mütter. In den ersten vier Jahren seit seiner Wahl sind eine halbe Million Bürger ausgewandert. Die Unternehmen halten sich mit öffentlichen Äusserungen zurück – ein Wort zu viel könnte den Zorn des Herrn erregen.

Die ungarische Finanzpolitik ist mit einer tickenden Zeitbombe konfrontiert. Die Fremdwährungskredite wurden nämlich nur temporär fixiert. Viele Hausbesitzer stehen daher bald erneut vor der Zwangsräumung, weil sie die Kredite nicht bedienen können. Was macht Orban dann? Autobahnen bauen? Wir wissen es nicht. Die autokratischen Herrscher im hybriden System zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Zukunft offenlassen. «Das Wesen der Zukunft ist Folgendes: Alles kann passieren», sagte Orban in seiner Siebenbürger Rede. Orban hat das wohl von Putin gelernt.

Russische Reformen ohne Ergebnis

Putin versprach 2012 am ersten Tag nach seiner erneuten Wahl zum Präsidenten tief greifende Reformen, unter anderem gegen die grassierende Korruption und für eine Stärkung des Justizsystems, und verabschiedete das Dekret Nr. 596 zur «Langfristigen Nationalen Wirtschaftspolitik».

Was wurde daraus? «Vier Jahre später ist nahezu nichts davon realisiert worden», sagt der Ökonom Sergei 
Guriev von der Eliteuniversität Sciences Po in Paris. Fast alle wichtigen Indikatoren sind negativ, sagt er. Und dies nicht nur wegen der Ukraine-Sanktionen gegen Russland, die ihre Wirkungen durchaus zeigen. Die Korruption habe endemische Ausmasse, weitere Budgetkürzungen stünden bevor. «Es sind die normalen Bürger, die den Preis dafür bezahlen», schreibt Guriev.

Auf Knien zu Putin rutschen

Ex-Insider Gleb Pavlovsky hat fünf Jahre lang Putin und dessen Ministerpräsidenten Dmitri Medwedew beraten. «Aber auch ich kann die tatsächlichen Mechanismen der Macht in Russland kaum erklären», offenbart er im US-Fachmagazin «Foreign Affairs». Sichtbar sei zwar eine «Ästhetik der Diktatur», doch anders, als sein Image des allmächtigen Zaren vorgebe, habe es Putin nie geschafft, einen bürokratisch erfolgreichen autoritären Staat aufzubauen. Er habe sein eigenes System erschaffen: «sistema».

Pavlovsky berichtet von den Machtallüren des Herrschers und von einem devoten Oligarchen, der auf den Knien durch die Eingangstür des Präsidentenbüros bis zum mächtigen Schreibtisch Putins kroch. Wenn Unternehmer in dieser «gemanagten Demokratie» grosse Projekte realisieren wollten, müssten sie es schaffen, die Sache Putin zu erklären. Im besten Fall gewännen sie aus diesen Gesprächen eine vage Vorstellung davon, was Putin wolle, doch am Ende bleibe alles im Unklaren.

«Diese Worte sind die einzige Lizenz, die sie haben», erklärt Pavlovsky, «dieser Regierungsstil beruht auf Indirektion und Interpretation statt auf Kommando und Kontrolle.» Dieses Herrschaftsprinzip lässt alle Entscheidungen offen und revidierbar, das System sei zur staatlich geförderten Comedy mutiert: «Der Mensch Putin ist nun der Manager der Marke Putin.»

Mal Freund, mal Feind

Das Netz der autokratischen Spieler ist so unberechenbar wie sie selbst. Putin ist Orbans Idol, Erdogans Türkei sein Vorbild; Orban ist das Vorbild Kaczynskis, aber Kaczynski hasst Putin. Putin und Erdogan sind mal Freund, mal Feind. Trump bewundert Putin, liebt aber nur sich selbst. Die populistischen Nachahmer bewundern – mal offen, mal insgeheim – die Machthaber und lassen sich teilweise von Putin finanzieren.

Und nun droht der Welt die Unberechenbarkeit in Person: ein Donald Trump als US-Präsident, der abstruse Ideen am Laufmeter verbreitet, aber immer dann schweigt, wenn es ökonomisch konkret wird. Er verspricht Reformen, 3,5 Prozent Wachstum und 25 Millionen neue Jobs. Seine versprochenen Steuersenkungen, so rechnete er vor dem Economic Club of New York vor, würden in den kommenden zehn Jahren 4,4 Billionen US-Dollar kosten. Das will er ganz locker mit einem Regulierungsstopp und mit Reformen in der Handels- und Energiepolitik wettmachen.

Problemlösung mit dem Holzhammer

Doch seine politischen Zielvorgaben sind voller Widersprüche. Er will chinesische Importe mit Strafzöllen belegen und einen Wirtschaftskrieg gegen China entfachen; er will die TTIP-Verhandlungen beenden und das amerikanische Nafta-Abkommen neu aushandeln.

Er will entlang der 2000 Meilen langen Grenze zu Mexiko eine Mauer bauen, je nach Wahlkampfauftritt mal 30, mal 55 Fuss hoch, und die Baukosten von acht oder zehn Milliarden Dollar den Mexikanern aufbürden. Aber er ignoriert, dass mit der «Operation Streamline» längst das teuerste Grenzregime der US-Geschichte aufgebaut worden ist – mit 21'000 Grenzwächtern, mit 60'000 Beamten in der Border Protection, der grössten Strafverfolgungsbehörde des Bundes, und einem Jahresbudget von 19,5 Milliarden Dollar, mit 700 Meilen Stacheldrahtzaun unter der Kontrolle der Homeland Security, mit modernster Hightech-Überwachung, bestehend aus Drohnen und Biometrie, Spionagetürmen, Radarsystemen und Blackhawk-Helikoptern. Und mit jährlich rund 400'000 Ausgeschafften. Wie will Trump etwas bauen, das in modernster Form längst existiert?

Widersprüchlicher Isolationismus

Trump verkündet neben Steuersenkungen archaische Ideen zur Lösung komplexer Probleme. Big Steel, Big Oil, Big Auto. Er verspricht die Rückkehr der Industrie-Ära, als gäbe es kein Internet, keinen Klimawandel und keinen internationalen Wettbewerb.

Er will mit erklärtem Isolationismus die USA aus internationalen Interventionen heraushalten, aber dennoch das Militärbudget drastisch steigern. Wofür? Wofür haben wir Atombomben, wenn wir sie nicht einsetzen?, faselte er vor einem Militärberater, der es als seine patriotische Pflicht empfand, vor diesem Mann zu warnen. Wie soll diese Wirtschaftspolitik finanziert und umgesetzt werden? Die Details folgen später.

Der Rest ist Lüge

So bleibt auch das Wissen über das Vermögen der Ego-Männer im Ungefähren. Putin erklärt, er verdiene jährlich nur rund 150'000 Franken, besitze kaum nennenswertes Vermögen. Kritiker schätzen jedoch sein Vermögensreich, das über ein Treuhandsystem mit langjährigen Freunden kontrolliert werde, auf 40 bis 300 Milliarden Dollar – je nachdem, was mitgezählt wird: gigantische Aktienpakete und royale Paläste, Flugzeuge und Luxusyachten, Limousinen und Uhren. «Wir sehen, dass er seine Freunde und engsten Gefährten reich macht», erklärt Adam Szubin, der US-Staatssekretär für die Finanznachrichtendienste.

Trump weigert sich, seine Steuerdaten zu veröffentlichen. Weil er so steinreich ist, wie er stets betont, und nur wenig Steuern zahlt? Oder weil die Wahrheit einen riesigen Schuldenberg offenbaren würde? Autoren von «Vanity Fair» und «New York Times» scheiterten nach monatelangen Analysen am Wirrwarr seiner komplex verschachtelten Finanzstrukturen. Auch sein Vermögen bleibt ein Mysterium.

Drastische Konsequenzen

Die Folgen von Trumps politischem Programm lassen sich jedenfalls erahnen: TTIP würde scheitern, die Iran-Sanktionen würden wiederbelebt, die Beziehungen zur EU und zu China leiden, die Nato würde paralysiert und Putin ermuntert. Trump, der Egozentriker, wäre nicht fähig, die internationalen Institutionen einzubinden. Er würde sie nur beherrschen wollen, und dazu fehlt ihm wiederum die Befähigung. Die geopolitischen und ökonomischen Konsequenzen wären jedenfalls drastisch. Oder wie es Orban ausdrückt: «Alles kann passieren.»