So nahe schien der endgültige Bruch mit der Türkei noch nie: Schon am Wochenende sprachen sich Unions-Politiker für ein Ende der EU-Beitrittsverhandlungen aus. Der deutsche Regierungssprecher Steffen Seibert stellte am Montag klar, dass die Wiedereinführung der Todesstrafe eine EU-Mitgliedschaft ausschliesse. Und US-Aussenminister John Kerry warnte: «Es gibt ganz offensichtlich Anforderungen der Nato bei der Achtung der Demokratie.»

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Mehrere Politiker sprachen davon, dass sich EU und Nato an einer «Wegscheide» der Beziehungen mit der Türkei befänden. Doch so gross die Sorgen auch sind, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan den Putschversuch zu einem radikalen Ausbau seiner Herrschaft durchsetzen könnte: Weder in der deutschen Bundesregierung noch bei aussenpolitischen Experten erwartet man den grossen Bruch - zumindest noch nicht. Das liegt vor allem an den gemeinsamen Interessen.

EU-Beitritt steht gar nicht auf dem Programm

Die Warnung, dass die Türkei die rechtsstaatlichen Kriterien für einen EU-Beitritt nicht erfüllt, wird seit Jahren vorgebracht. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hat schon beim Amtsantritt als Kanzlerin 2005 verkündigt, dass sie eine türkische EU-Mitgliedschaft ablehne. Es wird nur weiterverhandelt, weil die EU den Beitrittsprozess in den letzten Tagen der damaligen rot-grünen Regierung eröffnet und Merkel den Status Quo akzeptiert hatte.

Daran ändert auch die Öffnung weiterer Verhandlungskapitel nichts. Abgeschlossen wurde bisher kein einziges Thema. «Deshalb ist die CSU-Warnung vor dem Beitritt nicht wirklich realistisch, weil das ohnehin nicht auf der Tagesordnung steht», heisst es in Regierungskreisen. Ein weiterer Grund: EU-Diplomaten bezweifeln seit Monaten, dass Erdogan jemals bereit wäre, den für einen Beitritt nötigen Souveränitätsverzicht hinzunehmen.

Mehr innenpolitische Spannungen

Also könnte man einen Schlussstrich unter die Beitrittsgespräche ziehen - was aber nach Ansicht von EU-Diplomaten auch Erdogan nicht will. Denn es würde die innenpolitischen Spannungen zwischen moderaten, Europa zugewandten Kräften und seiner islamischen AKP-Partei erhöhen.

Deshalb registrierte man auch in Berlin aufmerksam, dass die türkische Seite am Dienstag nach den klaren EU-Warnungen vor der Wiedereinführung der Todesstrafe verhaltener klang als noch am Montag. Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim versprach, man werde sich nicht an den Putschisten rächen, sondern sich bei der Strafverfolgung an die Gesetze halten.

Entkoppelung des EU-Flüchtlingsabkommens

Auch am Flüchtlingsabkommen werden EU und die Türkei wohl festhalten. In der Bundesregierung wurde schon am Wochenende der Vermutung widersprochen, dass die Nach-Putsch-Phase Einfluss auf die Zusammenarbeit haben könnte. Denn das Abkommen sei auch im türkischen Interesse. Die Türkei brauche das Geld für die Versorgung der Flüchtlinge. «Und zwei Milliarden der zugesagten drei Milliarden Euro sollen bis Ende September für Projekte in der Türkei ausgezahlt werden», sagt auch Marc Pierini vom Carnegie-Forschungsinstitut.

Daneben lockt immer noch die Visafreiheit für Türken bei Reisen in die EU, die Erdogan nicht leichtfertig aufgeben dürfte. Allerdings dürfte sich die Visa-Liberalisierung wegen seines innenpolitischen Kurses weiter verzögern, weil das Europäische Parlament zuvor zustimmen müsste - dies aber bei zu scharfen Einschränkungen der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei kaum tun dürfte.

Türkei hat Interesse an Nato

Am überraschendsten war am Montag, dass US-Aussenminister Kerry eine Verbindung zwischen der innenpolitischen Entwicklung und der Nato-Mitgliedschaft herstellte. Auch die Bundesregierung verweist immer wieder darauf, dass die Nato nicht nur eine Verteidigungs-, sondern auch eine Wertegemeinschaft sei. «Eine Entfremdung zwischen den Nato-Mitgliedsstaaten ist nicht ausgeschlossen», sagte SPD-Aussenpolitiker Rolf Mützenich deshalb. Andererseits aber hat die Allianz bereits früher ein Auge bei Militärputschen in den Mitgliedstaaten Griechenland und Türkei zugedrückt.

Zwar ist der Kalte Krieg vorbei, aber das Interesse an einem starken Nato-Mitglied an der Südostflanke Europas ist enorm gross - zumal das Land über den Bosporus auch den für Russland wichtigen Zugang vom Mittelmeer zum Schwarzen Meer kontrolliert. Die USA seien ernsthaft erschrocken, als die Türken am Wochenende für 24 Stunden auch den Stützpunkt Incirlik blockiert habe, sagt Carnegie-Experte Marc Pierini. Denn dort sind nicht nur Bundeswehrsoldaten stationiert. Seinen Angaben zufolge lagern dort auch 50 US-Atomsprengköpfe. In Malatya sei zudem ein Radar des Nato-Raketenabwehrsystems aufgebaut worden. Das macht es aus Nato-Sicht wenig wahrscheinlich, dass man die Eskalation suchen wird: Man braucht die Türkei.

«Aber auch Erdogan hat immer grossen Wert auf die Beziehungen zur Nato gelegt, trotz antiamerikanischer Stimmungen, die er gelegentlich schürt», heißt es in der Bundesregierung. «Wir dürfen nicht verkennen, dass auch die Türkei auf die enge Zusammenarbeit mit ihren Partnern angewiesen bleibt», ist auch SPD-Fraktionsvize Mützenich überzeugt. «Im regionalpolitischen Umfeld gibt es derzeit für die Türkei keine anderen, belastbaren Alternativen», sagte er zu Reuters.

(reuters/ccr)