Der unternehmensethische Ernstfall entsteht häufig in der Form, dass Aktivitäten einer Firma in den Medien als unethisch qualifiziert werden und das Unternehmen in der Folge einem öffentlichen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt wird (siehe Kasten «Keine lässlichen Sünden»).

Vor diesem Hintergrund erweist sich die Überwindung eines krisenfixierten Umgangs mit unternehmensethischen Fragen als besonders dringlich. Im angelsächsischen Raum wird daher unter dem Begriff Corporate Citizenship für die prinzipielle Selbstverpflichtung eines Unternehmens zu einer fairen Vermittlung von marktstrategischen Unternehmenszielen mit gesellschaftlich verbreiteten Gerechtigkeits- und Sinnvorstellungen plädiert. Corporate Citizenship bedingt spezifische institutionelle Voraussetzungen, wenn die deklarierte Selbstverpflichtung mehr sein soll als eine blosse rhetorische Leerformel.

Sehr geeignet als Grundlage einer konsequenten Praktizierung republikanischen Verantwortungsbewusstseins im Geschäftsalltag sind einzelne Ethikmassnahmen beziehungsweise integrierte Ethikprogramme.

Gestaltung eines modularen Ethikprogramms ethikmassnahmen haben drei allgemeinen Anforderungen zu genügen:

- Jede Ethikmassnahme muss in sich sinnvoll und daher auch einzeln realisierbar sein.
- Werden diverse Ethikmassnahmen verwirklicht, so müssen diese systematisch aufeinander abgestimmt sein.
- Die Praktizierung von Unternehmensethik ist als eine grundlegende Führungsaufgabe zu verstehen und nicht als ein unverbindliches Ritual idealistischer Absichtserklärungen.

Die im Folgenden aufgeführten Ethikmassnahmen stellen insgesamt ein modulares unternehmensethisches Vollprogramm dar. Dieses bietet eine Übersicht über das integrierte Möglichkeitenspektrum praktischer Unternehmensethik. Auf einzelne Unternehmen bezogen, kann auf dieser Grundlage ein massgeschneiderter eigener Entwicklungspfad bestimmt werden.

1. Unternehmenspolitik: Selbstverpflichtung zu Corporate Citizenship
Das integrierte St.-Galler Managementkonzept stellt einen hervorragenden Orientierungsrahmen zur systematischen Gestaltung der Gesamtführung eines Unternehmens dar. Diesem Konzept zufolge sind drei Grunddimensionen des Managements zu unterscheiden: die ethisch-normative, die strategische und die operative.

Mit dieser Gliederung verbunden ist die Auffassung, dass nicht nur strategisches und operatives Handeln einer bewussten Gestaltung bedarf, sondern auch die Wertebasis, auf der strategische und operative Entscheidungen stets beruhen.

Wird die Notwendigkeit dieser systematischen Unterscheidung nicht klar gesehen, ist kaum zu vermeiden, dass Wertfragen durchwegs aus funktionalistischer Perspektive diskutiert werden. Das heisst, sie werden vermischt mit spezifischen Nutzenkalkülen. Die weithin geführte Unternehmenskulturdiskussion der Achtziger- jahre bietet hierfür ein anschauliches Beispiel.

Im Rahmen dieses dreidimensionalen Managementkonzepts beruht Corporate Citizenship somit in erster Linie auf Entscheidungen, die in der ethisch-normativen Dimension des Managements zu treffen sind. Wichtigstes Gestaltungsfeld dieser Dimension ist die Unternehmenspolitik. Sie besteht aus nachfolgend aufgeführten Bausteinen:

Corporate Philosophy oder Leitbild: Darlegung des Selbstverständnisses des Unternehmens bezüglich seiner Rolle in der Gesellschaft und bezüglich seines Umgangs mit ethisch-normativen Fragen. Die Corporate Philosophy setzt die ethisch-normativen Leitplanken für die langfristige Ausrichtung der Geschäftstätigkeit. Orientierung gebend hat dabei die Idee der Vermittlung von marktstrategischen Erfolgs- und gesellschaftlichen Legitimationserfordernissen zu sein.

Ethikkodex: Er enthält verschiedene Grundsätze, die spezifische Konkretisierungen des normativen Leitbilds zum Inhalt haben. Ein Beispiel ist etwa der Grundsatz «constant respect for people» des Motorola-Konzerns. Zweck eines solchen Ethikcodes ist die unmittelbare ethische Handlungsorientierung im Geschäftsalltag.

Unternehmensverfassung: Darin wird festgehalten, wem unter welchen Bedingungen im Hinblick auf welche Problem- beziehungsweise Aufgabenstellungen, dem deklarierten Selbstverständnis des Unternehmens (Corporate Philosophy) folgend, welche ethisch begründeten Rechte eingeräumt und moralischen Pflichten auferlegt werden.

Prozess der ethisch-normativen Selbstverständigung: Selbstverständnis (Unternehmensidentität) bedingt Selbstverständigung. Zu klären ist daher, wie die Prozesse der inhaltlichen Festlegung der Unternehmenspolitik (ethisch-normative Managementdimension), ihrer situationsgebundenen alltäglichen Verwirklichung (strategische und operative Dimension) sowie ihrer Weiterentwicklung zu gestalten sind und anhand welcher Kriterien die Teilnahmeberechtigten an solchen Selbstverständigungsprozessen zu bestimmen sind.

2. Institutionalisierung von vernetzten Dialogplattformen
In vielen Unternehmen ist die Auffassung verbreitet, wonach die in einem Ethikkodex oder in allgemeinen Unternehmensgrundsätzen festgehaltenen Grundwerte den Mitarbeitern zu vermitteln seien, von diesen zu akzeptieren und im Geschäftsalltag ihrem Inhalt entsprechend konsequent «anzuwenden» oder zu befolgen seien. Ein solch mechanisches Verständnis praktischer menschlicher Wertorientierung verkennt, dass

Wertvorgaben als solche im Kontext spezifischer Situationsbedingungen mit Ausnahme von Grenzfällen stets auslegungsbedürftig sind und zudem die Komplexität konkreter Handlungssituationen in normativer Hinsicht oft in der Existenz konkurrierender Wertvorgaben besteht, was schwierige Güterabwägungen erfordern kann. Da die mit solchen Interpretationen und Güterabwägungen verbundene Verantwortung oft nicht mehr allein den einzelnen damit betrauten Akteuren übertragen werden kann, gewinnen organisatorische Voraussetzungen an Bedeutung, die in kritischen Fällen Prozesse einer gemeinsamen Situationsbeurteilung und Entscheidungsfindung ermöglichen. Besonders geeignet hierfür ist die Institutionalisierung eines Netzwerks von unternehmenspolitischen Dialogplattformen auf der Grundlage des skizzierten dreidimensionalen Konzepts der Unternehmensführung.

Dialogplattformen der normativen Managementdimension dienen der inhaltlichen Bestimmung und Weiterentwicklung der Unternehmenspolitik entsprechend ihrer oben erwähnten Konzeptualisierung. Beispiele solcher Dialogforen sind: Policy-Teams, deren Aufgabe es ist, Vorschläge zur Gestaltung der Hauptbestandteile der Unternehmenspolitik (Corporate Philosophy, Ethikkodex, Unternehmensver- fassung, Prozess normativer Selbstverständigung) im Auftrag des Topmanagements zu erarbeiten. Wichtig ist, dass solche Projektteams aus Vertretern unterschiedlichster Funktionsbereiche, Hierarchiestufen und Standortkulturen bestehen.

Dialogplattformen als Erfolgsfaktoren zur Umsetzung
zur unternehmens- beziehungsweise konzerninternen Diskussion und Verfeinerung der Arbeitsergebnisse der Projektgruppen eignen sich Dialogplattformen in Gestalt so genannter Kommunikationsmärkte, die an allen grösseren Standorten des Unternehmens einzurichten sind. Auf diese Weise lassen sich in konzentrierter Form Hunderte von Mitarbeitern in die Gestaltung der Unternehmenspolitik einbeziehen.

Praktische Erfahrungen von Unternehmen zeigen, dass der skizzierte Kommunikations- und Kooperationsprozess als solcher hinsichtlich seiner motivierenden, sozialintegrativen, identitäts- und vertrauensbildenden Wirkungen mindestens ebenso wichtig ist wie die dabei erarbeiteten Ergebnisse in Form schriftlich dokumentierter ethisch-normativer Geschäftsgrundlagen.

Dialogplattformen an der Schnittstelle zwischen normativer und strategischer Managementdimension: Im Mittelpunkt der praktischen Wirkungsentfaltung der unternehmenspolitischen Geschäftsgrundlagen steht die Bearbeitung und Entscheidung von charakteristischen Dilemmasituationen. Beispiele dafür können sein:

- Zumutbarkeitsfragen im Zusammenhang mit Risiken und Gefahren, die mit Produkten und/oder Produktionsverfahren verknüpft sind;
- Entscheidungen bezüglich der Realisierung von Investitions- beziehungsweise Markterschliessungsvorhaben unter verschiedenen politisch-kulturellen Bedingungen;
- Durchsetzung der unternehmenspolitischen Geschäftsgrundlagen bei der weltweiten Auswahl von Lieferanten, Vertriebs- und Fusionspartnern und so weiter.

Unternehmenspolitische Dialoge an der Schwelle zwischen normativer und strategischer Managementdimension lassen sich in verschiedenen Formen institutionalisieren:

Ein Ethikkomitee beziehungsweise ein Ethikausschuss kann in einem Unternehmen als Forum fungieren, in dem eine regelmässige Darstellung und eine entscheidungsorientierte Aufarbeitung von Dilemmasituationen ermöglicht wird, die von den Mitarbeitern im Geschäftsalltag an der entsprechenden interdimensionalen Schnittstelle erlebt wurden beziehungsweise immer wieder zu erwarten sind.

Unternehmensdialoge mit externen Partnern: Im Rahmen der Aussenbeziehungen von Unternehmen sind Dialogplattformen denkbar, die einen ständigen Erfahrungs- und Meinungsaus- tausch mit Lieferanten, Kunden und/ oder anderen relevanten externen Interessengruppen hinsichtlich der Vermittlung von marktstrategischen Zielsetzungen und gesellschaftlichen Legitimationsfragen ermöglichen.

Ethical Auditing: Dieses Verfahren ist geeignet, auch unabhängig vom Vorliegen akuter Dilemmasituationen firmenintern und -extern periodisch den Stand der Verwirklichung der unternehmenspolitischen Grundlagen im Geschäftsalltag zu überprüfen.

Dialogergebnisse müssen sich in den Prozessen niederschlagen
Die Ergebnisse der dialogprozesse an der Schnittstelle zwischen der normativen und der strategischen Managementdimension müssen rückgekoppelt werden mit den Prozessen der Strategiebildung sowie der Weiterentwicklung der unternehmenspolitischen Geschäftsgrundlagen und dem darin verankerten Verständnis von Corporate Citizenship.

Dialogplattformen an der Schnittstelle zwischen normativer und operativer Managementdimension: Zweck dieser Dialogplattformen ist die Unterstützung der Mitarbeiter beim Umgang mit Verstössen gegen den Ethikkodex beziehungsweise mit unternehmensethischen Dilemmasituationen in der kurzfristig (auf Jahresziele) orientierten Dimension des Geschäfts.

Beispiele von möglichen Problemfällen können sein: Verletzungen von Persönlichkeitsrechten am Arbeitsplatz; Leistungsvorgaben, die im Einklang mit dem Ethikkodex nicht erreichbar sind; irreführende Marketing- praktiken; beobachtete Korruptions- oder Bereicherungstatbestände und so weiter.

Liniendialoge: Diese Variante diskursiver Problemlösungen besteht lediglich in der Verpflichtung der Mitarbeiter, in kritischen Handlungssitua- tionen Rücksprache mit der vorgesetzten Stelle zu halten. Zur Unterstützung des Ethical Auditing sind die diskutierten Problematiken, die getroffenen Entscheidungen und ihre Begründung protokollarisch festzuhalten.

Ethics-Officer-Konsultation: Verfügt eine Firma über einen Ethics-Officer, ist dieser zwingend in die Beurteilung von akuten unternehmensethischen Problemsituationen einzubeziehen.

Ethics-Hotline: Telefonlinie, die zu einer internen oder externen Vertrauensperson geschaltet ist. Ethisch problematische Beobachtungen oder Erfahrungen, welche die Geschäftspraxis eines Unternehmens betreffen, können auf diesem Weg mit einer Drittperson besprochen werden.

Solche Ethik-Hotlines sind mit grösstmöglicher Sorgfalt zu behandeln. Ihrem Vorteil der Gewinnung von relevantem Wissen steht der potenzielle Nachteil gegenüber, dass eine unsensible Handhabung dieser Dialogmöglichkeit im Unternehmen ein Klima der Angst vor potenziell allgegenwärtiger Denunziation aufkommen lässt.

Orientierungsleitend hat dabei jedoch die Tatsache zu sein, dass eine möglichst illusionsfreie Verwirklichung der verbindlichen Unternehmenspolitik auf eine genaue Kenntnis des täglichen Handelns der Organisation angewiesen ist. Inhalte und Ergebnisse auch dieser interdimensionalen Dialoge sind rückzukoppeln mit den Prozessen der Weiterentwicklung der unternehmenspolitischen Geschäftsgrundlagen.

Corporate Ethics-Office als operatives Zentrum des Ethikprogramms
das corporate ethics-office ist das operative Zentrum eines Ethikprogramms. Es untersteht einem Ethics-Director. Sind in einzelnen Divisionen Ethics-Officer eingeführt, so rapportieren diese dem Ethics-Director und nicht den Divisionsleitern. Die Hauptaufgaben des Corporate Ethics-Office lassen sich in sechs Bereiche gliedern (siehe «Aufgabenprofil Corporate Ethics-Office»):

- Prozessbegleitung (Entwicklung und Verwirklichung des Selbstverständnisses der Firma)
- Ethical Auditing
- Ethics-Training
- Instrumente der Personalführung
- Corporate Ethics-Communications
- Allgemeine Serviceaufgaben.

Corporate Ethics als Voraussetzung für stabile Glaubwürdigkeit
ethikprogramme zur verwirklichung eines bestimmten Verständnisses von Corporate Citizenship sind eine In- vestition in eine nachhaltig verantwortungsvolle Unternehmensführung. Eine solche Praxis bietet die beste Chance zum Aufbau einer stabilen Vertrauenswürdigkeit der Firma nach innen und aussen.

Unternehmensethik ist deshalb kein Programm zur Anprangerung von Unternehmen, sondern zur systematischen Realisierung von spezifischen Entwicklungspotenzialen unter multikulturellen Bedingungen.

 

Partner-Inhalte