Was in meiner Gymizeit und bis gegen 30 nebst Musik und Sport meine dritte grosse Leidenschaft war – das Lesen – erlitt mit meinem Berufseinstieg und dem Familienleben einen jähen Absturz. Zurückgewonnen habe ich mehr Literatur seit einigen Jahren mit der Teilnahme in unserem Quartier-Leseclub.

Kazuo Ishiguro? «Was vom Tage übrig blieb»? Booker Prize und Nobelpreis? Das ging an mir vorbei. So nahm ich die Lektüre unbelastet vom grossen Ruhm von Autor und Werk in Angriff. Der Einstieg erinnerte mich an Sten Nadolnys «Die Entdeckung der Langsamkeit». John Franklin-gleich scheint der Butler Stevens, Ishiguros Hauptfigur, aus der Zeit gefallen; nicht erst seit sein Dienst- und Brotherr gestorben, und Darlington Hall an einen reichen Amerikaner verkauft worden ist.

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Berufsethos steht lebenslänglich über allem und verdrängt alles: Emotionen beim Tod nahestehender Menschen, Mitgefühl für das ihm zudienende Personal, gesunden Menschenverstand, kritische Distanz gegenüber «seinem» nationalistisch und auf Appeasement eingestellten Lord Darlington. Ja, selbst Ungerechtigkeiten ihm persönlich gegenüber schluckt er, ohne zu würgen, mit einem verqueren Begriff von Würde und falschem Berufsstolz. Dienst nach Vorschrift. Festhalten am Bewährten, vermeintlich Unveränderlichen.

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An dieser Nahtstelle verbindet Ishiguro auf subtile Art persönliches Schicksal mit Weltgeschehen: Der Butler Stevens ist stets in Klingelnähe, wo Geschichte geschrieben wird. Begegnet anlässlich von Empfängen und geheimen Konferenzen einflussreichsten Personen, wie Halifax, Eden und von Ribbentrop – und Churchill. Er kann nicht erkennen oder gar verstehen, warum und wie die Weltordnung aus den Angeln gehoben wird, und wie sich Grossbritannien mit einer Politik des «Noli me tangere» selber in eine gefährliche Sackgasse manövriert.

Eine mehrtätige, abenteuerliche Reise in den Westen Englands, seine erste seit Jahrzehnten in Darlington Hall, macht Stevens deutlich, wie sehr er der Zeit und den Lebensumständen entfremdet ist. Er hat den Anschluss an die Gesellschaft verloren. Und das eigentliche Ziel der Reise nach Cornwall, seine ehemalige engste Mitarbeiterin ins Schloss zurückzuholen, verfehlt er.

Längst hat er es verpasst, seine für sie gehegten Gefühle auszudrücken. Seine Träume zerschlagen sich. Immerhin gewinnt er die Erkenntnis, dass er das, was von seinem Tage übrig blieb, etwas leichter nehmen sollte.


Pius Zängerle ist Direktor des Verbands Curafutura.