Der Banker hatte nichts Böses im Sinn. Per e-mail offerierte er seinen Kollegen in der UBS zwei Billette für ein Rockkonzert. Bei einem Empfänger kam er damit denkbar schlecht an. Unvermittelt drückte dieser den Knopf «Antwort an alle» und schickte die ganze Sammelsendung ins Netz zurück.

Das System hielt dem plötzlichen Datenschwall nicht stand und stürzte ab. Einerlei, ob es aus Unachtsamkeit oder Absicht geschah: Der Fall zeigt, dass der E-Mail-Alltag nicht immer so einfach und effektiv ist, wie die Apologeten der digitalen Kommunikation meinen. Nicht nur belastet der anschwellende Fluss von elektronischen Mitteilungen die Netzwerke bis zum Kollaps, das oft willkürlich gestreute digitale Kurzfutter überfordert die Arbeitskräfte zunehmend. Als würde es sich um Nintendo handeln, werden Mailboxen und Leitungen mit überflüssigen Memos, langwierigen Protokollen, Firmentratsch und sonstigen Belanglosigkeiten verstopft. Was noch bis vor kurzem als lästig hingenommen wurde, ist ringsum zur Plage geworden.

Die Mail-Massen sind erdrückend. In der UBS hat jeder Mitarbeiter, der mit einem PC arbeitet, Zugang zum elektronischen Postnetz. Zwischen den 40 000 Mailboxen, die die grösste Schweizer Bank hierzulande aufweist, fliessen jeden Arbeitstag gegen 200 000 E-Mails. Im Pharmakonzern Novartis, wo weltweit 62 000 Mitarbeiter zusammengeschaltet sind, zirkulieren sogar 700 000 Mails pro Tag. Ähnliche Datenmengen schiessen durch die Leitungen der Swisscom: Intern werden pro Arbeitstag rund 600 000 E-Mails versandt, hinzu kommen rund 80 000 von und nach draussen. Der Nutzen der elektronischen Post ist offenkundig. E-Mail ist schnell, billig und direkt, vereint mithin die Vorteile von Telefon, Fax und Sitzung. E-Mail vermittelt den Nutzern ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Und E-Mail bietet genau die richtige Mischung von Intimität und Anonymität, die den Umgang mit Kollegen und Kunden vereinfacht.

Doch allmählich zeigt sich auch die Kehrseite des Mediums. Andauernd will jemand etwas von einem. Die Abwehr der Geschosse aus Bits und Bytes erfordert Kraft. In vielen Unternehmen herrscht schon am Montag morgen schlechte Stimmung, weil der Chef übers Wochenende im ganzen Betrieb Ideen und Aufträge per E-Mail verteilt hat. Vergessen sind die Augenblicke des Glücks, als hie und da ein elektronischer Gruss hereintröpfelte. Gemäss einer Umfrage der AG für Werbemedienforschung (WEMF) hat sich das E-Mail zum verbreitetsten Medium der Online-Welt entwickelt: 1,3 Millionen Schweizer nutzen das E-Mail regelmässig für Beruf, Studium oder privat. «Solche Zuwachsraten hatte noch kein Medium vorzuweisen», kommentiert die WEMF den Boom.

Auch internationale Marktforscher kommen kaum nach mit Zählen, seit Ray Tomlinson, Autor der ersten E-Mail-Software, 1972 die @-Lawine lostrat. Im vergangenen Jahr ist dieZahl der E-Mail-Postfächer von 49 auf 112 Millionen gestiegen. In der Arbeitswelt hat das E-Mail das Telefon und die Post erstmals als beliebtestes Kommunikationsmittel überholt. Doch parallel dazu ist die elektronische Kommunikation zum Stressfaktor Nummer eins geworden. Als «Seuche» empfindet Swisscom-Sprecher Sepp Huber die grassierende Gewohnheit, alles und jedes digital mitzuteilen. «E-Mail ist eine Bringschuld, wobei die Gefahr besteht, dass zuviel gebracht wird», sagt Huber. Das Lesen und Beantworten der 50 Mails, die er pro Tag erhält, kostet enorm viel Zeit. Novartis-Sprecher Mark Hill hat einen Tag in unangenehmer Erinnerung, an dem er 45 Botschaften in der Mailbox vorfand. Häufig kommen E-Mails zu allem anderen hinzu: «Briefpost nimmt nicht in dem Mass ab, wie der Mail-Verkehr zunimmt», sagt Hill, «E-Mail erhöht die Kommunikationsdichte.» Peter Zahner, Leiter Kundenbeziehungen bei der Swissair, findet «die Flut der E-Mails bedrückend, weil kein Ende absehbar ist. Man hat das Gefühl, dass man sie nicht innert nützlicher Frist bearbeiten kann.»

Das Medium kennt keine A- und B-Post, sondern nur Express. Permanent zieht das E-Mail-Programm Post vom Server und lädt es auf die Mailbox. Wer sich für eine Antwort einen Tag Zeit lässt, gilt als Lahmsocke. Zum Stress trägt bei, dass viele ängstliche Nutzer Empfangsbestätigungen anfordern, wenn eine Antwort nicht prompt eintrifft - obwohl E-Mails selten nicht ankommen. Die zwanglose Art des E-Mails verleitet zu übermässigem Gebrauch. In manchen Unternehmen findet mittlerweile selbst der Gedankenaustausch zwischen benachbarten Büros per Mail statt. Um in der Masse Aufmerksamkeit zu erlangen, werden auch irrelevante Botschaften als Rundschreiben und unter dem Vermerk «dringend» verschickt. Die Folge: Keiner merkt mehr, wenn wirklich Dringendes ankommt.

Ein durchschnittlicher Büroangestellter erhält und verschickt jeden Tag 169 Mitteilungen, davon 23 E-Mails; fast die Hälfte der Beschäftigten wird alle zehn Minuten durch eine Mitteilung unterbrochen. Dies ergab eine Umfrage des US-Postsystemherstellers Pitney Bowes bei 3900 Beschäftigten in den USA, Kanada und England. «Das Nachrichtenaufkommen ist an einem Punkt angelangt, an dem das Tagesziel nur noch im Versuch besteht, permanent auf alle Anfragen zu reagieren», sagt Pitney-Bowes-Kommunikationschefin Meredith Fischer. Das Bestreben, die Arbeitsplanung immer wieder neu auf die Nachrichtenflut einzustellen, führe zwangsläufig zu Überforderung. Obschon in den höchsten Etagen im Schnitt weniger E-Mails eingehen als an der Basis, ist auf dieser Stufe das Gefühl, nicht mehr mit den Mitteilungen zu Rande zu kommen, grösser. 60 Prozent der Vorstandsmitglieder gaben Schwierigkeiten beim Bewältigen der E-Mail-Schwemme zu. Fischer führt das darauf zurück, dass Nachrichten in den Chefetagen komplexer sind.

Dennoch treiben die Manager das digitale Medium voran. Und siehe da: Plötzlich fallen Hemmungen. Wer Tony Reis eben noch auf dem Parkplatz ehrfürchtig auswich, kann ihm nun informell Fragen stellen. Der Swisscom-Chef hat seine digitale Adresse in der Hauszeitung publiziert mit der Aufforderung an die Mitarbeiter, ihm Anliegen persönlich mitzuteilen. Rodolfo Bogni, Chef des Private Banking der UBS, lässt stolz wissen, er beantworte täglich 150 Mails. Ein Fan der Mausklickkommunikation ist auch Swissair-Chef Jeff Katz. Der Amerikaner verschickt jeden Freitag allen Mitarbeitern eine elektronische Botschaft - mit der Bitte um Antwort und Anregung. Novartis-Chef Daniel Vasella liest täglich gegen 40 Mails und beantwortet die meisten selbst. Seine knappen und prägnanten Antworten - oft kommt nur ein «OK» oder ein «Nein» zurück - sind bereits legendär. Vasella schätzt es, wenn mehrere Themen in einem E-Mail behandelt werden und sich die Mails aufs Wesentliche konzentrieren. Für ihn ist mailen effizienter als faxen.

Viele Chefs erwarten heute von ihren Angestellten, dass sie wie sie selbst nach Feierabend, am Wochenende und sogar während der Ferien ihre Mailbox leeren. Ein zweifelhafter Anspruch, warnte kürzlich die amerikanische Society for Human Resource Management, denn er gefährde die Balance zwischen Beruf und Familie. «Das E-Mail mag die Produktivität fördern, aber zu welchem Preis?» gibt IBM-Manager Ted Childs in einer Studie der Gesellschaft zu bedenken, ein 24stündiger Zugang zu den Arbeitskräften sei moralisch gesehen ein fragwürdiges Ziel. Der amerikanische Psychologe und Autor Donald Norman glaubt nicht einmal, dass der Informationsgewinn in eine Produktivitätssteigerung mündet. Er hält die elektronische Post für ineffizient, weil niemand die Info-Massen vernünftig abarbeiten könne. Das Blinken des E-Mail-Symbols in der Bildschirmecke zwinge zu übereilten Reaktionen: «Es ist schwierig, innerhalb von fünf Minuten zwischen zwei Unterbrechungen Qualitätsarbeit zu leisten», findet Norman.

Das Tempo und die informelle Natur des Mediums verleiten zu Unachtsamkeiten und Leichtsinn. Dies kann nicht nur peinlich sein, sondern eine Firma auch teuer zu stehen kommen. In der UBS, machte der «K-Tip» publik, gelangte kürzlich der interne Mail-Verkehr als Attachment ungewollt an einen Kunden. Weil er mit einer Abrechnung nicht zufrieden war, schickte der Kunde der UBS per Mail eine Beanstandung. Zurück kam in der Tat dicke Post: Dem E-Mail war der ganze interne Mail-Verkehr angehängt, in dem sich die Banker abschätzig über ihren Kunden geäussert hatten. Eine Entschuldigung für den Fauxpas kam von höchster Stelle: UBS-Präsident Alex Krauer persönlich besänftigte den Kunden - selbstverständlich per Mail.

E-Mail wurde auch für einen Mitarbeiter der Zürcher Citibank zum Verhängnis. Der Banker schickte einigen Kollegen einen schlüpfrigen Witz. Bei der Auswahl der Empfänger im Adressbuch verrutschte er in der Eile, und prompt gelangte der Jux an eine ihm unbekannte Mitarbeiterin in den USA. Sie fühlte sich sexuell belästigt und meldete den Vorfall. Nur wenige Stunden später war der Banker in Zürich von seinem Job suspendiert. Besonders in den USA sind Firmen misstrauisch geworden, weil sie für die Entgleisungen ihrer Mitarbeiter haftbar gemacht werden können. Den Ölkonzern Chevron beispielsweise kostete es vor einigen Jahren 2,2 Millionen Dollar, weil Mitarbeiterinnen E-Mails mit «25 Gründen, warum Bier besser ist als Frauen», als Beweise für sexuelle Belästigung vorgelegt hatten.

Wer E-Mails verschickt, hinterlässt immer eine breite Datenspur. In der Schweiz ist der Datenschutz immerhin strenger als in den USA. Während US-Firmen Daten, die über ihr Netz laufen, als ihr Eigentum betrachten, darf der Arbeitgeber hierzulande Privates nicht überprüfen. Daten dürfen nur kontrolliert werden, wenn es für die Sicherheit, die Wartung und zur Erfassung der Arbeitsleistung notwendig ist. EDV-Spezialisten wissen aber, dass vermehrt nicht nur ungefragt Stichproben vorgenommen werden, sondern auch mit Filtern E-Mails nach Reizwörtern durchforstet werden. Auch die Pflicht, den Arbeitnehmer bei einer Überprüfung vorgängig zu informieren, umgeht der Arbeitgeber meist elegant. Oft vergessen eifrige Mail-Schreiber, dass Informatikspezialisten mühelos Daten hervorholen können, die als gelöscht gelten. Auch technikkundige Kollegen schaffen es problemlos, Passwörter zu knacken, um Intimes zu erfahren. Computer gaukeln eine Sicherheit vor, die nicht existiert.

In der Hoffnung, das neue Medium werde sich nach der ersten Euphorie selbst regulieren, gehen Kommunikations- und EDV-Verantwortliche mit internen Weisungen zaghaft vor. Bei der Swisscom sollen E-Mails mit Anhang an maximal 50 Empfänger gesandt werden. Mitteilungen an alle Mitarbeiter sind der Unternehmensleitung vorbehalten. Ein gut ausgebautes Intranet, das Ereignisse im Unternehmen und in der Branche rasch meldet, soll dem Mail-Boom bei der Swisscom zudem die Spitze brechen: «So wechseln wir von der Bringschuld zum Holprinzip», sagt Sprecher Sepp Huber.

Mit der Einrichtung von «mission controls» - das heisst Schaltstellen der Kommunikation - wurde in der amerikanischen Wirtschaft bereits eine Institution geschaffen, um die Datenschleudern zu zähmen. Anstatt jeden Mitarbeiter selbst die Mitteilungen bearbeiten zu lassen, werden für Teams, Projektgruppen oder Abteilungen Verantwortliche ernannt, die sämtliche Nachrichten auf ihre Dringlichkeit prüfen und weiterbearbeiten. Noch allerdings versuchen die meisten unbeirrt, in der Nachrichtenflut obenaus zu schwingen - mit stets noch dringenderen, noch umfangreicheren, noch witzigeren E-Mails. Ob es etwas nützt? «Kommuniziere ausserhalb der Norm», rät Pitney-Bowes-Kommunikationschefin Meredith Fischer allen Zukurzgekommenen. Ein an den Stuhl des Kollegen gehefteter Notizzettel habe inzwischen die weitaus grössere Chance auf Beachtung als ein simples E-Mail.

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