Da bimmelte die Glocke zum «Chriesisturm». Normalerweise rennen dann traditionsbewusste Zuger mit Holzleitern und Tragkörben los und beginnen mit der Kirschenernte. Doch auch in diesem Juni blieben die engen Altstadtgassen Corona-bedingt leer. Dafür füllen sich an schönen Tagen wieder die Terrassen am See, man gönnt sich ein Stück der berühmten Kirschtorte oder, wer es hochprozentig mag, ein Glas Zuger Kirsch. Die IG Chriesi startete gar eine Solidaritätsaktion für die heimischen Chriesibauern, Kirschbrenner und Konditoren. Diese litten zuletzt erheblich wegen der geschlossenen Gastronomie.

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Wer nun für 40 Franken ein Chriesiprodukt kauft, bekommt 10 Franken zurückerstattet. Doch auch die Stadt selbst hat das heimische Gewerbe angekurbelt. Sie schenkte im vergangenen Jahr jedem Einwohner einen 100-Franken-Shopping-Gutschein. Und sie verabschiedete einen Corona-Fonds in Höhe von zehn Millionen Franken – für Organisationen etwa aus dem sozialen und kulturellen Bereich, die von Bund und Kanton keine Hilfsgelder erhalten.

In Zug, so scheint es, schaut man noch zueinander. Die Stadt schafft es erneut auf den zweiten Platz des Städte-Rankings. Das zeigen die Berechnungen der Immobilienexperten von Wüest Partner, die für BILANZ anhand von 115 Indikatoren die Lebensqualität der vom Bundesamt für Statistik (BFS) definierten 162 Schweizer Städten gemessen haben. Dabei passt Zug mit der bürgerlichen Regierung und den lediglich 31 000 Einwohnern nicht so recht in die aktuelle Spitzengruppe, bestehend aus den linkslastigen Grossstädten Zürich, Bern, Winterthur und Basel.

Die Methode für das Städte-Ranking

Die Immobilienexperten von Wüest Partner haben die Lebensqualität in den 162 Schweizer Städten anhand von elf Indikatorsets berechnet, die sich aus 115 Einzelvariablen zusammensetzen. Die elf Indikatoren sind: 1. Arbeitsmarkt, 2. Bevölkerung und Wohnen, 3. Bildung und Erziehung, 4. Kultur und Freizeit, 5. Erholung, 6. Einkaufsinfrastruktur, 7. Gesundheit und Sicherheit, 8. Soziales, 9. Mobilität, 10. Steuerattraktivität, Kaufkraft und Krankenkassenprämien sowie 11. Besonderheiten der Stadt. Beim Indikator Bevölkerung und Wohnen etwa fliessen unter anderem die Entwicklung der Stadtbevölkerung, die Anzahl neuer Wohnungen und die Preisdynamik für den Eigenheimkauf ein.

«Es sind die rekordtiefen Steuern», schnöden die Kritiker. Es gehöre einiges mehr dazu als eine attraktive Besteuerung, entgegnet Stadtpräsident Karl Kobelt. «Wir haben ein lebendiges gesellschaftliches Leben, sind begünstigt durch eine schöne Lage, und Menschen jeglicher Herkunft fühlen sich wohl hier», sagt der FDP-Mann. So gibt es 16 Quartiergemeinschaften, die sich vor Ort engagieren und Veranstaltungen organisieren: vom Märlisunntig übers Seefest bis zum Fest der Nationen.


Ein wichtiges Asset der Chriesistadt sind aber zweifellos die vielen gut bezahlten Jobs. Im Grunde ist Zug ja eine winzige Global City. Hier die ländlich geprägten Traditionen und die malerische Altstadt, dort die hochschiessenden Neubauten und Konzerne wie Siemens, Johnson  & Johnson oder Partners Group und Glencore im benachbarten Baar. Hier die idyllische Alpenlandschaft, dort das Herz des Crypto Valley mit all den Blockchain-Firmen, die nichts Geringeres anpeilen als die Revolution der Finanzwelt.

Menschen am Fischen am Zugersee

ZUGPLATZ 2

Mediterranes Sommerfeeling am Rand der Alpen: Keine andere kleinere Stadt hat eine solche Lebensqualität.

Quelle: Samir Benkhachan für BILANZ

International vernetzte Expats treffen auf alteingesessene Familien. Gegensätze, die in Zug offenbar gut zusammengehen. «Die vielen Unternehmen passen sich sehr gut ins Stadtgefüge ein», bekräftigt Kobelt.

Vorteil von Zug? Die Nähe zu Zürich

Der wohl entscheidendste Standortvorteil, und da pflichtet auch Kobelt bei, ist indes die Nähe zu Zürich. Mit der schnellsten Bahnverbindung ist man in 21  Minuten am Hauptbahnhof, mit dem Auto sind es je nach Verkehr 30  Minuten. Doch auch die Nähe zu Luzern sei ein Pluspunkt, sagt Kobelt. Mit der Greater Zurich Area und der Zentralschweiz liegt die Stadt inmitten von zwei prosperierenden Wirtschaftsräumen. Zugs unbestreitbarer Charme reicht aber nicht für den obersten Podestplatz.

An Zürich kommt auch dieses Jahr keine Stadt vorbei. Zum elften Mal in Folge landet die Metropole auf dem ersten Platz. Nirgends ist die Fülle an Unternehmen und Bildungsstätten grösser, keine Stadt bietet mehr in Sachen Kultur, Freizeit, Shopping und Gastronomie, keine Stadt hat im Fussball und im Eishockey, wenn man den EHC Kloten dazuzählt, gleich zwei Teams mit der Ambition, in den höchsten Ligen zu spielen. Es gibt einen See, zwei grosse Flüsse und gleich mehrere kleine Berge für Wanderungen und Spaziergänge.

Die Lebensqualität ist hier Weltklasse. Selbst internationale Rankings bestätigen das immer wieder. Dass Zürich in absehbarer Zeit vom Thron gestossen wird, ist unwahrscheinlich. Der grosse Gewinner 2021 ist aber nicht unbedingt die Stadt selbst, sondern vielmehr der Grossraum Zürich. So halten sich von den insgesamt 162 ausgewerteten Städten eher wenig mondäne Namen wie Uster, Kloten und Wallisellen in den Top 15. Und zu den Aufsteigern im vorderen Bereich des Rankings gehören dieses Jahr etwa Bülach (plus einen Rang) und Dübendorf, Opfikon, Volketswil und Zollikon (je plus zwei Ränge). Sie alle dominieren die vorderen Plätze.

Berner Altstadt

BERNPLATZ 3

Wer abends mal durch die vielen Gassen der Altstadt gezogen ist, weiss um den unvergleichlichen Charme der Bundesstadt.

Quelle: Céline Müller für BILANZ

Dübendorf wächst immer mehr

«Die Agglomerationsstädte rund um Zürich gewinnen an Attraktivität als eigene Zentren», sagt Patrick Schnorf von Wüest Partner. «Sie sind nahe an den Arbeitsplätzen, bieten eine gute Infrastruktur und haben breite Freizeitangebote.» Zudem profitieren sie von der Nähe zum Flughafen und zum Hauptbahnhof. Dass sie jüngst derart zulegen, lässt sich laut Schnorf noch nicht unbedingt an einem Corona-Effekt festmachen. Er sieht eher ein Ausweichen der Nachfrage. «Viele Personen würden zwar gerne in der Stadt Zürich wohnen – Kloten oder Dübendorf passen für sie aber auch.»

Besonders Dübendorf, das schon in den letzten zwei Jahren je einen Rang gutgemacht hat, ist praktisch zu einem Aussenquartier von Zürich geworden. In den letzten zehn Jahren ist die Einwohnerzahl um fast 20 Prozent auf knapp 30 000 angestiegen – um doppelt so viel wie der landesweite Durchschnitt. In den nächsten Jahren dürfte Dübendorf noch enger mit Zürich zusammenwachsen. Geplant ist mitunter eine Gondelbahn, die vom Bahnhof Stettbach hinauf zum Zoo Zürich führen soll. Die Stadt Dübendorf wehrt sich jedoch gegen die kantonalen Pläne, sie befürchtet ein höheres Verkehrsaufkommen.

Basel

BASELPLATZ 5

An sonnigen Tagen kann es in Basel ganz schön heiss werden. Entspannen lässt es sich dann an vielen Plätzen am Rhein.

Quelle: Elias Bötticher für BILANZ

Illustre Luxussiedlungen in Schlieren

Eine ähnliche Verdichtung erlebt derzeit Schlieren, wo noch bis Mitte 2022 die Limmattalbahn gebaut wird und wo sich immer mehr Start-ups ansiedeln. Mit einer Zunahme der Einwohnerzahl um 5,8 Prozent auf knapp 20 000 ist letztes Jahr keine andere Stadt in der Deutschschweiz derart gewachsen. Das Bild der hässlichen und verstopften Vororte mit Einkaufszentren, vielen Parkplätzen und gesichtslosen Wohnblöcken – es trifft immer weniger zu.Und schon gar nicht für den grössten Aufsteiger in der Agglomeration Zürich: Küsnacht. Die an der Goldküste gelegene Luxussiedlung hat sieben Plätze gutgemacht. Zwar freut sich Gemeindepräsident Markus Ernst darüber.

Genf Lakeside

GENFPLATZ 7

Genf ist die Spitzenreiterin der westschweizer Städte. Besonders die Agglomeration hat nun kräftig zugelegt.

Quelle: Alicia Dubuis für BILANZ

Er betont aber auch, dass man einfach die Grundstückspreise vergleichen könnte. Das sage ebenfalls einiges über die Beliebtheit aus. Wer in Küsnacht bauen will, muss inzwischen teils absurd hohe Quadratmeterpreise in Kauf nehmen. «Für Land mit Seeanstoss bewegt man sich im fünfstelligen Bereich», sagt Ernst. Und unter 3000 Franken finde man kaum noch etwas. Die Sonnenhänge am Zürichsee sind gefragt. Unter den 14 800 Einwohnern finden sich folglich einige illustre Persönlichkeiten.

Tina Turner wohnt hier, aber auch Nationalbank-Chef Thomas Jordan, Zurich-Chef Mario Greco und «Dolder»-Besitzer Urs Schwarzenbach sowie zahlreiche Unternehmer wie Philippe Gaydoul, Walter Frey oder Egon Zehnder. Doch für die Durchmischung ist es laut Markus Ernst nicht gut, wenn es in der Gemeinde für den Mittelstand zu eng wird. «Wir möchten, dass sich auch die Küsnachterinnen und Küsnachter, die hier aufgewachsen sind, eine Wohnung leisten können», betont er.

 

Das seien auch häufig diejenigen, die sich in Milizämtern wie der Politik und der Feuerwehr oder in Vereinen engagieren. Die Gemeinde fördert deshalb den Bau von günstigen Wohnungen. Und zwischen 10 und 15 Prozent des Wohnraums sind laut Ernst in genossenschaftlichem Besitz. Sie sollen auch künftig ihren Platz haben. Küsnacht verbindet den ländlichen Flair mit Urbanität. «Man sagt sich hier Grüezi, hat kurze Wege bei den Behörden und ist schnell im Wald.» Aber eben auch schnell in der Stadt: In nur 13  Minuten ist man in Zürich am Bellevue.

Grösstes Riesenrad ist in Küsnacht

Punkten kann Küsnacht auch mit eigenen Angeboten. Für die Bildung gibt es eine eigene Kantonsschule sowie drei Private Schools und für die Freizeit eine Kunsteisbahn im Winter sowie zwei Strandbäder im Sommer. Kürzlich liess man direkt vor dem Gemeindehaus das grösste Riesenrad der Schweiz aufbauen. Den Platz stellte die Gemeinde gebührenfrei zur Verfügung. Sogar von der anderen Seeseite seien Leute gekommen, sagt Ernst. Und wenn sie ihn fragten, wieso die Gemeinde ein 45  Meter hohes Riesenrad aufstellen lasse, antwortete er: Einfach so – weil es schön ist. Und weil es eine Corona-konforme Abwechslung bot.Dass die Vororte zulegen, zeigt sich auch bei anderen Grossstädten.

So machte in der Umgebung Genfs etwa Meyrin acht Plätze gut, Chêne-Bougeries im Südwesten und Lancy im Osten je sechs, Plan-les-Ouates vier und Onex zwei. Der grösste Sprung gelang den Lausanner Vororten Pully und Bussigny-près-Lausanne – sie stiegen um je elf Ränge auf Platz 61 und 117. Zwar legten die Westschweizer Agglostädte stärker zu als jene im Raum Zürich, allerdings rangieren sie bis auf Lancy (Platz 25) deutlich weiter hinten. In puncto Lebensqualität können sie noch nicht mithalten. Dasselbe gilt für die Vororte von Bern und Basel, wo etwa Köniz und Ostermundigen sowie am Rheinknie Pratteln, Binningen und Allschwil vorrückten.

Lebensqualität und Wohnkosten

Schweizer Städte: Lebensqualität und Wohnkosten

Quelle: Quelle: Wüest Partner

Allerdings: Nicht alle Vororte können punkten. Auf der Verliererseite steht etwa Regensdorf. Die Stadt im Zürcher Unterland fällt um satte elf Punkte auf Platz 48. «Das kulturelle Angebot fällt aktuell noch etwas spärlich aus», sagt Schnorf. Regensdorf, das in den letzten Jahrzehnten besonders mit Gewerbeflächen gewachsen sei, möchte sich vermehrt zum Wohnort entwickeln.

Doch das gehe eben nicht von heute auf morgen. Mit minus neun Rängen erleidet auch die jurassische Hauptstadt Delémont einen herben Rückschlag. Auf den hintersten Plätzen verharren Möhlin, Spiez und Steffisburg. Dafür gibt es in der an das pittoreske Thun angrenzenden Stadt mit rund 16 000 Einwohnern viele erschwingliche Mietwohnungen.

Teure Lebensqualität in Zürich

Auch die Preise für eine Eigentumswohnung sind in Steffisburg mit rund 7200 Franken pro Quadratmeter nur halb so hoch wie etwa in Zürich. Innerhalb des Grossraums Zürich sind die Preise mit rund 9400 Franken pro Quadratmeter in Schlieren am tiefsten. Schon in Dübendorf muss man mit 1000 Franken mehr rechnen. Die Kehrseite hoher Lebensqualität sind nun mal hohe Preise. Während etwa die Wohnungsmieten schweizweit stagnieren oder sogar leicht abnehmen, steigen die Preise in den Städten auf den vorderen Plätzen des Rankings tendenziell. In Zug etwa ist die Nachfrage so hoch wie sonst fast nirgends. 

Dies ist ein BILANZ-Artikel

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Laut Immobilienexperte Schnorf kommen in Zug auf ein Inserat für eine Mietwohnung mehr als 6 Suchabos, in Zürich sind es 2,4. Wer in Zug wohnen will, muss teure Mietzinse verkraften. Stadtpräsident Karl Kobelt beteuert zwar, dass es auch preisgünstige Wohnungen gebe. Betrieben werden sie etwa von der Korporation Zug, einem Zusammenschluss der alten Geschlechter. Allerdings sind solche Wohnungen im Nu weg.

Im Stadtrat sei das Thema aber auf dem Radar. Mit Zonen für günstigen Wohnraum und Land im Baurecht für Wohnbaugenossenschaften will man die Durchmischung aufrechterhalten. Schliesslich soll künftig im Juni wieder durch die Altstadt gestürmt werden. Dass finanzkräftige Expats zu Leitern und Körben greifen und zum Chriesisturm blasen – wohl eher nicht.

 

Das Fotokonzept

Fotografen

FÜR BILANZ UNTERWEGS Alicia Dubuis und Céline Müller (obere Reihe von links), Dimitri Siegrist und Samir Benkhachan (untere Reihe von links) sowie Elias Bötticher.

Quelle: ZVG

Fünf aufstrebende Fotokünstler haben für das Städte-Ranking der BILANZ ihre Stadt aus ihrem Blickwinkel dokumentiert. Kunststudentin Céline Müller (22, Bern), der kunstbegeisterte Samir Benkhachan (20, Zug) und Dimitri Siegrist (20, Zürich), der sich mit waghalsigen Rooftop-Bildern einen Namen gemacht hat, sind aktuell mit Arbeiten an der diesjährigen Werkschau «PhotoSchweiz» in Zürich-Oerlikon ausgestellt. Alicia Dubuis (25, Genf) arbeitet etwa für Magazine als freie Fotografin in Genf und Paris, und Elias Bötticher (23, Basel), der 2019 den zweiten Preis von Vogue Photo gewonnen hat, ist selbstständiger Fotograf und Cinematograf in Basel, Zürich und Berlin.