Dienstagmorgen 10 Uhr im Hauptquartier von Microsoft in Seattle. Der schlichte, in grau gehaltene Konferenzraum gleicht einem fliegenden Klassenzimmer. Der Softwareriese hat 20 seiner rund 500 Werksstudenten für einen Tag zusammengetrommelt, um zu philosophieren: über ihre Träume, ihre beruflichen Vorstellungen, ihre privaten Ziele. Eine Mitarbeiterin aus der Personalabteilung, gerade selbst erst vom College zu Microsoft gestossen, feuert die erste Frage in den Raum: «Wie stellt ihr euch euren Traumjob vor?» Die Anworten bringen zunächst das Erwartete: nette Kollegen, ein gutes Gleichgewicht zwischen Arbeit und Privatleben, ein prima Betriebsklima. «Flexible Arbeitszeit», sagt plötzlich einer. «Telearbeit», fügt ein anderer hinzu. «Kostenlose Computer», sagt ein Dritter. Die Diskussion wird lebendiger. Die Fantasien auch. Teamwork und Verantwortung stehen jetzt ganz oben auf dem Wunschzettel oder die Möglichkeit, Visionen umzusetzen. Ein 20-jähriger Student platzt heraus: «Ich will meine kindliche Vorstellung behalten, dass ich die Welt verändern kann.»

Tammy Savage macht sich Notizen. Die unscheinbare junge Frau am Ende des Tischs ist Chefin der Next Generation Consumer Strategy Division von Microsoft. Seit einem knappen Jahr fühlen Savage und ihre 21 Mitarbeiter den «Millennials» den Puls, jener diffusen, technophilen, zuweilen rätselhaften, aber stets konsumfreudigen Gruppe der nach 1980 Geborenen. «Wir sind Jäger und Sammler», erklärt die 30-Jährige, «wo immer wir gehen und stehen, beobachten wir Dinge und Menschen um uns herum und suchen nach Phänomenen, die Zeichen für Veränderungen im Wertesystem der Gesellschaft, für Wünsche und Sehnsüchte der Jugendlichen sind.» Savage entspricht dabei ganz und gar nicht dem Bild des typischen Trendforschers. Mit bravem Pagenschnitt und dem weissen T-Shirt wirkt Savage eher wie eine Businessfrau, welche die Suche nach dem Verbraucher von morgen strategisch plant und organisiert: Coole Parties auf dem Microsoft-Campus, lockere Frühstücksmeetings in den In-Cafés von Seattle, stundenlanges Stöbern in den gerade angesagten Chat-Rooms im Internet sind der Mix, aus denen Savage ihre Erkenntnisse destilliert. Typisch allerdings, dass sie ohne Nachdenken begründen kann, warum sie nicht dem Bild vom Punker als Trendscout entspricht. «Schrille Abgrenzung von der Norm», sagt sie, «das war die Generation vor uns. Meine Generation», fügt sie mit einem Anflug von Selbstironie hinzu, «ist eher an der Veränderung der Welt als an oberflächlicher Provokation interessiert.»

Für Aussenstehende mag Savages Trendgeschnüffel im Auftrag des Gates-Imperiums skurril anmuten. In Wahrheit hat ihr Job einen knallharten wirtschaftlichen Hintergrund. Schon im Jahr 2003 werden Amerikas Teenager weit über eine Milliarde Dollar pro Jahr für Softwareprodukte ausgeben, schätzt das New-Yorker Marktforschungsinstitut Jupiter Communications. Will Microsoft am Ball bleiben, muss der Konzern wissen, was bei den Kids ankommt. Genau da aber hat das Unternehmen ein spürbares Defizit. Die Tage, da Microsoft als jugendlich galt – Bill Gates war bei der Firmengründung 19 Jahre alt –, sind lange vorbei. Unter Teenagern wird Microsoft heute eher als altmodischer, machtbesessener Softwaremonolith gehandelt. Hip und cool sind für Amerikas technophile Kids die unkonventionellen Start-ups aus dem Silicon Valley.

Doch nicht nur für Microsoft ist das Verständnis der zukünftigen Verbrauchergeneration eine zentrale Herausforderung. Nimmt man den Gesamtmarkt für Waren und Dienstleistungen, haben Jugendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren laut dem Forschungsinstitut Teen Research Unlimited allein in den USA im vergangenen Jahr 150 Milliarden Dollar ausgegeben – Tendenz rasant steigend. «Wenn ein Unternehmen diese Gruppe ignoriert», sagt Neil Howe, Autor des gerade in den USA erschienenen Buchs «Millennials Rising. The Next GreatGeneration», «spielt es mit seiner Zukunftsfähigkeit» (siehe Interview «Erfolgszwang und Konsumfreude» auf Seite 105).

Tatsächlich aber entgleitet die Jugend immer wieder dem Zugriff von Marketinganstrengungen: Erfolg oder Nichterfolg bleiben unabsehbar, manche Tops und Flops rätselhaft. Jugend zeigt sich als eigenwilliger Kosmos, der sich im Zeitraffer entwickelt. Trends, Stile und Moden entstehen aus dem Nichts und wachsen scheinbar willkürlich. Gleichzeitig ist Jugend ein Impulsgeber, an dem kein Unternehmen vorbeikommt. Deshalb bedienen sich viele US-Konzerne professioneller Trendforscher. Es sind Spezialisten, die ihre wirtschaftlichen Szenarien zu teuren Tagessätzen entwerfen und als Geheimstudien an die Wirtschaft weitergeben. Sechs- oder siebenstellige Summen gehen über den Ladentisch, wenn sich Konzerne wie Coca-Cola, American Express oder Philip Morris die Dienste der Zukunftsforscher sichern. Berater wie die amerikanische Trendforscherin Faith Popcorn («Popcorn Report») schätzen künftige Lebensstile und Konsummuster ein und hantieren dabei locker mit Gleichungen mit zahlreichen Unbekannten. Wenn sie Katastrophen wittern, dann meist den Niedergang eines bestimmten Konsumartikels und die Hinwendung der Käufer zu einem Konkurrenzprodukt. Gleichwohl sind sie für die Marketingabteilungen der Wirtschaft von allergrösster Bedeutung, denn, so konstatiert Managementberater Tom Peters: «Aus Trends lassen sich zielgruppengerechte Produkte schneidern.» Beispiel Adidas: Der Sportartikelhersteller sprang rechtzeitig auf den Skaterzug auf und versorgte die immer populärer werdenden Skater mit den grünen Schuhen. Die Beobachtungen der Trendscouts auf der Strasse wurden konsequent umgesetzt und machten sich prompt bezahlt.

Natürlich ist die Zukunftsforschung im Dienste der Wirtschaft keine Erfindung unserer Tage. Entstanden ist die Disziplin der systematischen Futurologie vor etwa 50 Jahren in der Rand Corporation, einem kalifornischen Think-Tank des Kalten Krieges. Es begann holprig. 1963 prognostizierte Rand: Die Kernfusion werde 1985 nutzbar sein, 1988 werde es verlässliche Wettervorhersagen geben. Inzwischen hat Rand präziser arbeitende Forschungsmethoden entwickelt. Die Corporation fragt unter Tausenden von Wissenschaftlern in aller Welt danach, was Disziplinen wie Biologie, Physik, Chemie, Informatik und so weiter in den nächsten 30 Jahren leisten können. Die Ergebnisse veröffentlicht Rand unter dem beziehungsreichen Namen «Delphi Report».

Spätestens in den Achtzigerjahren erfuhr die Trendforschung eine zunehmende Kommerzialisierung. Faith Popcorn begann, Hunderte von Firmen in Sachen Zukunft zu beraten. Kodak etwa entwickelte eine Wegwerfkamera erst, nachdem Popcorn den Bedarf bejaht hatte. Vom Sitz ihrer Firma BrainReserve in Manhattan aus interviewen ihre Mitarbeiter heute jedes Jahr 4000 Konsumentinnen und Konsumenten und 3500 Experten. Dazu werten sie Medien aus – von «Good Housekeeping» übers Schwulenmagazin «Out» bis zu Onlinediensten. Ihr erstes Buch, der «Popcorn Report», schilderte 1991 zehn wichtige Gesellschaftstrends und war nicht fürs breite Volk gedacht, sondern für Manager, die Chancen ihrer Firma im Wettbewerb mittels Trendwissen zu erhöhen versuchten. In ihrem neuesten Buch, «Clicking», hat Popcorn den wichtigsten Trend für Unternehmen im neuen Millennium identifiziert: «Weiblich denken.» Ganzheitliches werde wichtiger, zielorientiertes Handeln verliere an Bedeutung, weil mehr Frauen in der Wirtschaft tätig seien. Gleichzeitig würden Grossunternehmen, die keine moralische Kraft verkörpern oder nicht wirklich nützliche Dienstleistungen anbieten, in Frage gestellt. Popcorns gleichwohl optimistischer Tenor: Die Zukunft wird immer besser sein als die Gegenwart.

Apokalypse ist auch nicht die Sache von John Naisbitt, der über die Konsumwelt hinaus gesellschaftliche Veränderungen aufspürt. Der Verfasser des Bestsellers «Megatrends» und seit 1982 Herausgeber des in Washington erscheinenden Infobriefs «Trendletter» verfolgt mit seinem Redaktionsteam Entwicklungen in 800 Kategorien, von Kybernetik bis Kunst. Er sagte das Ende des Kalten Krieges voraus, den wirtschaftlichen Aufschwung Südostasiens und die Ausgliederung bestimmter Tätigkeiten aus Grossunternehmen.

Die Kalifornierin Dee Dee Gordon ist mit Faith Popcorn die derzeit bekannteste Trendforscherin Amerikas. Mit 18 Jahren brach sie die Schule ab und eröffnete einen Lifestyle-Store. Der Sportschuhhersteller Converse liess sich öfter in ihrem Laden blicken und wollte Informationen über die Wünsche ihrer jungen Kunden. Dee Dee wurde zur Freelancerin für Converse und versorgte das Unternehmen mit Trendinformationen. Bald machte sie ihren Nebenjob zum Beruf und wurde Trendforscherin. Heute beschäftigt Gordon rund 40 Personen und studiert das Konsumverhalten von 2400 ausgewählten US-Jugendlichen. Viermal jährlich werden die so gesammelten Informationen als «L-Report» an Unternehmen verkauft. Gordons These: Nur gerade drei Prozent aller Jugendlichen sind Trenderfinder, die bewusst oder unbewusst einen neuen Gag entwickeln. Die grosse Kunst: Trenderfinder aufzuspüren, wegweisende Informationen zu sammeln, um sie dann teuer an interessierte Unternehmen zu verkaufen.

Die New-Yorkerin Marian Salzman ist als Chefin der Brand Futures Group von Young & Rubicam die wohl renommierteste Trendforscherin der Werbebranche. Wenn Salzman und ihre Mitarbeiter Konzepte für Produktneuheiten wie spirituelle Putzmittel, Ökoschokolade oder Anti-Depressions-Müsli in ihren Agenturköfferchen herumtragen, versetzen sie ganze Märkte in helle Aufregung. Hunderte von Mitarbeitern, dazu Volontäre und überall in der Welt Korrespondenten sperren Augen und Ohren auf, suchen Produkte und gesellschaftliche Entwicklungen. Manche ihrer Vorhersagen, etwa dass wir in unserer Lebensarbeitszeit künftig viele unterschiedliche Jobs haben werden, sind inzwischen längst Realität geworden. Auch die Bedeutung des Internets wird heute kaum mehr unterschätzt. Andere Ansätze waren gewagter, so etwa, als Salzmann den «translucent trend» prophezeite, jene Designbewegung hin zur Durchsichtigkeit. Der iMac von Apple, die digitale Kamera Nick Click von Mattel oder das leuchtend blaue, gläserne Millennium Phone von Imagitel haben ihr längst Recht gegeben. Als sie im vergangenen Jahr Blau zur Farbe des Jahres 2000 erklärte, belächelten sie viele. Kurze Zeit später brach eine Flut von blauen Produkten über die amerikanischen Verbraucher herein.

Auch Softwareriese Microsoft bediente sich in der Vergangenheit der Expertise von Trendscouts. Tammy Savage indes erkannte schnell, dass die Vorhersagen der Auguren letztlich zu keinen besseren Produkten führten. Was nutzt es der Entwicklungsabteilung von Microsoft, wenn schlaue Köpfe etwa Individualisierung, Spiritualisierung, Digitalisierung und Globalisierung als Megatrends des 21. Jahrhunderts identifizieren? «Es muss darum gehen, die Erkenntnisse eng mit den Entwicklungsabteilungen zu verzahnen», dachte sich Savage. Im vergangenen November schlug die grosse Stunde der ehemaligen Marketingfrau, die seit 1993 bei Microsoft beschäftigt ist. Tammy Savage schlug ihrem Chef Bob Muglia die Gründung einer Abteilung vor, die nur eine Aufgabe hat: das Studium der Millennials beziehungsweise der Net-Generation, laut Savage der mit Abstand anspruchsvollsten Zielgruppe der Geschichte. Ein Luxus, den selbst für ein Unternehmen mit einer Kriegkasse von 40 Milliarden Dollar nicht alltäglich erschien. Doch Muglia war begeistert: «Die jungen Leute nutzen Technologie heute völlig anders, als wir es gewohnt sind. Und um ehrlich zu sein: Zu denen hatte keiner von uns wirklich einen Draht.»

Im Prinzip arbeitet die Next Generation Consumer Strategy Division von Microsoft wie ein konventioneller Trendforscher. Savage und ihre Mitarbeiter beobachten, sammeln und dokumentieren gesellschaftliche Phänomene. Monitoring heisst das im Jargon der Zukunftsspäher. Ihm folgt das Scanning, die Bewertung der Beute: Was ist wichtig, was sind wirklich die Anzeichen eines Trends? Beispiel: das besonders von europäischen und japanischen Kids leidenschaftlich genutzte Instant Messaging, die Versendung kurzer Textbotschaften per Handy und mobile Endgeräte. «Das sind neue Nutzungsgewohnheiten, auf die wir reagieren müssen», sagt Savage. «Hier werden zukünftige Technologien nicht von Ingenieuren im Elfenbeinturm erfunden, sondern von der Art und Weise geprägt, wie Kids sie heute schon im Ansatz nutzen.»

In einem vierten Schritt übersetzen Savage und ihre Kollegen ihre Erkenntnisse über neue Trends in Empfehlungen an die verschiedensten Abteilungen im Unternehmen, die wissen wollen, welche Produkte in drei, fünf oder sieben Jahren bei den Verbrauchern gefragt sein könnten – und welche Trends vielleicht schon wieder out sind. Darüber hinaus ergeben sich – als Abfallprodukt sozusagen – nützliche Einsichten: etwa dass millionenschwere Werbekampagnen für neueste Programmversionen unter Teens hinausgeworfenes Geld sind. Warum? Weil diese mit dem Internet gross geworden sind, wo Software-Updates gewöhnlich im Wochentakt zum Download bereitliegen.

Auf dem berühmten Microsoft-Campus beruft die Next Generation Consumer Strategy Division regelmässige Treffen ein, an denen sie ihre Erkenntnisse vorstellt und die Ingenieure mit typischen Vertretern der Millennials zusammenbringt. Bis heute ha-ben Savage und ihr Team schon über ein Dutzend solcher Meetings organisiert, etwa mit der Mobile Media Group, die Software für drahtlose Endgeräte entwickelt, oder der Business Productivity Group, die für das Programmpaket Microsoft Office verantwortlich ist.

Noch ist nicht abzusehen, wie gross der Einfluss von Savage und ihrem Team bei Microsoft sein wird. Erste bescheidene Erfolgserlebnisse konnten die hauseigenen Trendspäher schon feiern, etwa als Microsoft – ähnlich wie schon AOL – die «Emoticons» in ihr Instant-Messaging-Programm aufnahm, jene Tastatur-Hieroglyphen, die ein bestimmtes Gefühl ausdrücken. Oder als die Pocket PC Group ankündigte, ihre Produkte in Zukunft in fünf verschiedenen Farben herauszubringen – ein Marketingcoup, auf den Computerhersteller Apple freilich auch längst das Copyright beansprucht. «Natürlich ist aller Anfang schwer», sagt Savage, «aber zunächst muss sich das Denken in den Köpfen der Mitarbeiter ändern.»

In den kommenden Monaten will Savage ein virtuelles Team von Microsoft-Mitarbeitern und externen Beratern ins Leben rufen, das darüber nachbrüten soll, wie Microsoft und ihre Produkte für die Millennials beziehungsweise die Net-Generation attraktiver werden kann. Als Vorbild dient der Sender MTV, der es seit Jahren immer schafft, sich für nachwachsende Generationen selbst neu zu erfinden. Dass der grösste Softwarekonzern der Welt kein kunterbunter Musikkanal ist, weiss auch Tammy Savage. Dennoch bleibt sie optimistisch. «Wir werden die Brücke zu den Verbrauchern von morgen schlagen – und dabei eine Kulturrevolution im eigenen Haus entfachen.»
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